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21.12.1998, Tages-Anzeiger (Zürich)

Deutschland. Ein Wintermärchen

Von Detlev Claussen
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Seit Martin Walsers Friedenspreisrede fetzt man sich in Deutschland in Sachen Geschichte. Soll die Vergangenheit entsorgt werden? Nein, nur neu gebaut. Auf dass die Deutschen wieder Herr im Haus ihrer eigenen Geschichte sein können.

Deutschland 1998, ein neues Wintermärchen: Versöhntes Deutschland. Nach Wochen heftiger verbaler Auseinandersetzungen werden Versöhnungstreffen im Fernsehen gezeigt. Der bekannteste Jude Deutschlands, Ignatz Bubis, trifft sich mit dem sozialdemokratischen Edelmann, Klaus von Dohnanyi, der eine Entschuldigung von ihm verlangt hat. Man versichert sich des gegenseitigen Respekts. Bei künftigen Festakten kann man wieder nebeneinandersitzen. Dann kommt es noch schlimmer: In den Räumen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) wird ein Versöhnungsgespräch zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis inszeniert. Im TV wird Vollzug gemeldet: Sie haben sich getroffen und miteinander geredet. Reden kann man über alles, auch und vor allem über den Holocaust. Keine faulen Kompromisse wurden geschlossen. Bubis nimmt etwas zurück, Walser nicht: Shakehands, neue deutsche Versöhnung. In den Augen und Ohren der Zuschauer, die nicht am Montag die drei grossen FAZ-Seiten mit dem Gesprächsabdruck lesen werden, bleibt nur hängen: Diesmal hat der Bubis, der sonst fast immer beängstigend richtig liegt, danebengehauen. Punktsieg für Walser; aber alle bleiben Ehrenmänner. Im Beisein der Sekundanten wird sogar gemeinsam Rotwein getrunken, ein säkularer Rest christlich-jüdischer Versöhnungskultur.

Was bleibt? Mehr als ein bitterer Nachgeschmack. Die öffentliche Austragung dieses Konflikts hat die Republik stärker verändert als alles bisher Vergleichbare. Zunächst schien alles wie gehabt, Deutschland im Herbst, alle Jahre wieder: Buchmesse, Paulskirche, Friedenspreis - grosses deutsches Staatstheater. Die Republik stellt sich selbst dar, sie bespiegelt sich - als Spiegel dient der Geist. Die Repräsentanten der Macht und ihre Gäste hören zu. Die Intellektuellen, die als Denker und Dichter auftreten, geniessen Narrenfreiheit, solange sie eben diesen Repräsentationsdienst leisten. Auch die Skandalisierung gehört zur Institution: Immer wieder gibt es Streit um die Preisträger. Sind es die richtigen? Der Börsenverein als Ausrichter muss oft sein ganzes diplomatisches Geschick aufbieten, um die Wogen der Aufregung zu glätten. Diesmal wird er sogar vom "Feuilleton" der FAZ attackiert, obwohl er doch dessen Wunschkandidaten zum Friedenspreisträger gemacht hat. Undank ist der Welt Lohn. Nicht nur einen Lieblingskandidaten hat der Börsenverein der FAZ beschert, besser noch: einen Konflikt, in dem die Zeitung des Historikerstreits einmal wieder den Ton angeben kann. Die Goldhagen-Debatte hatte die FAZ irgendwie verpasst - sei es aus Weisheit, sei es aus Schlafmützigkeit. Auch beim Holocaust-Mahnmal ist sie erst sehr spät eingestiegen. Jetzt aber ist sie vorneweg: Martin Walser war und ist ihr Mann.

