Alles nur Schall & Rauch
Zum Völkermord in Rwanda (1994): Das Ende der Fahnenstange für den staatlichen Geschichtsrevisionismus in Frankreich


von Bernard Schmid

01/12

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Es war ein klägliches Ende für eine peinliche, doch jahrelang quasi zur Staatsdoktrin erhobene Geschichtstheorie. Zu Anfang der zweiten Januarwoche 2012 implodierte dieselbe vor aller Augen. Am Dienstag, den 10. Januar 12 wurde der Untersuchungsbericht von sieben technischen Experten für Ballistik und Akustik veröffentlicht, den die beiden französischen Untersuchungsrichter Marc Trévidic und Nathalie Poux in Auftrag gegeben hatten. Einige geschichtsrevisionistische Thesen über die Ursachen des bislang jüngsten Völkermords, des Genozids an den rwandischen Tutsi im Frühjahr und Frühsommer 1994, dürften künftig schwerer Gehör finden als noch vor kurzer Zeit. Auch es wenn sich selbstverständlich interessierte „Unbelehrbare“ auch jetzt wieder zu Wort melden; vgl. dazu einige Ausführungen am Ende dieses Artikels.

Abgestürzt

Gegenstand der flugbahn- und schalltechnischen Untersuchung war der Hergang des Attentats auf das Präsidentenflugzeug der ostafrikanischen Republik Rwanda, das am Abend des 06. April 1994 beim Landeanflug auf die Hauptstadt Kigali im Nachthimmel explodierte. Rwandas damaliger Präsident Juvénal Habyarimana starb beim Absturz in den Garten seines Palasts. Zusammen mit ihm starb ein Dutzend weitere Passagiere, unter ihnen auch sein Amtskollege aus dem Nachbarland Burundi, Cyprien Ntaryamira.

Kurz nach dem Attentat, das unzweifelhaft Habyarimana gegolten hatte und mittels zwei aus einem Raketenwerfer abgeschossenen Boden-Luft-Geschossen durchgeführt worden war, begann das Morden in Kigali. Der Aufprall des Flugzeugs erfolgte um 20.43 Uhr. Die ersten Strabensperren und Kontrollstellen in der rwandischen Hauptstadt, an denen die Opfer aufgrund der Angaben auf ihren Ausweisdokumenten - der Vermerk „Hutu“ oder „Tutsi“ stand dort seit einer Entscheidung der belgischen Kolonialmacht im Jahr 1931 - selektiert wurden, standen um 21.15 Uhr. Und noch in der Nacht gingen die Präsidentengarde und Milizen, die für eine „Reinigung“ der Nation von der Tutsi-Minderheit mobilisiert wurden, nach vorher angefertigten Todeslisten vor und begannen Wohnviertel von Kigali zu durchkämmen. Am 07. April 1994 fand zudem ein Putsch an der Spitze des rwandischen Staates statt. Denn das Land wies trotz des Todes seines Präsidenten kein Machtvakuum auf: Es hatte eine Premierministerin, Agathe Uwilingiyimana. Sie wurde an jenem 07. April durch die Präsidentengarde ermordet. Einige Stunden zuvor hatte der neue starke Mann, der nunmehr die Staatsspitze kontrolliert, der colonel (Oberst) Theoneste Bagosora, bei einer nächtlichen Krisensetzung geschrieen, Agahte Uwilingiyimane besitze „keinerlei Autorität“ und könne „sich nicht auf das Vertrauen des rwandischen Volkes berufen“. Es war also offenkundig ein Putsch im Gange, und angeführt wurde er durch die „Endlösungs“fraktion.

In den folgenden einhundert Tagen wurden zwischen 800.000 und eine Million Menschen ermordet: Tutsi, aber auch einige Angehörige der Hutu-Mehrheitsbevölkerung, die entweder politische Oppositionelle waren oder sich dem Morden widersetzten. Es war der am schnellsten durchgeführte Völkermord in der Geschichte. Die Opfer wurden entweder einzeln mit Macheten verstümmelt und getötet. Oder sie starben in Ansammlungen von Flüchtlingen, auf die Granaten geworfen und Schüsse aus Gewehren und Artilleriegeschützen abgegeben wurden.

