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GELSENKIRCHEN, im FEBRUAR 1999

NAHT DAS MILLENIUM?

ASPEKTE DER ENDZEITLICHEN KRISENPHILOSOPHIE

von DIETMAR KESTEN

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TEIL I: DIE DESTRUKTION DES BÜRGERLICHEN FORTSCHRITTSBEGRIFFS

Vorbemerkung: Der Übergang zum 21. Jahrhundert scheint die Geister zu beflügeln. Die, die sich mit Prognosen und kühnen Einschätzungen beschäftigen, die, die Trends vorherzusagen wagen, und die, die sich der apokalyptischen Schau zuwenden. Je näher die Schwelle rückt, treten sie auf, die Weissager, die Propheten, die Seher, Sekten, Grübler und Enthusiasten. Sie kommen aus ihren Löchern gekrochen, malen Schreckensvision an die Wand, verkünden das Ende der Welt, verbreiten Angst und Schrecken, küren sich zu neuen Hoffnungsträgern. Endzeitliche Stimmungen sind nicht neu. Sie gab es immer in der Geschichte. Doch anders als z. B. im 14. oder 15. Jahrhundert, (1) als die großen Seher auf den Plan traten, gibt es heute die voll entwickelte Warenproduktion der kapitalistischen Moderne. Sie zwingt dazu, künftige Entwicklungen nicht "vorherzusehen", sondern sie nach Möglichkeit rational und analytisch zu begründen. In loser Folge möchte ich mich bis zum Jahresende mit einigen dieser Theorien beschäftigen, mit den Zukunftsvisionen, den Apokalypsen, den Utopien, dem Kuriosen, kurz: Den Annormalitäten, den womöglichen kommenden Normalitäten, den ideologischen Warnbildern. Der erste Beitrag beschäftigt sich mit der irrationalistischen Krisenphilosopie im 19. Jahrhundert.

Das 19. Jahrhundert ist eigentlich das erste, das mit rationalem Selbstbewußtsein auf alle früheren Jahrhunderte zurückblickte, das erste, das nicht mehr in einer Verkleidung auftreten brauchte, sondern selbstbewußt auftreten konnte, das erste, welches - unter dem Eindruck der industriellen Revolution und der demokratischen Revolution(en) - den Gedanken der historischen Gesetzmäßigkeit als FORTSCHRITT zu denken wagte. Es gab aber NUR den Marxismus, der dieses Denken wirklich ernst nahm, und zu sich selbst kommen konnte, als gesellschaftliche Aufhebung des histori- schen Fortschritt in der sozialen Revolution. Das bürgerliche Denken dagegen spaltete sich auf in technisch-positivistisch verkürzte Fortschrittsbegeisterung einerseits, die ihre gesellschaftliche Formbestimmung und deren Konsequenzen mit panischer Reaktionen ausklammerte, und in schillernden, oszillierenden und letztlich zutiefst pessimistischen Irrationalismus andererseits, der das unaufgehobene Gesellschaftliche in mystischer und mystifizierter Form birgt.

Der Marxismus hatte im 19. Jahrhundert unbestritten eine Vorreiterrolle eingenommen. Angesichts seiner geschichtlichen Bewegungselemente, der ausgesprochenen Utopien, erlahmte das fortgeschrittenste bürgerlich-demokratische Denken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts völlig. Die "soziale Frage" degenerierte so in der bürgerlichen Theorie und Poesie bestenfalls zur schwülstigen Liebespredigt oder zu alltestamentarischen Prophetenpose, während die rationale Fortschrittsidee sich am Vorabend des Imperialismus teils in nationalistische Mythologie auflöste ("Am deuschen Wesen soll die Welt genesen"), teils derart an die bloße, ihrer gesellschaftlichen Formbestimmung entkleidete "Hoffnungsmacht" der Technik glaubt, daß der Schritt ins Lächerliche unvermeidlich wird.

"...Sehr ihr die rätselhafte Kraft sich regen, die Menschengeist in seinen Dienst genommen? Mit heil"gem Strom kommt ein Schiff geschwommen, darin die Zukunft Wunder sich bewegen. In meinem Hirn auf - heiße Sehnsucht schwillt - elektrisch zuckt der neuen Zeiten Bild, wenn nicht mehr Dampf der Herr des Treibradriemens! Wenn billig mit der ungeheuren Kraft  ein jeder leicht des Lebens Notdurft schafft und Glück kein Traum mehr -Heil dir, Werner Siemens!" (2)

Als der naturalistische Lyriker KARL F. HENCKELL 1886 diese erbarmungswürdigen Verse "Zum 70. Geburtstag des Elektrotechnikers WERNER SIEMENS" absonderte, ist der Keim des finsteren imperialistischen Konzerns schon gelegt, der diesen Namen tragen wird und die großen technischen Leistungen des "Elektrikers" WERNER SIEMENS (3) als Waffe der Kapitalverwertung in gnadenlose Ausbeutung und Unterdrückung verwandelt, unter deren Herrschaft keineswegs "ein jeder leicht des Lebens Notdurft schafft", trotz ungeheurer Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft.