Lächerlich, doch mehr noch ekelhaft

Die ganze Sache wäre lächerlich, wenn sie nicht so ekelhaft wäre. Ein neuer Ton wurde angeschlagen, der aufreizen musste - ein schrilles Geräusch, wie Kreide auf einer Schiefertafel. Martin Walser hat mit seiner Rede Ignatz Bubis in eine unmögliche Situation gebracht. Hätte Ignatz Bubis nichts gesagt, hätte jeder gesagt, Ignatz Bubis habe geschlafen. Ignatz Bubis musste etwas sagen: Hätte Ignatz Bubis gesagt, er finde Walsers Rede gut, hätte jeder gesagt, Ignatz Bubis habe nicht aufgepasst. Ignatz Bubis ist in die Rolle gedrängt worden, aufzupassen in Deutschland. Sein Wachen soll das Unverdächtiggewordensein Deutschlands garantieren. Ignatz Bubis ist seine Rolle im neuen Deutschland bisher immer gedankt worden - jetzt nicht mehr. Das ist das Neue. Braucht das vereinigte Deutschland den Segen des prominentesten Juden in Deutschland nicht mehr? Den Segen hat es auch 1989 nicht gebraucht; aber als begleitende Massnahme war er immer angenehm. Deutschland scheint von seiner eigenen Generosität überfordert. Die endlose Debatte um das Fussballfeld als Gedenkstätte, das man sich jetzt nicht mehr leisten will, hat die neue Ungeduld schon spüren lassen: Braucht Deutschland überhaupt die Vergangenheit noch?

Davon kommt der ganze Ärger: Das neue Deutschland, das nicht neu, sondern wiedervereinigt sein will, braucht die Vergangenheit mehr denn je. Martin Walser ist nur als Protagonist einer neuen Vergangenheitspolitik aufgetreten, in der die Deutschen wieder Herr im Hause ihrer eigenen Geschichte sein wollen. Martin Walser kommt ohne Geschichte gar nicht aus - nur seine Geschichte soll es eben sein. Die hat er - kürzlich, im Buchhandel erhältlich - lang und breit erzählt. Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat er bekommen als ein deutscher Erzähler, der vielleicht nicht klüger, aber auf jeden Fall nationaler geworden ist. Die Gruppe 47 ist eben auch schon über 50. Martin Walser hat sich mit Rudolf Augstein besprochen - zwei Überlebende des Jahrhunderts an der südfranzösischen Küste liessen sich für den "Spiegel" im Räuberzivil ablichten, um zu zeigen, dass sie es leid sind, immer Rücksicht zu nehmen auf die Konventionen. Wenn die beiden "Ich" sagen, können sie auch "Wir" meinen. Was sie zu sagen haben, wird immer gedruckt und verbreitet, auch wenn sie nichts zu sagen haben.

Walser stellt sich noch als Opfer einer Medienübermacht dar; der alte Medienmeister aus Hamburg legt schützend seinen Arm um ihn. Augstein übt Patronage. In Walsers Erinnerungen fühlt er sich noch jung: Da kann man mitreden, ohne nachzudenken. Bei Walser wird der Nationalsozialismus aus der Perspektive des kleinen Mannes beschrieben - der kleine Mann hat etwas Hitlerjungenhaftes. Medienmacher und Schriftsteller nehmen freiwillig eine intellektuelle Pimpfperspektive ein, die sie sich nur leisten können, weil andere sie für bedeutende Männer halten: Einer, der schreiben und drucken kann, was er will, und ein anderer, der sein Publikum sucht und immer wieder findet. Walser hat sein Publikum in Frankfurt mit seiner Rede gesucht. Ignatz Bubis hat es gemerkt, eine Art von Ugly-advertising-Effekt. Walser braucht nicht nur die Vergangenheit, er braucht auch Ignatz Bubis. Walsers Rede kommt nur durch Ignatz Bubis dahin, wo sie hin sollte, und Walser kommt nur so, länger als für einen Augenblick, dahin, wo er hin wollte - ins Scheinwerferlicht. In der Duisburger Uni, einen guten Monat nach der Paulskirche, wurde Walser schon bejubelt wie ein Harald Juhnke für Gebildete und solche, die sich dafür halten: Auftritt, Marke "My Way".

Ohne Hemmung gegen Intellektuelle

Walsers Rede aus Duisburg wurde in der FAZ nachgedruckt und in "Phönix" gesendet. So konnte man Zeuge werden einer Stimmung, die in Deutschland verbreitet wird. Um es gleich klar zu sagen: Medien machen sie nicht, sie verteilen sie nur gleichmässig. Die Rede wirkt dünn und dürftig, wenn man sie nur liest und nicht hört. Alle rhetorischen Figuren aus der Frankfurter Paulskirche tauchen wieder auf; nur der Brustton der eigenen Überzeugung ist noch schriller geworden. Jetzt steht man nicht mehr in der Kirche, sondern in der Uni. Walser nimmt sich jetzt Wissenschaftler, "werte Professoren", Intellektuelle, vor. Da ist es leichter, noch schärfer zu werden. Da muss man nicht von Juden reden, aber von Leuten mit ähnlichen Eigenschaften, die man ungestraft lächerlich machen kann, wenn man sich als "deutscher Schriftsteller" aufführt, aus dem bei Augstein schon wieder der "Dichter" wird. Antisemitismus lässt man sich gern vorwerfen, um den Vorwurf empört zurückweisen zu können. Antiintellektualismus dagegen lässt sich in den eben noch beschimpften Medien ohne jede Hemmung praktizieren; denn der "Intellektuelle" ist inzwischen eine überholte, dem Gelächter preisgegebene Figur, die nur noch in den muffigen Nischen des öffentlichen Erziehungssystems geistert - eine schon abgewickelte Autorität.