Dass ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Ausbruch des Völkermords und dem Attentat auf den vormaligen Präsidenten besteht, war schon immer unstrittig. Alles andere aber war Gegenstand kontroverser politischer Thesen - je nachdem, wem unterschiedliche Akteure jeweils Hauptschuld am Völkermord zusprechen wollten. Dessen Täter waren Parteien und Milizen aus den Reihen der „Hutu Power“-Bewegung, die einen ethnischen Extremismus predigten und durch die Vernichtung der Tutsi-Minderheit in die Tat umsetzen wollten, nachdem seit Jahrzehnten soziale Hierarchien in Rwanda erfolgreich „rassifiziert“ worden waren. Europäische Ethnologen und „Rassenforscher“, unter anderem aus den vormaligen Kolonialmächten Rwandas, also zuerst Deutschland und später Belgien, hatten bei der Verfestigung dieser sozialen Rassenideologie historisch eine wichtige Rolle gespielt.

Viele internationale Beobachter, und die meisten Überlebenden des Völkermords, sahen also die Hutu-Extremisten als Urheber des Attentats auf den Präsidenten Habyarimana. Jener war selbst Hutu, und in seiner eigenen Familie hatten die Rassenideologen guten Rückhalt. Bspw. bei seiner Frau und späteren Witwe Agathe Kanziga, die derzeit in Frankreich lebt - über sie wird i.Ü. berichtet, sie sei beim Erhalt der Nachricht von seinem Tod nicht bestürzt gewesen, sondern damit beschäftigt, die Namenslisten von zu ermordenden Personen am Telefon durchzugeben; vgl. http://beynost.blogspot.com

Dennoch hatten die Extremisten wichtige Motive, den Präsidenten aus dem Weg zu räumen. Seit 1993 führte er nämlich im Nachbarland Tansania Verhandlungen mit einer von Tutsi geführten Guerillabewegung, der Rwandian Patriotic Front (RPF; bisweilen auch: Rwandese Patriotic Front), die vom Nachbarland Uganda aus operierte. Dort lebten seit den ersten bedeutenden Massakern an rwandischen Tutsi, die 1959 und 1963 stattgefunden hatten, Flüchtlingsbevölkerungen. Einige der jungen Männer aus dieser Gruppe hatten in der ugandischen Armee Karriere machen können.

Seit dem 01. Oktober 1990 griff die RPF über die Grenze hinweg das rwandische Regime an, um die Rückkehr der im Exil lebenden Tutsi zu erzwingen. Im tansanischen Arusha fanden später Verhandlungsrunden statt, bei denen der Präsident sich grundsätzlich auf eine Rückkehr vertriebener Tutsi sowie auf eine künftige Machtteilung eingelassen hatte. Just an dem Abend, an dem er ermordet wurde, kehrte er aus Tansanias Hauptstadt Daressalam (oder Dar es-Salam) zurück, um in Kigali eine Kabinettsliste für eine ethnisch „gemischte“ Übergangsregierung zu unterzeichnen. Deswegen war es aus Sicht der „Hutu Power“-Bewegung höchste Zeit, die Entwicklung radikal herumzuwerfen. Ferner lieferte die Ermordung des Staatsoberhaupts ihnen das erwartete Fanal, um loszuschlagen.

Vorbereitet hatten sie den Völkermord dagegen seit längerem, mindestens seit 1991/92. Eine Million Macheten dafür waren im Sommer 1993 in China bestellt und über eine französische Bank bezahlt worden. Und in einem der Medien, die den Völkermord von Anfang an am stärksten propagandistisch begleiteten, die die Milizionäre und sonstigen Mörder anfeuerten - also auf ,Radio Mille Collines’ - war kurz vor dem Osterwochenende 1994 in apokalyptischen Tönen ein bevorstehendes Ereignis angekündigt worden. (Das Osterwochenende jenes Jahres fiel auf den 02./03./04. April unter Einschluss des Ostermontags; und der Tag des Attentats - 06. April - fiel auf den darauffolgenden Mittwoch.) Dort hieb es vorab: „Am 03., 04. oder 05. April werden die Gemüter sich aufheizen. Am 06. April wird es eine Ruhepause geben, aber eine kleine Sache könnte passieren. Und dann, am 07. und 08. April und an den anderen Tagen im April, da werdet Ihr etwas zu sehen bekommen.“ Vgl. http://beynost.blogspot.com ; siehe auch u.a. das Buch ,Rwanda: Les médias du génocide’ von Jean-Pierre Chrétien, das ausführlich auf die Rolle dieses Radiosenders eingeht (-> http://books.google.fr/  )