Aber die Blauäugigkeit technologisch beschränkten Fortschrittsglaubens mußte unvermeidlich konkterkariert werden vom Pessimismus irrationalistischer Krititk, der mystifizierenden Gedankenform, in der allein der Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft auf BÜRGERLICHE Weise noch ausgesprochen werden konnte. Schon 1873 hatte der junge Symbolist ARTHUR RIMBAUD, (4) dem irrationalistischen Kontra-Impuls folgend, mit schneidendem Hohn den Wissenschafts- und Fortschrittsgedanken verspottet: "Oh! Die Wissenschaft! Man hat alles wieder aufgenommen. Für Leib und Seele - als Wegzehrung - gibt es die Medizin und die Philosophie - die Hausmittel der alten Weiber...Die Wissenschaft, die neue Noblesse! Der Fortschritt. Die Welt schreitet vorwärts! Warum sollte sie sich nicht drehen?...Das heidnische Blut kehrt wieder!..." (5)

Solche Stimmen wurden lauter, je näher die Schwelle zum 20. Jahrhundert rückte; zuerst verstreut in avantgardistischen Richtungen der Poesie, dann immer dichter und deutlicher in der gesamten kulturellen und theoretischen Produktion. Nicht erst seit OSWALD SPRENGLERs (6) 1922 erschienenen Monumental- schinken "Der Untergang des Abendlandes" grassierte teils wehmütig, teils militant-agressive Katastrophenstimmung im kulturellen und philosophischen Überbau der bürgerlichen Gesellschaft.

Spätestens um die Jahrhundertwende träumten die hellsichtigsten Dichter bereits den sinnlich faßbaren Alptraum ei- ner neuen Barbarei, in die der bürgerliche Fortschritt münden mußte: DER TRÄUMENDE "Blaugrüne Nacht, die stummen Farben glimmen,   ist er bedroht vom roten Strahl der Speere - und rohen Panzern? Ziehn hier Satans Heere? Die gelben Flecke, die im Schatten schwimmen, sind Augen wesenloser großer Pferde. Sein Leib ist nackt und bleich und ohne Wehre. Ein fades Rosa eitert aus der Erde." (7)

Als der (1942 vergaste) JAKOB VAN HODDIS (8) dieses Gedicht (ein fast wahllos herausgegriffenes aus zahlreichen Produktionen ähnlich schwarzen Fühlens einer ganzen Reihe von Poeten wie GEORG HEYM, GEORG TRAKL u. a. (9) am 20. Februar 1911 in der expressionistischen Zeitschrift "Die Aktion" veröffentlichte, tanzte die kleine und große Bourgeoisie noch mit wilhelmi- nistischer Pausbäckigkeit ihren Fortschrittswalzer, und 1914 zog man sogar noch einmal mit vaterländischer Begeisterung in den Krieg, als ginge es zu Pferde gegen die Türken. Die weltweite Materialschlacht, das barbarische Gemetzel mit den technischen Mitteln der entwickelsten Zivilisation, brachte ein ebenso schnelles wie grau- siges Erwachen; was schon seit Jahrzehnten vorausahnende Poesie und Malerei verdüstert hatte, öffnete sich nun in der Realität als blutiger Höllenschlund einer bis dahin unerhörten Katastrophe: Resultat der erstmals reifgewordenen Weltmarktbewegung des Kapitals.

Freilich, die Opfer der kapitalistischen Produktionsweise und ihres Aufstiegs im 19. Jahrhundert hatte es schon von Anfang an gegeben und für sie war der Fortschritt nie etwas anderes als Hunger, Elend und Tod. Aber jetzt wurde die Bourgeoisie erstmals selber von entfesselten und verselbständigten Produktionsprozeß der Kapitalververwertung eingeholt.

