Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich bereitet sich auf die Wahlen vor (II):

Kandidaten-Geschwurbel

Die Vorschläge der (quantitativ) bedeutendsten KandidatInnen, unter den Gesichtspunkten der Sozial- & Wirtschaftspolitik und gewerkschaftlicher Interessen
 

02/12

trend
onlinezeitung

Hinweis: Artikel I zu den Linksparteien vor der Wahl erschien in TREND 11/2011 unter dem Titel: („Links“-)Nationalist Jean-Pierre Chevènement, Linksparteikandidat Jean-Luc Mélenchon, die radikale Linke - und Sozialdemokrat François Hollande

Der Präsident der Reichen“: So lautet der Titel eines vielverkauften Buches des Soziologenpaars Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot, das vor anderthalb Jahren in erster und im Herbst 2011 in zweiter Auflage erschien. Es geht um Nicolas Sarkozy. Die Wiederwahl des konservativ-wirtschaftsliberalen Staatsoberhaupts bei der französischen Präsidentschaftswahl am 22. April und 6. Mai dieses Jahres gilt zwar derzeit als unwahrscheinlich, liegt der Amtsinhaber in Umfragen doch deutlich hinter dem sozialdemokratischen Herausforderer François Hollande zurück. Ausgeschlossen ist sie dennoch noch nicht.

Sein Profil als wirtschaftsliberaler Interessenpolitik versuchen Sarkozys Berater derzeit durch intensive ideologische Polarisierungsbemühungen zu überdecken. Dazu zählen die neuen Vorstöe seines Innenministers Claude Guéant, der unter anderem den Rechtsauenflügel abdecken soll. Am 04. Februar 12 sprach Guéant etwa von einer „Ungleichwertigkeit der Kulturen“, und als erste empörte Reaktionen eintrafen, zitierte er Beispiele für die angebliche Unterlegenheit der „muslimischen Kultur“ - von Ungleichheit zwischen Mann und Frau bis Taliban -, während Teile der extremen Rechten offen Beifall klatschten. Zuvor hatte Guéant im Dezember 11 und Januar 12 betont, dass ihm zufolge auch die Zahl „legal in Frankreich lebender Ausländer“ sinken solle. Ob das ideologische Getöse die Auseinandersetzung um wirtschaftspolitische Orientierung und soziale Interesse überdecken wird können, bleibt vorläufig dahingestellt.

Nicolas Sarkozy

Von der ursprünglichen Wirtschaftspolitik Nicolas Sarkozys ist zwar, vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten drei Jahre, wenig übriggeblieben. Selbst die anfänglich proklamierte, dogmatische Steuersenkungsrhetorik hat einer Politik selektiver Steuererhöhungen - die dazu dient, aufgrund der Krise steigende Staatsausgaben (etwa für Kurzarbeit und „Bankenrettung“) zu finanzieren - Platz gemacht. Von den Manahmen aus den ersten Monaten der Amtszeit Nicolas Sarkozys sind jedoch zwei symbolträchtige übriggeblieben: die Deckelung des Spitzensteuersatzes, und die Steuer- sowie Sozialabgaben-Befreiung von Überstunden. Letztere wurden im Sommer 2007 sowohl für „Arbeitgeber“ als auch für abhängig Beschäftigte finanziell günstiger gestaltet.

Dies stand damals unter dem offiziell verkündeten Motto Travailler plus pour gagner plus: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen.“ Die vormalige historische Tendenz zu Arbeitszeitbegrenzung und Lohnerhöhung sollte dadurch umgekehrt werden - Steigerungen ihrer Löhne sollten die abhängig Beschäftigten sich durch eine Ausweitung ihrer Arbeitszeiten „verdienen“. Unter den Bedingungen der Krise werden allerdings in den letzten Jahren insgesamt relativ wenige Überstunden durch die Unternehmen angeordnet. Aus dem „…mehr verdienen“ wurde also nichts. Und die Enttäuschung unter den Lohnabhängigen war entsprechend schnell zu spüren. Hatten 2007 noch 50 Prozent der Arbeiterschaft in der Stichwahl um die Präsidentschaft Sarkozy gestimmt, war die Zustimmung für seine Amtsführung in dieser sozialen Gruppe ein Jahr später nicht einmal halb so hoch. Heute würden nur 12 Prozent von ihr für Sarkozy stimmen, je 33 Prozent für den Sozialdemokraten François Hollande und für die Rechtsextreme Marine Le Pen. (Vgl. dazu http://sondages.blog.lemonde.fr/2012/02/07/pour-qui-votent-les-ouvriers/ )