Behauptungen der Geschichtsrevisionisten

Es gab jedoch eine zentrale Gegenthese, die vor allem unter Hutu und ganz besonders unter damaligen Rassisten und heutigen Geschichtsrevisionisten beliebt ist. Ihr zufolge ermordeten nicht die Extremisten den Präsidenten, was in ihren Augen gar keinen Sinn ergäbe, da ja Habyarimana das politische Oberhaupt der Hutu während eines Machtkampfs mit der RPF gewesen sei. Vielmehr sei es die RPF selbst, als überwiegend aus Tutsi bestehende Bewegung, die das Attentat verübt habe. „Um den rwandischen Staat zu enthaupten“, um ein Machtvakuum auszulösen und um mit Waffengewalt die Kontrolle über das Land zu übernehmen. So lautet ihre Argumentation.

Ihr schliebt sich in aller Regel eine zweite Argumentationskette nahtlos an: Weil aber die aus Tutsi bestehende RPF das Attentat geplant und durchgeführt habe, seien aber auch Tutsi selbst die Auslöser des Völkermords an den „eigenen Leuten“ gewesen. Dies, so erklären Verfechter dieser These regelmäbig, sei auch beabsichtigt gewesen. Alles sei Bestandteil eines groben zynischen Plans gewesen: Die RPF habe Hunderttausende von Leichen auf ihrem Weg an die Macht in Kigali einkalkuliert und den Völkermord an den „eigenen Leuten“ bewusst herbeigeführt, um moralische Erpressung mit einem solcherart geschaffenen Opferstatus betreiben zu können.

Von seiner Struktur her ähnelte dieses Argument (d.h. der, seit Jahren planmäßig vorbereitete, Völkermord lasse sich nur direkt aus dem Abschuss der Präsidentenmaschine erklären) ziemlich genau der Behauptung, die Pogrome der sogenannten Reichskristallnacht am 08. November 1938 im nationalsozialistischen Deutschland und später der Holocaust seien dadurch „ausgelöst“ worden, dass am 07. November desselben Jahres ein jüdischer Attentäter - Herschel Grynszpan - in Paris einen Sekretär der nazideutschen Botschafter mit Namen Ernst von Rath erschossen hatte. (Und manche Nazis fügten später auch noch hinzu, dies sei doch der Beweis für eine „jüdische Kriegserklärung an das Reich“ gewesen.)

In beiden Fällen handelte es sich bei dem, was kurz darauf folgte, nun wirklich um Alles andere als um spontane, ungeplante Reaktionen des „Volkszorns“.

Beide Argumentationsketten gehören nicht immer und überall notwendig zusammen: So äuberten einzelne Tutsi in Rwanda und in Burundi in der Vergangenheit gegenüber dem Verfasser dieser Zeilen, sie hielten die Führung der RPF - die seit Juli 1994 Rwanda regiert, denn das Völkermordregime brach nach drei Monaten in sich zusammen, weil es sich auf das Morden an Zivilisten konzentriert und darüber die militärischen Kämpfe vernachlässigt hatte - für fähig, das Präsidentenflugzeug 1994 abgeschossen zu haben. Aber nicht, so ihre Auffassung, um den Völkermord auszulösen; sondern vielmehr, weil die RPF-Führung nicht an das Risiko eines solches geglaubt oder es sträflich vernachlässigt habe. (Zwischen den Tutsi, die sich selbst während des Genozids 1994 in Rwanda aufhielten und dort bis zum Völkermord lebten, und den vom nahen Ausland - Uganda - kommenden und als Nachfahren von Flüchtlingen dort aufgewachsenen Tutsi herrscht seit längerem ein gewisses Misstrauen. Jedenfalls gegenüber der politischen Elite unter den Letztgenannten, welche seit 1994 die rwandische Staatsführung stellt. Das Gesetz aus dem Jahr 2008, das das Französische als Amtssprache - neben der einheimischen Landessprachen Kinyarwanda - abschafft und durch das Englische ersetzt, trug dazu noch erheblich bei. Denn es benachteiligt auf dem Arbeitsmarkt die in Rwanda aufgewachsenen Tutsi, die nun eine ihnen fremde Sprache benötigen, um an jegliche mehr oder minder „gehobene“ Stelle zu kommen. Und es bevorzugt ganz klar die RPF-Elite, welche zum Gutteil aus Flüchtlingskindern besteht, die im englischsprachigen Uganda sozialisiert worden waren. Vgl. dazu auch http://www.trend.infopartisan.net/trd0110/t150110.html )

