Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Die Stunde der Profiteure
Zählt der Front National zu den politischen Nutznießern des Attentats auf ,Charlie Hebdo’?

02-2015

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Wird der Front National mittelfristig zu den politischen Haupt- oder Nebenprofiteuren der Anschläge auf Charlie Hebdo sowie eine Polizistin und einen koscheren Supermarkt gehören? Diese Frage stellt sich seit den Attentaten von Anfang Januar 15 für viele Beobachter/innen in Frankreich.
 

Im Augenblick ist noch keine spürbare Verschiebung zwischen den politischen Lagern eingetreten, glaubt man den Meinungsforschern – sieht man davon ab, dass die amtierende Regierung in der Gunst der öffentlichen Meinung stark gestiegen ist. Letztere profitiert dabei von einem gesellschaftlichen Reflex, den man im Französischen als „legitimistisch“ bezeichnet. Also einer Reaktion, die im Angesicht einer Bedrohung zugunsten der jeweils gerade amtierenden Regierung ausfällt, jedenfalls solange diese sich nicht allzu ungeschickt anstellt. François Hollande konnte seine Beliebtheitswerte laut einer Umfrage des Instituts BVA, die am 17. Januar d.H. publiziert wurde, auf 34 Prozent steigern und dadurch nahezu verdoppeln.

Am 19. Januar 15 widmete die Tageszeitung Libération der Situation des FN nach den Anschlägen ein Tagesthema mit satten sieben Seiten. Der prominente Meinungsforscher Jérôme Fourquet erklärt darin, bis dato sei es nicht zu stärkeren Verschiebungen „zwischen den politischen Blöcken“ gekommen, vielmehr fühle jede größere Wählergruppe sich in ihren bisherigen jeweiligen Grundüberzeugungen bestätigt. Fourquet schließt jedoch für die nähere Zukunft Verschiebungen zugunsten der extremen Rechten nicht aus.

Vor den Anschlägen waren ihr, Mitte Dezember 2014, für die in knapp zwei Monaten anstehenden Bezirksparlamentswahlen in den französischen Départements durchschnittlich 28 Prozent prognostiziert worden. Auf diesem Niveau kann sich der FN derzeit, mindestens, halten. Als Präsidentschaftskandidatin für 2017 werden Marine Le Pen im Augenblick (29. Januar 15) zwischen 29 und 31 Prozent an Stimmabsichten prognostiziert; vgl. http://www.lefigaro.fr/ - Gegenüber der vorausgehend zitierten Umfrage bedeutet dies nicht unbedingt einen Zuwachs, denn Präsidentschaftswahlen sind für den Front National stets leichter und günstiger zu bestreiten als Wahlen mit lokalem Schwerpunkt: Nationale Wahlgänge sind weitaus stärker auf prominenten „Führer(innen)persönlichkeiten“ zugeschnitten, während es bei Bezirksparlamentswahlen für ihn zum Problem werden kann, dass viele seiner Kandidat/inn/en schlicht unbekannt sind.

Dabei will es der Front National jedoch nicht belassen. Am vorvergangenen Freitag, den 16. Januar 15 ging er in die Offensive und präsentierte eigene innenpolitische Vorschläge, die er als vorgebliche Antwort auf die Attentate präsentierte. Zuvor hatte er noch eine gewisse Schamfrist respektiert, da es in der Öffentlichkeit wohl schlecht angekommen wäre, hätte der FN gleich in den Tagen nach den Anschlägen zu polarisieren versucht.

Rückblick auf das Klima in der Wochen nach den Attentaten

In den ersten zehn Tagen überwog ein doppeltes Klima. Einerseits waren die ersten spontanen Proteste eher durch die Linke sowie die linksliberale Öffentlichkeit, die sich Charlie Hebdo stärker als die Rechte verbunden fühlten, geprägt. Andererseits rief die Regierung zu einer „nationalen Einheit“ (unité nationale) oder auch Union sacrée – so nennt man die „Burgfriedens“politik im Ersten Weltkrieg – auf. Diese prägte nach dem Ablauf der ersten Tage der Atmosphäre. Die Regierung übernahm es, die zweite Welle von Demonstrationen ab dem zweiten Januarwochenende (10./11. Januar 15) zu organisieren oder zumindest zu kanalisieren. Explizit appellierte Premierminister Manuel Valls dabei an die konservative Rechte unter Sarkozy, als Co-Organisator aufzutreten. Die UMP antwortete darauf jedoch ihrerseits, indem sie bereits am Abend des 08. Januar 15 lautstark forderte, auch der Front National müsse an dem „Republikanischen Marsch“ drei Tage später in Paris teilnehmen dürfen.

Einige Prominente des sozialdemokratisch-grünen Regierungslagers fanden diese Idee nicht so gut. Diese blieb umstritten, da auch nicht alle Teile der „Zivilgesellschaft“ und der Freunde von Charlie Hebdo davon begeistert waren. Marine Le Pen nutzte ihrerseits die Gelegenheit, um gegen die „Ausgrenzung“ ihrer Partei durch die von ihr so genannten Alt- oder Systemparteien Gift und Galle zu spucken. Und sie behauptete, die Demonstration sei nun keine der „nationalen Einheit“ mehr, sondern eine „sektiererische“ Veranstaltung.

