Editorial
Besondere Dokumente

von Karl-Heinz Schubert

02/2020

trend
onlinezeitung

"Die Eisenbahn befördert die Opfer, die Beamtenschaft führt verbrecherische Gesetze aus, die Presse entfacht in der Bevölkerung den Haß, die Fabrikanten stellen Gaskammern und Verbrennungsöfen her, die Ärzte überschreiten ihre Befugnisse, die pharmazeutischen Werke probieren ihre Medikamente an Häftlingen aus, die Finanzierung dieses ganzen verbrecherischen Unternehmens ist gesichert, die Behörden, alle Behörden schweigen ausnahmslos, sofern sie es nicht überwachen, daß sich alles reibungslos abspielt."

So beschreibt in kurzen, knappen Worten Eugène Aroneau den komplexen Zusammenhang zwischen Ökonomie, Staat und Massenbewußtsein, wodurch Nazideutschlands Mordmaschinerie funktionierte. Siehe dazu auch das Beispiel "BAYER" in dieser Ausgabe.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier findet hingegen dafür in seiner Rede "Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 29. Januar 2020" nur folgende Worte:

"Wer verstehen will, muss sich an die Wurzeln des nationalsozialistischen Weltbildes erinnern an völkisches Denken, an Antisemitismus und Rassenhass, an die Verrohung der Sprache in der Weimarer Republik, an die Zerstörung der Vernunft, an den Einzug der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung, an die Verächtlichmachung des Parlaments, die Zertrümmerung des Rechtsstaats und der Demokratie."

Der von Max Horkheimer formulierte ethische Imperativ: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen" gehört offensichtlich nicht zu Steinmeiers  politisch-theoretischem Rüstzeug. Er ist wahrlich kein "naiver Realist", der versucht, die historische Wahrheit in den Tatsachen aufzuspüren, sondern er gebraucht historische Sachverhalte nur als Ornament für eine inhaltsarme, nur die Gefühle berührende Bildersprache ("die bösen Geister der Vergangenheit").

Die "Rote Fahne" schlußfolgert daher in ihrem Kommentar:

"Darüber mag Steinmeier nicht reden, weil er selbst mit Haut und Haaren der Diktatur der Monopole dient, die sich heute noch der Herrschaftsform der bürgerlichen Demokratie bedient."

Ob eine Bewertung der Steinmeierschen Rede so apodiktisch ausfallen sollte, das möchten wir gerne unseren Leser*innen überlassen. Jedenfalls ist seine Rede ein besonders trauriges Zeugnis für die Denke des politischen Personals der BRD. Von daher entschieden wir uns, Steinmeiers Rede gleichsam als ein dementsprechendes Lehr-/Leerstück in dieser Ausgabe zu dokumentieren. Dort, wo Steinmeier historische Tatsachen erwähnt - wie z.B. die "Lager und Erschießungplätze", sahen wir uns genötigt, eine richtigstellende Ergänzung zu liefern. Was wäre besser geeignet als die Liste der Lager, Kommandos und Gefängnisse, die die Nazis seit 1933 im sogenannten deutschen Reichgebiet errichtet hatten?

+++++++++++

Die 2008 gegründete Veröffentlichungsplattform "linksunten.indymedia" ist ein einzigartiges Dokument der ideologischen Entwicklung der sogenannten radikalen Linken. Mit einer juristisch windigen Konstruktion wurde sie 2017 verboten und fünf Menschen wurden willkürlich als vermeindliche Verantwortliche für dieses Projekt von Polizei, Staatsschutz und Justiz heimgesucht. Am 29. Januar 2020 wurde deren Klage gegen das Verbot mit einem weiteren Formaltrick abgewehrt.

Für die Wiederzulassung von "linksunten" engagierten sich Detlef Georgia Schulze, Achim Schill und Peter Nowak. Ihre Schriften begleiten und unterstützen den Kampf gegen das Verbot, indem darin der Verbotsskandal dokumentiert und kommentiert wird. Diese Dokumente  haben wir so, wie wir sie erhalten haben, in dieser Ausgabe in einer Überschau zusammengestellt.

Wir hielten es im Sinne unseres strömungsübergreifenden Konzepts ebenfalls für geboten, den Kommentar des "Zündlumpen" zum Kampf für die Aufhebung des "linksunten"-Verbots unseren Leser*innen als Dokument zur Kenntnis zu geben. Es handelt von der Anarcho-Szene typischen Prinzipienreiterei, das alles, was irgendwie politisch mit dem Staat zu tun hat, von übel sei, weil dieser ja abgeschafft gehört:

"All das kann linksunten.indymedia in Zukunft kaum noch sein: Zwar mag die Urheber*innenschaft der Plattform weitestgehend anonym sein, doch wer auch immer linksunten.indymedia nach der Aufhebung eines Verbots wieder ins Leben ruft, die*der tut das in dem Wissen, dass diese Plattform zukünftig unter genauester Beobachtung sein wird. Dabei scheint es mir weniger darum zu gehen, das, wofür linksunten.indymedia stand, zu bieten, sondern mehr um einen Profilierungsgedanke der Art „Seht her, ich habe mich gegen den Staat durchgesetzt“."

Leser*innenbriefe dazu sind ausdrücklich erbeten.

++++++++

In dieser Ausgabe gibt es aufsetzend auf den Berichten in den vorherigen Ausgaben einen weiteren Monatsbericht von Bernard Schmid zu den Sozialprotesten in Frankreich, der sich aus zehn Tagesberichten zusammensetzt. Wenn auch aus der Unmittelbarkeit der Ereignisse heraus geschrieben, diskutieren wir, Bernards Frankreich-Berichte, die als zusammenhängende Einzelberichterstattung von ihm über Jahre erstellt wurden, als Dokumente entsprechend zu archivieren. Natürlich in Abstimmung mit ihm.

Abschließend möchten wir noch auf die politische Autobiographie von Hans-Jürgen Krahl hinweisen, die wir - ebenfalls als "Dokument" betrachtend - anläßlich seines 50.Todestages zweitveröffentlichen.

Berlin im Februar 2020