Beide Argumentationsstränge können also auch im Prinzip getrennt voneinander vorkommen. In der Regel wurden sie jedoch zusammen benutzt, um den Tutsi kollektiv die Schuld am eigenen Tod in die Schuhe zu schieben, um Rassismus als Tatmotiv zu kaschieren und um den Hass weiter ausleben zu können.

Staatlicher Geschichtslügner: Jean-Louis Bruguière

Beide Argumentationsketten führte auch der französische „Anti-Terror-Untersuchungsrichter“ Jean-Louis Bruguière in seiner jahrelangen vorgeblichen „Ermittlungsarbeit“ zusammen. In Wirklichkeit ging es bei ihr allerdings vielmehr darum, eine historische und politische These zu propagieren.

Bruguière hatte seine Ermittlungen im März 1998 aufgenommen, rein zufällig natürlich drei Tage, nachdem eine parlamentarische Untersuchungskommission in Frankreich ihre Arbeit begonnen hatte. Letztere war durch eine Artikelserie des Journalisten Patrick de Saint-Exupéry - Augenzeuge des Völkermords - in der bürgerlichen Tageszeitung Le Figaro ausgelöst worden. Infolge seiner vierteiligen Artikelserie im Januar 1998 hatten viele Französinnen und Franzosen sich die Frage zu stellen begonnen, ob ihr Land nicht tiefer als von ihnen geahnt in die Völkermordereignisse verwickelt war. Tatsächlich hatten die politischen und militärischen Entscheidungsträger in Frankreich damals für die Völkermordregierung Partei ergriffen.

Als einziges „westliches“ Land erkannte Frankreich die „Übergangsregierung“ an, die nach dem Tod von Präsident Habyarimana - sowie der Ermordung seiner Premierministerin, die gegen den Völkermord war, durch extremistische Militärs am folgenden Tag - gebildet worden war, und zwar in den Räumen der französischen Botschaft in Kigali. Die Entscheidungsträger um Präsident François Mitterrand waren der Auffassung, in Rwanda werde ein Kampf zwischen der RPF und Uganda - also einem englischsprachigen Land - auf der einen Seite und einem pro-französischen Regime auf der anderen Seite ausgetragen. Dabei gehe es um ein Neuabstecken der postkolonialen Einflusszonen in Afrika. Um jeden Preis müsse Frankreich dabei seine Einflusszone, die von einer „angloamerikanischen Offensive“ nach dem Ende der Weltordnung des Kalten Krieges bedroht werde, schützen.

Jean-Louis Bruguière, der keinerlei Ermittlungen vor Ort in Rwanda durchsuchte, keine ballistischen Untersuchungen vornehmen lieb und sich auf viele vom Völkermordregime selbst präparierte Beweisstücke stützte, vertrat auf militante Weise eine These. Und diese lautete: Die RPF unter Paul Kagamé, dem damaligen Rebellenchef und jetzigen Staatspräsidenten Rwandas, schoss am 06. April 1994 das Präsidentenflugzeug ab. Dadurch löste sie auch unmittelbar den Völkermord aus, da die Hutu-Bevölkerung auf diese Tat von Tutsi spontan regierte. Wie immer, wenn man beide Elemente - die These vom Tathergang und jene von der Auslösung des Völkermords - auf vermeintlich zwingende Weise miteinander verknüpfte, verschwand dabei jegliches Verständnis der Logik des Genozids selbst. Dieser wurde allenfalls zur verständlichen, wenngleich in einzelnen Ausdrucksformen verurteilungswürdigen, aus Zorn entstandenen Überreaktion einer wütenden Hutu-Bevölkerung.