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist eine Art Staatsakt - und zum Staatsakt gehört im neuen Deutschland ein Mann vom Zentralrat der Juden, der bezeugt, dass es sich um einen Staat handelt, der seine Lektion gelernt hat. Ignatz Bubis agiert als diese Autorität von gestern, die eine nützliche Funktion lange ausgeübt hat, jetzt aber wieder auf Normalmass zurückgestutzt werden muss. Walser hat die Zwangslage von Ignatz Bubis ausgenutzt - er konnte sich hinter wohlfeilen Argumenten verstecken, die dennoch den Repräsentanten der Juden zu eben den Äusserungen nötigten, auf die er spekulierte. Ignatz Bubis hat ein gutes Gespür für falsche Töne. Die Tatsache, dass in der Paulskirche ein neuer falscher Ton angestimmt wurde, zeigt sich auch daran, wie sehr sich die FAZ dieses Konfliktes angenommen hat; Klaus von Dohnanys Einlassungen wurden gleich dreimal abgedruckt. Das nationale Timbre lässt sich nur schwer überhören; auch da hat Ignatz Bubis' Gefühl nicht getrogen, dass an dem "nationalen Touch" in Deutschland etwas Ungutes sei. Sein Vokabular von "geistiger Brandstiftung" und "latentem Antisemitismus" klingt leider nicht nur veraltet; es trifft vor allem nicht die, die es treffen sollte.

Reden und Schriften von Martin Walser und Klaus von Dohnanyi müssen gar nicht antisemitisch sein, um gefährlich zu wirken. Sie spielen mit dem Antisemitismus - das ist das Gefährliche. Walser und Dohnanyi agieren in der Wiederaufnahme des immer wieder neu wirkenden alten deutschen Staatsschauspiels, das "Vergangenheitsbewältigung" heisst. Martin Walser ist dazu noch ein erschreckend schlechter Schauspieler. Seine gewundene Erregung und Entrüstung über die "Instrumentalisierung unserer Schande", die "Moralkeule" etc. wirken unglaubwürdig. Er schimpft auf die Medien - und alle sind eingeschaltet. Die "Instrumentalisierung von Auschwitz" ist keine Erfindung von Martin Walser; er leistete mit seiner Paulskirchenrede einen entscheidenden Beitrag dazu. Walser versucht sich unangreifbar zu machen, wenn er von sich "persönlich" redet und zugleich hinter einem "Wir" verschanzt. Auschwitz wird seit zwanzig Jahren in Deutschland instrumentalisiert, um das nationale "Wir"-Gefühl zu restaurieren. Das musste wirklich mühsam gelernt werden; eine Skandalchronik liesse sich aufmachen: Fassbinder, Kohls Antrittsbesuch in Israel, als der neue Regierungssprecher, der alte "Bild"-Boehnisch, die Israelis vor der "Instrumentalisierung von Auschwitz" warnte, Bitburg, Historikerstreit, Jenninger . . . nie wieder! Das Holocaust-Mahnmal sollte das Instrument sein . . .