Um am Ende nicht weitgehend ohne „Bilanz“ dazustehen, ging Sarkozy auf den letzten Drücker in die Offensive. Am 29. Januar 12 kündigte er neue Weichenstellungen noch in den letzten beiden Monaten seiner Amtszeit an. Die „soziale Mehrwertsteuer“ (TVA sociale) soll darauf hinauslaufen, Teile der Sozialabgaben der Unternehmen auf die Konsumsteuerung - und dadurch auf die sozial ungerechteste, da nicht zum Einkommen proportionale und nicht progressive Steuer - abzuwälzen. Dies soll dazu dienen, den „nationalen“ Unternehmen Wettbewerbsvorteile gegenüber ausländischen zu verschaffen: Französische Firmen, so jedenfalls die Idee, würden durch die Senkung der „Lohnnebenkosten“ ihre Preise reduzieren können, während Importprodukte durch die neue Mehrwertsteuer verteuert würden. So weit jedenfalls die Theorie, da die Preisbildung in Wirklichkeit natürlich von vielen anderen Faktoren abhängt. Daneben möchte Sarkozy „Abkommen für die Wettbewerbsfähigkeit“ rechtlich ermöglichen. Solche Produktivitätspakte, in Gestalt von mit den Gewerkschaften ausgehandelter Betriebsvereinbarungen, sollen in Krisenzeitungen entweder Lohnsenkungen oder aber eine Ausweitung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich erlauben, „um bedrohte Arbeitsplätze zu retten“. Beide Ideen sind natürlich heftig umstritten. Dass sie wirklich noch in der jetzigen Amtszeit Sarkozys umgesetzt werden, wie sein Premierminister François Fillon ankündigte - er gab Gewerkschaften und Unternehmen „zwei Monate“ Zeit, um sich auf die Spielregeln dazu einigen, ansonsten werde der Gesetzgeber eingreifen - ist ausgesprochen unwahrscheinlich. Auch das Parlament wird im Juni neu gewählt, und ab März aufgelöst. Die Vorhaben bilden aber, je nach Standpunkt, die Drohkulisse oder das Versprechen für den Fall einer neuen Amtszeit Sarkozys.

François Hollande

Sein gewichtigster Herausforderer Hollande versucht demgegenüber, vor allem finanzielle „Solidität“ ohne die mit der Person Sarkozy assoziierten „Exzesse“ auszustrahlen. Staatsausgaben und soziale Kosten möchte auch er senken. Daneben macht er gezwungenermaßen einige soziale Versprechungen, die jedoch alle aus finanziellen Gründen im Laufe der Woche relativiert oder wieder in Frage gestellt wurden.

Im September 11 hatte er etwa versprochen, 60.000 LehrerInnen zusätzlich einzustellen, nachdem zuvor 85.000 Stellen für Lehrkräfte unter Präsident Sarkozy (und 150.000 unter den Rechtsregierungen seit 2002) verschwunden waren. Doch inzwischen wird verkündet, dass es nur Umbesetzungen im öffentlichen Dienst, aber keinesfalls eine wachsende Zahl von Staatsbediensteten geben dürfe. Auch wurden Ankündigungen für Steuerreformen, die das Besteuerungswesen stärker progressiv und einkommensproportional gestalten sollen, stark relativiert. Hinzu kommt das Projekt eines „Generationenvertrags“: Unternehmen sollen dafür vom Staat finanziell unterstützt werden (durch wegfallen Sozialabgaben), dass sie jüngere Arbeitskräfte einstellen und ältere behalten - Letztere sollen Erstere ausbilden. Diese Idee, Unternehmen dafür zu finanzieren, dass sie die Vorzüge ihres Humankapitals erkennen und nutzen, mag in der Sache ohnehin fragwürdig sein. Aus schlechten Gründen - „zu teuer“ - wurde sie inzwischen wieder in Frage gestellt. Nun soll das Projekt in größeren Unternehmen gar nicht mehr, und in kleineren in einem Drittel des ursprünglich angekündigten Umfangs finanziert werden.