Jean-Louis Bruguière erlaubte sich den Luxus, das vermeintlich durch die RPF durchgeführte Attentat von 1994 als „Terrorismus“ einzustufen - und die aktuelle rwandische Staatsspitze zwölf Jahre später eines solchen Terrordelikts zu bezichtigen. Zwar wurde der Präsident und frühere RPF-Chef Paul Kagamé selbst durch seine Immunität als Staatsoberhaupt geschützt. Doch gegen neun seiner engsten Mitarbeiter leitete Bruguière am 17. November 2006 ein Strafverfahren ein, und stufte sie als „Terrorverdächtige“ an. Rwanda brach daraufhin jegliche diplomatische Beziehungen zu Frankreich ab. (Vgl.
http://www.trend.infopartisan.net/trd1206/t241206.html und http://www.trend.infopartisan.net/trd0907/t260907.html sowie http://www.trend.infopartisan.net/trd0907/t260907.html ) Damals schossen Formen des staatlichen Geschichtsrevisionismus, bei denen nicht nur jegliche Mitverantwortung Frankreichs an einem Völkermord geleugnet wurde, sondern auch dessen planmäbiger, vorbereiteter und auf Ideologie gründender Charakter selbst, in der französischen Elite ins Kraut. Natürlich gab es ein politisches Interesse daran: Der damalige Innenminister und spätere Präsident Frankreichs, Nicolas Sarkozy, etwa war während des rwandischen Völkermords 1994 in Paris Regierungssprecher gewesen.

Bruguière war Sarkozy politisch verpflichtet. Doch dass er zu unmittelbar in die politische Arena steigen wollte, wurde ihm zum Verhängnis: Als er 2007 für die konservativ-wirtschaftsliberale Regierungspartei UMP um einen Parlamentssitz kandidierte - und ihn verfehlte -, musste er sein Richteramt kurz danach aufgeben. Er hatte das Gebot parteipolitischer Neutralität zu offen verletzt. In den darauffolgenden Jahren zerfiel seine sorgsam aufgeschichtete ideologische Propagandamaschine Stück um Stück. Ausgerechnet Sarkozy, einmal Präsident, leitete nun nämlich eine Wende in den Beziehungen zu Rwanda ein. Der rechte Staatschef hatte erkannt, dass es auf Dauer unhaltbar wäre, den Eindruck zu erwecken, in Paris kehre man systematisch die Wahrheit über einen Völkermord, der noch nicht einmal zwanzig Jahre zurückliegt, unter den Teppich. Sarkozy vollzog eine schrittweise Wiederannäherung an Rwanda, im Winter 2009/10 wurden wieder diplomatische Beziehungen geknüpft. (Vgl. dazu auch http://www.trend.infopartisan.net/trd7808/t397808.html und http://www.trend.infopartisan.net/trd1011/t251011.html ) Sarkozy reiste selbst im Februar 2010 nach Kigali, und hielt sich, nun ja immerhin, volle drei Stunden dort auf. In seiner Ansprache weigerte er sich zwar, um Entschuldigung zu bitten, sprach aber von „schweren Verfehlungen“ der französischen Entscheidungsträger während des Völkermords. Zwar wollte er keine Verbrechen, wohl aber gravierende Irrtümer und eine „Verblendung“ (wörtlich: aveuglement) erkennen.