Seitdem die Massenmedien Auschwitz als Holocaust kommensurabel gemacht haben, wird in Deutschland an einer Nationalisierung des Holocaust gearbeitet. Die scheinbare Endlosigkeit der öffentlichen Debatten, vom Historikerstreit bis zur Goldhagen-Diskussion, hängt mit der schwierigen Einbürgerung eines neuen Nationalgefühls zusammen. Man versucht das schier Unmögliche - nämlich aus der deutschen Vergangenheit die demokratische Untadeligkeit in der Gegenwart zu beweisen. Diesen unlösbaren Widerspruch beutet Martin Walser aus. Die Juden sind Martin Walser völlig gleichgültig. Er brauchte Ignatz Bubis nur, um seiner persönlichen Medienschelte eine öffentliche Bedeutung zu geben. Denn die Medienaufmerksamkeit verleiht Walser sein Selbstwertgefühl. Es geht ihm nicht um Nazismus, sondern Narzissmus. Angehängt an ihn hat sich die FAZ mit ihrem Klaus von Dohnanyi, der immer zur Stelle ist, wenn es "ehrenwert" zugehen soll. Da geht es um den "kollektiven Narzissmus" - um Deutschlands Image. Gemeinsam haben fast alle Beiträge eine gnadenlose "Wir"-Rhetorik. Die leere Vokabel "nationale Identität" weckt das Bedürfnis nach Inhalt, der in einer ziellosen Gesellschaft nur aus der Vergangenheit kommt.

Das neue deutsche "Wir"-Gefühl

Das neue deutsche "Wir" würde unbestimmt bleiben, wenn es nicht die Juden gäbe. Sie werden instrumentalisiert, um "nichtjüdischen Deutschen" - wie man heute so sagt - ein "Wir"-Gefühl zu geben. Goldhagen-Debatte und Walser-Streit sind nicht grundverschieden; sie gehören zum gleichen restaurativen Spiel. Zu ihm gehört auch der Versöhnungsdruck: Ignatz Bubis kann schnell als Spielverderber dastehen. Walser aber will nicht denken, er will fühlen. Er will nicht zwei Fliegen - er will einen Juden und einen Intellektuellen mit seiner Klappe schlagen. Das macht seine Reden besonders scheusslich: Die Juden werden instrumentalisiert, um intellektuelle Kritik zu diffamieren. Gedankenlos wird Deutschland ethnisiert. Der Druck, den Walser mit seiner Rede öffentlich auf Ignatz Bubis ausgeübt hat, etabliert die Zwangskonfession zu einem ethnischen Kollektiv als alternativlose Form des Selbstverständnisses. Wer hat Martin Walser und Klaus von Dohnanyi überhaupt das Recht gegeben, von "Wir" zu reden und alle "nichtjüdischen Deutschen" zu meinen? Selbst dabei bleibt's ja nicht: Wenn sie "Wir Deutschen" sagen, massen sie sich an, für alle zu reden. Jede kritische Stimme ärgert sie. Erschreckend, dass nur so wenige sich gegen diese Vereinnahmung zur Wehr setzen.

Selbstherrlich und selbstgerecht

Der Walser-Krach hat vollendet, was im Historikerstreit noch nicht gelang. Ein nationaler Diskursrahmen ist abgesteckt, in dem die ungleichen Parteien nach Herkunft aufgestellt werden. Die Abstammung wird für gegenwärtige Zwecke instrumentalisiert; Ignatz Bubis wird als der "Andere" gebraucht, um den Alleinvertretungsanspruch der "Wir"-Rhetoriker zu begründen. Wer sich die Mühe macht und das Vierergespräch in der FAZ nachliest, wird mit einer populistisch aufgemotzten Selbstherrlichkeit und Selbstgerechtigkeit Walsers konfrontiert, die bisher allenfalls satirisch beim Fernsehserien-"Ekel Alfred" möglich war. Seine Argumente reduzieren sich auf Schlagworte, auf deren Prägung er stolz ist. Vom Rechtsradikalismus der Gegenwart hat Walser keine Ahnung. Er hält ihn für das Werk von hoffnungslosen Asozialen. "Auschwitz" benutzt er nur, um sein nationales Wahrnehmungsmuster durchzusetzen: Die meisten Menschen schauen spontan weg, wenn sie mit Bildern des Massenmordes konfrontiert werden, weil sie Abscheu vor einem Übermass an Gewalt empfinden. Wie kaputt muss man im Kopf denn sein, um in Leichenbergen nicht Opfer, sondern vornehmlich "unsere Schande" zu sehen? In einer Zeit, in der Deutschland dringend ein neues Selbstverständnis braucht, wird in Deutschland das Abstammungsmuster etabliert, in dem zwar über Interpretationen, nicht aber über die Barbarei des ganze Verfahrens debattiert wird. Das Schweigen der deutschen Politiker in diesem Konflikt sagt alles.

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