Nachdem sie anderthalb Tage lang Ungewissheit über ihre Beteiligung hatte walten lassen, erklärte die FN-Chef schließlich am Samstag, den 10. Januar 15, sie rufe ihre Anhänger zur Beteiligung an den Demonstrationen in ganz Frankreich auf – „überall außer in Paris“. In der Hauptstadt wäre ihre Partei auch, aufgrund der Masse an Teilnehmern, wohl untergegangen. In Paris war deshalb die extreme Rechte nicht an der Demonstration beteiligt. Jedenfalls nicht die französische, wohl aber kamen rechtsextreme Minister aus Israel wie Naftali Bennett – der Mann mit dem Ausspruch „I killed a lot of Arabs in my life and there’s no problem with that“ - oder der völkische Konservative Viktor Orban aus Ungarn, dessen Verhältnis zur Pressefreiheit bis dahin eher nicht auf den Nenner „Ich bin Charlie“ zu bringen war.

Marine Le Pen ihrerseits zog es vor, in der FN-regierten Kleinstadt Beaucaire zu demonstrieren. Dort nahmen rund 1.000 Leute an der Kundgebung gegen die Anschläge teil, das war eine eher unterdurchschnittliche Zahl gegenüber vergleichbaren Provinzstädten, obwohl Kommunalparlamentarier des FN dazu eigens aus bis zu 170 Kilometer Entfernung angereist waren. In einigen anderen Städten, in denen der FN Rathäuser regiert wie in Marseille – dort weisen die Nordbezirke seit einem knappen Jahr einen rechtsextremen Bürgermeister auf, Stéphane Ravier – oder Hénin-Beaumont, war die Partei schon zuvor bei Demonstrationen präsent gewesen.

Aber auf Landesebene erschien es in vielen Augen so und wurde es in vielen Medien so dargestellt, als ziehe der FN es vor, in der Stunde eines nationalen Schulterschlusses lieber außen vor zu stehen. Dies dürfte seinen Einfluss eingedämmt haben. Man konnte in einer ersten Zeit zwar befürchten, diese Situation werde dem FN in die Hände spielen, weil er gleichzeitig als aktive Partei und aber auch als „nicht wie die anderen Parteien“ erscheinen könne. Doch den möglichen, denkbaren Nutzeffekt einer solchen Situation verspürt die rechtsextreme Partei zumindest derzeit eher nicht. Kurzfristig scheint es doch viel eher so, als werde ihr ihre „Extrawurst“ anlässlich des Demonstrations-Wochenendes vom 10./11. Januar 15 tendenziell negativ angekreidet. Auch ein Drittel der Wähler/innen von Marine Le Pen missbilligt ihre Positionierung, also ihren (oft als Eigenbrötlertum oder parteipolitische Taktiererei wahrgenommenen) Versuch, eine Art von Parallelmobilisierung aufzustellen.
Vgl.
http://www.lemonde.fr

Alt-neue Vorschläge

Dadurch, dass ihre Chefin eine Batterie von eigenen Vorschlägen präsentierte, die sich angeblich gegen das Risiko neuerlicher Attentate richten, versuchte die Partei einige Tage später verstärkt in die Offensive zu kommen. Wie bei ihr üblich, stellt die extreme Rechte dabei einen angeblich zwingenden Zusammenhang zwischen den Anschlägen und der von ihr behaupteten „Masseneinwanderung“ her. Dies ist nicht neu, bereits im Herbst 2014 hatte es eine intensive öffentliche Debatte über ebendiese Agitation gegeben (vgl. Französische Jihadisten kämpfen in Syrien und im Iraq (Irak)). Durch Wiederholung werden die „Weisheiten“ des FN nicht wahrer. Denn die drei Attentäter, Chérif und Said Kouachi sowie Amedy Coulibaly, waren in Frankreich geborene französische Staatsbürger. Chérif Kouachi, der zentrale Kopf der jüngsten Mordwelle, hat mutmaßlich Zeit seines Lebens nie das Staatsgebiet verlassen, oder nur ein einziges Mal mit einem falschen Pass, um 14 Tage in einem Ausbildungslager von Al-Qaida im Jemen zu absolvieren. Dagegen ist der soeben zum Helden erklärte Lassana Bathily ein echter Einwanderer, ein vormals „illegaler“ noch dazu. Der 26jährige Muslim aus Mali rettete fünfzehn Menschen in dem koscheren Supermarkt HyperCacher, wo er arbeitet, bei der Geiselnahme das Leben. Er erhielt am vorigen Dienstag durch die Regierung zum Dank die französische Staatsbürgerschaft verliehen.