Als Nachfolger von Untersuchungsrichter Bruguière hatte unterdessen Marc Trévidic die Ermittlungen übernommen. Manche Beobachter erwarteten, er werde die Akte einfach klamm und heimlich schlieben. Doch nichts dergleichen tat der Richter. Vielmehr reiste er im September 2010 selbst nach Rwanda, zusammen mit einem Expertenteam, und wollte dort nun - anders als sein Vorgänger Bruguière - echte und dieses Namens würdige Ermittlungen durchführen. Vgl. dazu auch http://www.lanuitrwandaise.net und http://www.jeuneafrique.com

Deren Ergebnisse, was die Untersuchungen bezüglich der Flugbahn und der Schallentwicklung der Luft-Boden-Raketen beim Attentat von 1994 betrifft, liegen nun auf dem Tisch. Und sie lauten: Anders als Bruguière behauptet hatte, ohne über die leiseste technische Expertise zu verfügen, können die Geschosse nicht vom Massaka-Hügel in rund drei Kilometern Entfernung südöstlich vom Flughafen von Kigali aus abgeschossen worden sein. Jean-Louis Bruguière behauptete, dort hätten sich vor dem Attentat Kämpfer der RPF „infiltriert“ könne; die RPF hatte damals, auf der Grundlage der Waffenstillstandsvereinbarungen von Arusha vom Vorjahr, eine Abordnung in der Hauptstadt Kigali stehen. Diese war im rwandischen Parlamentsgebäude niedergelassen. Von dort aus hätten sich RPF-Kämpfer auf den Massaka-Hügel und die dort liegenden Farmen einschleichen können, behauptete Bruguière - und vor ihm, seit Ende April 1994, das rwandische Völkermordregime -, um das Attentat zu begehen.

Unmöglich, antwortet nun der Untersuchungsbericht der technischen Experten: Die Luft-Boden-Raketen hätten nicht von dort aus abgefeuert worden sein können. Vielmehr seien sie vom Camp Kanombé aus abgeschossen worden. Dieses lag wesentlich näher am Flughafen, (nord)östlich unmittelbar an diesen angrenzend. Es war der Sitz der Elitestreitkräfte der rwandischen Armee, nämlich ihrer Präsidentengarde, die zu Beginn des Völkermords eine Schlüsselrolle spielte.

Auch französische Soldaten befanden sich dort. Die belgische Journalistin Colette Braeckman berichtete bereits im April 1994 darüber und fügte hinzu, französische Soldaten seien es gewesen, die gegenüber ihren rwandischen Partnern eine mögliche Urheberschaft von Belgiern bei dem Attentat behauptet hätten - Auslassungen, die ursächlich wurden für den Mord an zehn belgischen UN-Blauhelmsoldaten am 07. April 1994 in Kigali.

Die jetzigen Erkenntnisse für die Untersuchungsrichter-in Marc Trévidic und Nathalie Poux angefertigten Gutachtens bestätigen laut Informationen der französischen progressiven Onlinezeitung Médiapart.fr im Übrigen auch nur, was Geheimdienstberichte unterschiedlicher Länder seit längerem enthalten. Vgl. dazu http://www.da-esterel.fr/

Fazit

Nicht nur die zweite Hälfte der Argumentation des Richters Bruguière - die ideologische Bewertung der Ursachen des Völkermords, sein vermeintlicher Charakter als spontaner Ausbruch eines im Kern berechtigten Volkszorns - ist absurd. Nun ist auch ihre erste Hälfte, durch das Vorbringen technischer Argumente und konkreter Ermittlungsergebnisse, zerstört.

Natürlich möchten sich nicht alle Zeitgenossen mit dieser Feststellung abfinden. Auch wenn die französische Presse - und zwar ebenso die linksliberalen Tageszeitungen Libération und Le Monde ebenso wie der konservative Figaro (vgl. etwa http://www.lefigaro.fr/ ) - in dieser Hinsicht sehr klar ist und die Diskussion nunmehr für abgeschlossen, die historische Wahrheit für aufgeklärt hält.