Nach seinem ersten großen Wahlkampfauftritt im Pariser Vorort Le Bourget vom 22. Januar 12, bei dem François Holland verbal relativ scharf auf der „Allmacht der Finanzhaie“ herumgehackt hatte, wurde das Profil des Kandidaten vielerorts als „nunmehr mit einem Linksruck ausgestattet“ verkauft. Tatsächlich hatte Hollande sich für seine erste offizielle Kandidatenrede auf einer Großveranstaltung relativ offensiv im Diskurs gezeigt. Das gleichzeitig verkündete Sechzig-Punkte-Programm bestätigt dennoch weitgehend die bislang eingeschlagenen Orientierungen.

Neu gegenüber dem in den vorausgegangenen Wochen vertretenen Diskurs war jedoch in dem Programmkatalog, dass er die Forderung nach Einrichtung von jährlich 150.000, durch die öffentliche Hand subventionierten ,emplois-avenir’ („Zukunft-Arbeitsplätzen“) enthält. Unter der letzten sozialdemokratischen Regierung Frankreichs, jener von Premierminister Lionel Jospin in den Jahren 1997 bis 2002, hatte es jährlich 350.000 solcher durch die öffentliche Hand co-finanzierter Arbeitsplätze gegeben, unter dem damaligen Namen ‚emplois-jeunes’ („Arbeitsplätze für junge Leute’). Damals ging es u.a. darum, Jugendlichen und jungen Erwachsenen - bis zu einem Eintrittsalter von 26, bzw. bei noch nie erwerbstätig gewesenen Personen sogar bis 30 - Arbeitsplätze mit einer Laufdauer bis zu fünf Jahren, auf der Grundlage spezifischer befristeter Verträge, anzubieten. Eine weitere Dimension bestand darin, dass solche Stellen nicht nur bei privaten Arbeitgebern im „rentablen“ Wirtschaftssektor, sondern u.a. bei NGOs, im Non-Profit-Sektor, bei Kommunen angeboten werden konnten. Es ging darum, solche Stellen zu fördern, die im so genannten „normalen Wirtschaftsleben“ nicht hätten geschaffen werden könnten, weil kein „finanzkräftiges/zahlungsfähiges Bedürfnis“ (aucune demande solvable) dahinter stand - die aber sehr wohl einen gesellschaftlichen Nutzen darstellten, auch ohne finanziell „rentabel“ zu sein. Unter anderem im Umweltbereich, in der AIDS-Hilfe, in der Rechtsberatung… Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass das stärkste Einzelkontingent an ,emplois-jeunes’ unter der Regierung Jospin aus prekär angestellten Hilfskräften - bei der Polizei bestand, den so genannten ,adjoints de sécurité’, die den uniformierten Polizisten Zuarbeit in Sachen „Vor-Ort-Aufklärung“ und „Bürgernähe“ vor allem in den Sozialghettos, „Brennpunkten“ und Trabantenstädten leisten sollten. Ein weiterer Kritikpunkt an der konkreten Ausführung des Projekts war, dass die Stellen oft eher schlecht bezahlt waren, und es keinerlei Sicherung über die Laufzeit von maximal fünf Jahren hinaus gab. (Gut, OK, ja: Aber wo gibt es das heutzutage schon noch… ?)

Dass Auftauchen dieser 150.000 Arbeitsplätze mit Unterstützung durch die öffentliche Hand (allerdings nur rund ein gutes Drittel ihrer Anzahl unter der Jospin-Regierung) wurde als Anzeichen für einen programmatischen „Linksruck“ der Kandidatur Hollande gewertet. So jedenfalls durch den linken Parteiflügel der französischen Sozialdemokratie. Ihr Vertreter, Parteisprecher Benoît Hamon, erklärte am Tag nach dem Auftritt in Le Bourget dazu in der (PS-nahen) Pariser Tageszeitung ,Libération’: „Wir hatten schon befürchtet, dass es gar keine solchen (öffentlich subventionierten) Arbeitsplätze im Programm geben würde…“

François Bayrou

Starke progressive Veränderungen sind vom Kandidaten Hollande nicht zu erwarten. Ebenso wenig vom christdemokratisch-liberalen Kandidaten François Bayrou, der zwar gegen die „Parteienherrschaft“ der großen politischen Kräfte wettert - aber nur, um in der Sache einen Mix aus den Vorschlägen der Regierungspartei UMP und der oppositionellen Sozialdemokratie anzubieten. „Vernünftige Lösungen“ sollten „jenseits von Parteipräferenzen“ umgesetzt werden, lautet seine Leerformel dafür. Ansonsten griff Bayrou in den letzten Wochen vor allem Hollande als angeblich zu ausgabenfreudig an, stattdessen müsse noch viel mehr eingespart werden.