Konkret schlug Marine Le Pen vor, die Schengen-Abkommen zum Zweck der Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen abzuschaffen. Doppelstaatsbürgern soll bei Terrorismusverdacht umgehend ihre französische Staatsangehörigkeit entzogen werden können. Eine Maßnahme, die bereits heute möglich ist, aber unter relativ eng gesetzten rechtlichen Rahmenbedingungen – just vergangene Woche bestätigte das Verfassungsgericht einen entsprechenden Beschluss gegen den Franko-Marokkaner Ahmed Sahnouni. Ein solches Vorgehen verhindert zwar keine Attentate, soll aber die Grenze zwischen „eigen“ und „fremd“ umso deutlicher markieren. 59 Prozent der Französinnen und Franzosen sprechen sich in Umfragen für das Prinzip aus.

Marine Le Pen will aber auch die seit 2000/01 ausgesetzte Wehrpflicht wieder einführen – was nun auch Teile der UMP fordern -, ebenso wie obligatorische Schuluniformen. Inwiefern das Attentaten gegensteuern würde, bleibt ihr Geheimnis.

Innerparteiliches Flügelflattern

Während Marine Le Pen vor allem von der in Teilen der Öffentlichkeit angeheizten Stimmung gegen Muslime und „Fremde“ zu profitieren sucht, setzt ihr Vater und innerparteilicher Kontrahent Jean-Marie Le Pen (JMLP) auf in seinen Augen bewährte Verschwörungstheorien. Er merkte in der zweiten Januarwoche dieses Jahres zunächst in einem Interview mit einer russischen Zeitung an, in seinen Augen trügen die jüngsten Anschläge unverkennbar das Markenzeichen von nicht näher bezeichneten „Geheimdiensten“, seien also eine fals flag-Inszenierung. Hinterher behauptete JMLP, angesichts des Aufsehens rund um seine Aussprüche, er sei falsch übersetzt worden.

Der 32jährige Vizepräsident der Partei, Florian Philippot, verbreitete daraufhin per Twitter-Nachricht, der Gründer und „Ehrenvorsitzende“ des FN sei „heute in aller Augen harmlos“ – er meinte damit: ein Stottergreis -, und er habe „vielleicht Wodka getrunken, bevor er sich äußerte“. Jean-Marie Le Pen erwiderte beleidigt, jedermann wisse doch, dass er keinen Alkohol mehr trinke. Am Sonntag, den 25. Januar 15 legte der inzwischen schon relativ betagte Altfaschist (JMLP wird im Juni d.J. 87 Jahre alt) dann nach; und raunte von einer „Geheimgesellschaft“, die hinter den Attentaten stecke.

Wahrscheinlich wird der FN auch weiterhin mit beiden Flügeln schlagen und unterschiedliche Bedürfnisse zu bedienen versuchen – Verschwörungsgemunkel für die Schmuddelränder und einen Teil des harten Kerns, antimuslimischen Rassismus für den eher bürgerlichen Mainstream.

Aymeric Chauprade im Aus

Dabei gebietet das Streben um Salonfähigkeit jedoch eine gewisse scheinbare Mäßigung im Tonfall. Letzteren Imperativ missachtete soeben Aymeric Chauprade, bisher der Chef der Delegation der – formal fraktionslosen – Abgeordneten des FN im Europaparlament. Der 43jährige unterrichte früher Geopolitik an einer französischen Militärakademie, wurde jedoch dort wegen der Verbreitung von Verschwörungstheorien über den 11. September 2001 von seinem Posten gekippt. Seitdem hat er sich jedoch zur These vom Clash of civilizations, frei nach Samuel Huntington, und zum Kampf gegen den strategischen Hauptfeind Islam bekehrt. Seine faktische Annäherung an Positionen der US-amerikanischen Rechten ist umstritten. Er tritt ansonsten für ein Bündnis sowohl mit der israelischen Rechten als auch mit den russischen Machthabern um Wladimir Putin ein.

In der dritten Januarwoche d.J. posaunte er lautstark hinaus, Frankreich befinde sich „im Krieg mit Muslimen – nicht mit ,den‘ Muslimen, aber mit Muslimen“, um entsprechende Maßnahmen für den inneren Ausnahmezustand gegen ganze Bevölkerungsgruppen zu fordern. Marine Le Pen, die beruflich als Anwältin tätig gewesen ist, gingen diese Sprüche zu weit – sie wies auf ein „juristisches Risiko“ hin, also die Gefahr einer Klage wegen „Aufstachelung zur Rassenhetze“, das französische Pendant zum deutschen „Volksverhetzungs“-Paragraphen. Die alte Garde des FN um Jean-Marie Le Pen missachtete jedoch ihre Aufforderung an alle Bezirkssekretäre der Partei, das Video von Aymeric Chauprade nur ja nicht weiterzuverbreiten. Ihre eigene Nichte Marion Maréchal-Le Pen, Abgeordnete in der Nationalversammlung und Bezirkssekretärin in Avignon, die dem Großvater Jean-Marie näher steht als der Tante, veröffentlichte es prompt im Internet. Formal wurde der Familienfrieden jedoch wiederhergestellt, indem Marine Le Pen versicherte, die Nichte übernehme „alle Risiken und Verantwortung selbst“.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.