Hinhaltende Widerstände

Dagegen möchte der nationalistische und populistische Journalist Pierre Péan, der ebenfalls seit Jahren die Thesen Bruguières verbreitete und seine Bücher seit 2000 mit theoretisch der Öffentlichkeit unzugänglichen Akten aus dessen Verfahren gefüllt hatte, bislang nicht klein beigeben. In der Gratistageszeitung Métro, die ihm noch ein Forum abgibt, sprach er von einem lediglich provisorischen Stand des Untersuchungsverfahrens. „Kommende Gegenexpertisen“ würden, so verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, „es erlauben, klarer zu sehen“. Doch es klingt inzwischen ein bisschen wie das Pfeifen im dunklen Keller… Auch die (,links’)nationalistische Wochenzeitschrift Marianne, bislang eines der wesentlichen publizistischen Begleitorgane des staatlichen französischen Geschichtsrevisionismus, bleibt dabei: Alles sei noch offen. Vgl. http://www.marianne2.fr/

Auf Netzseiten und in Publikationen, die den Hutu-Extremisten nahe stehen, wie den in Lille ansässigen Editions des Sources du Nil verweist man gleich auf noch übler riechende Quellen. Am Wochenende des 14./15. Januar 12 publizierte dieses Verlagshaus in seiner Newsletter etwa einen Text von Bernard Lugan, dem „Afrikaexperten“ der extremen Rechten, von welch Letzterer er „fraktionsübergreifend“ geschätzt und herumgereicht wird. Der Artikel war zuerst auf der Webseite der Gruppe Egalité & Réconciliation des extremen Antisemiten und Nationalrevolutionärs Alain Soral publiziert worden. Das aktuell vorliegende Untersuchungsergebnis wird dabei als unbedeutender Zwischenbericht, und als Teil einer Propagandaschlacht gegen Frankreich präsentiert.

Jene, die sich nicht damit abfinden möchten, dass die Debatte so enden könnte, verweisen auf eine politisch zurecht manipulierte „justizielle Wahrheit“ - wie jene des Richters Bruguière zuvor unzweifelhaft eine war -, da die jüngere Linie der Regierung in Paris auf eine Aussöhnung mit dem rwandischen Regime abziele. Trévidics Untersuchung erfülle also nur diese neue Zielsetzung der Regierenden in Frankreich. Dem steht aber entgegen, was ausgerechnet das „links“nationalistische Wochenmagazin Marianne, ansonsten einer der fanatischsten Vertreter der These von der Urheberschaft der RPF am Genozid und der Unschuld Frankreichs im Jahr 1994 (vgl. oben), am vergangenen Samstag, den 14. Januar 12 schrieb. Vgl. dazu auch http://www.lemonde.fr oder http://www.liberation.fr

Das Wochenmagazin berichtete über ein regelrechtes Mobbing gegen den Richter Marc Trévidic seitens seiner Vorgesetzten im Justizapparat und -ministerium. Dieses hängt sicherlich nicht nur mit Rwanda zusammen, denn Trévidic ist ansonsten auch mit anderen „sensiblen“ Dossiers betraut, besonders mit der so genannten „Karatschi-Affäre“ - es geht dabei um Rüstungsexporte und illegale Parteienfinanzierung, wobei Rivalitäten hinter den Kulissen ein Attentat gegen französische Ingenieure in Pakistan mit zwölf Toten auslösten. Nicolas Sarkozy ist tief in die letztgenannte Affäre verstrickt. Alles in allem hat Trévidic aber offenbar einen so schlechten Stand in der Justizhierarchie, dass die als „moderat“ geltende Richtergewerkschaft USM sich einschaltete und einen warnenden Brief an das Justizministerium richtete.

Als Träger einer neuen „offiziellen Wahrheit“ der Sarkozy-Regierung dürfte Trévidic wohl kaum in Frage kommen. Aber als Totengräber der alten, geschichtsrevisionistischen „Wahrheit von Staats wegen“ tritt er zweifellos erfolgreich in Erscheinung.

Die beiden belgischen Anwälte der durch Ex-Richter Bruguière angeklagten hohen rwandischen Funktionäre, David Maingain und Léon-Lev Forster, kündigten unterdessen ihrerseits eine Klage an. Als Retourkutsche werden sie nun bei der französischen Justiz Anzeige gegen Jean-Louis Bruguière und sein Team wegen „bandenmäbig begangenen Betrugsversuchs in der Absicht, ein Urteil zu erwirken“, erstatten; vgl. http://www.lefigaro.fr Es könnte also im Hinblick darauf durchaus noch lustig werden…

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Text vom Autor zur Veröffentlichung in dieser TREND-Ausgabe.