Populär zu werden versuchte er durch seine Ankündigung, er wolle „französische Produkte“ fördern und gegen Importwaren stärken - die genauen Rezepte dafür blieb er, jenseits der ideologischen Begleitmusik, allerdings schuldig. Die satirische TV-Sendung ,Les Guignols de l’info’ im Privatfernsehsender kritisiert Bayrou dafür in fast jeder Ausgabe: Er wird dort regelmäig in die Pfanne gehauen, indem er ein „französisches Produkt“ anbietet, das sich dann entweder als qualitativ schlecht erweist oder (wie fast jedes Mal) nicht funktioniert - mangels ausländischer Komponenten oder Bestandteile. Allerdings bleibt diese (Pseudo-)Kritik auf einer konsumeristischen Ebene, auf dem Niveau des „Ansprüche stellenden Verbrauchers“ stehen, anstatt die Absurdität einer nationalistischen Vorstellung innerhalb einer globalisierten kapitalistischen Ökonomie mit rationalen Argumenten aufzuzeigen.

Marine Le Pen

Protektionismus propagiert aber auch die extreme Rechte, die vorgibt zu wissen, wie es funktionieren soll: Strafzölle und Importbarrieren, Ausstieg aus dem Euro und Rückkehr zu den Nationalwährungen, sowie (natürlich) einen Stopp von Einwanderung sowie „eine Umkehrung der Migrationsströme“. Ohne bis hin zur Idee einer „Autarkie“ zu gehen, herrscht bei ihr doch eine starke Vorstellung von „Schutz durch Abschottung“, welche auf die internationalen Wirtschaftsbeziehungen genauso wie auf die Anwesenheit von eingewanderten Menschen sowie auf Zuwanderung generell übertragen wird.

Aufgrund des verbreiteten Misstrauens gegenüber den etablierten Parteien, die sich in den letzten 30 Jahren alle an der Regierung abwechselten - die Sozialdemokratie regierte zuletzt 2002, die UMP seitdem, und Bayrou war in den neunziger Jahren Minister - erhält sie damit Anklang auch in der Arbeiterschaft, der Angst vor der internationalen Konferenz eingeflößt wird. In ihrer konkreten Wahlkampfagitation setzt sie derzeit vor allem auf wirtschafts- und sozialpolitische Themen und überlässt die ideologischen Duftmarken zu „Ausländern“ und „fremden Kulturen“ im Augenblick sogar eher den Konservativen.

Aufgrund des starken Setzens auf ein „Protest“profil, um gerade die soziale Unzufriedenheit aufzugreifen, ist eine Annäherung des Front National unter Marine Le Pen an die UMP derzeit allerdings - trotz ideologischer Gemeinsamkeiten - nur schwer vorzustellen. Der Stimmenanteil der extremen Rechten wird jedoch entscheidend darüber mitbestimmen, ob Sarkozy überhaupt als einer der beiden bestplatzierten Kandidaten in die Stichwahl einziehen kann. Oder ob doch eine andere Person, Le Pen oder Bayrou, an seiner statt dort präsent sein wird. Momentan sieht es noch eher nach einem „Duell“ Sarkozy - Hollande aus, wobei das Regierungslager durch seine ideologischen Töne auch für rechtsextreme Wähler attraktiv werden möchte. Dieses Kalkül ist aber höchst riskant, da es die Kandidatur Le Pens gleichzeitig aufwertet, indem ihren Thesen „Glaubwürdigkeit“ verliehen wird.

Aber was, falls Madame Le Pen am Schluss gar nicht antreten kann, weil sie im Endeffekt die erforderlichen Voraussetzungen - 500 Unterschriften von Bürgermeistern und Abgeordneten, über die ihre Partei aus eigener Kraft nicht verfügt - nicht erfüllt? Diese Frage stellt sich das Regierungslager immer lautstärker. Der FN droht bereits mit „Sanktionen“, etwa bei der darauffolgenden Parlamentswahl. Es dürfte also noch spannend werden, erst bis zum 16. März 12, an dem die Unterschriftsformulare ausgegeben werden, und danach bis zum Wahltag. Mindestens.

 

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.