Nicht nur, daß die neuen Krisen statt wie bisher bloß Teile des kleinen Kapitals nun ganze Volks- wirtschaften zu ruinieren vermochten; nicht nur, daß der totale Krieg die phy- sische Existenz auch der Herrschenden selbst jederzeit auslöschen konnte; vor allem erschien als eigentliche Katastrophe die erstmals praktische Mög- lichkeit der sozialen Revolution, die aus dem in Barbarei umgeschlagenen bürgerlichen Fortschritt hervorzugehen drohte. Die Koexistenz des bürgerlichen Fortschrittsgedankens und seines irratio- nalistischen Gegenpols, in der positivistischer Fortschrittsglaube dominiert hatte, war nun endgültig beendet, der Fortschrittsgedanke mußte nicht nur dem Irrationalismus untergeordnet, sondern liquidiert werden: "(Diese) Tendenzen haben zum Hauptinhalt: Die Abwehr gegen den Marxis- mus. Darin ist philosophisch entscheidend: Die radikale Subjektivierung der Geschichte , die radikale Entfernung jeder Gesetzmäßigkeit aus ihr." (10)

An die Stelle des Fortschtrittsgedankens trat ein mystischer Analogismus, wie ihn bereits die Romantik mit ihrer Rückwendung zum Mittelalter hervorgebracht hatte, wie ihn nun vor und nach dem ersten Weltkrieg die sogenante "Lebensphilosophie" (in Frankreich BERGSON, in Deutschland DILTHEY, SCHELER, SPRENGLER u. a.) (11) propagierte: Ihrer irrationalen Grundhaltung mit einer vagen Betonung des beliebig interpretiebaren "Lebendigen und Organischen" gegenüber dem "Toten und Künstlichen" entsptrechend, behaupten diese Philosophen, nicht fortschreitende Entwicklung zu höheren For- men sei das Wesen der menschlichen Gesellschaft, sondern die ewige Wiederkehr des Gleichen, der Aufstieg und Abstieg der Kulturen, in deren Lebensprozeß bestenfalls analoge Phasen aufgespürt werden könnten.

Für OSWALD SPRENGLER befand sich in diesem Analogismus die  "faustische" Kultur des Abendlandes nach einem Kulminationspunkt im indutriellen Kapitalismus nunmehr an der Schwelle zu ihrer Untergangsphase; was mit Notwendigkeit als nächste Epoche anstehe, sei die Ära "Cäsarium", der Alleinsherrschaft einer starken Persönlichkeit auf "rassischen" Grundlagen, danach werde das "Abendland" wie alle Kulturen vor ihm wieder "ins Geschichtslose" zurückkehren, "in den primitiven Takt der Urzeit" . (12) Es ist eine eigentümliche Mischung von militanter Aufbruchs- und gleichzei- tiger Untergangsstimmung, die der bürgerliche Irrationalismus seit dem Ein- tritt des modernen Kapitalismus in seine imperialistische Phase reflektiert. Seit dem Ende des ersten Weltkrieges ahnte die gesamte kapitalistische Mo- derne, daß es mit ihrer Welt historisch zu Ende geht, aber zuvor wollte man noch einmal zeigen, wem die Welt gehört, die Sau rauslassen und Leben, und die Sonne sehn. Hinter der bröckelnden Fassade der Seriosität beginnt das schon immer exis- tierende Unbehagen im braven Bürger zu rebellieren. Angesichts des gewalt- sam aufbrechenden gesellschaftlichen Widerspruchs verkleiden sich mystifizierende Ängste, Grausamkeiten und verächtendes Gelächter noch einmal als gefühlvolle Kreatürlichkeit, zivilisationsmüde Sehnsucht nach der Natur, als salbungsvoller Mystizismus und lustvoller Tanz am Ende des Abgrunds: Mag nach uns kommen, was da kommen mag! In diesen ideologisch-brodelnden Topf der zwanziger Jahre fällt der Aufstieg des Faschismus, der zum wahren Erbe der irrationalistischen Philosophie und Ideologie wird, zum zweiten Ende des bürgerlichen Fortschritts mit Schrecken. Die Verbindung der "Nachtseite" des Bürgertums, seiner irrationalistisch- mystischen verkleideten Krititk an der eigenen Produktionsweise, mit der äußerstengesellschaftlichen und politischen Reaktion zieht eine Spur durch das ganze 19. und 20. Jahrhundert.

Diese Verbindung zeigte sich bei den Romantikern als Komposition eines Ausweichens nach rückwärts ins idealisierte Mittelalter, einer hilflosgefühls- mäßigen Kapitalismuskritik (z. B. BETTINA von ARNIMs "Armenbuch") und politischem Liebäugeln mit der feudalen Reaktion (einer der theoretischen Wortführer der Romantik, FRIEDRICH SCHLEGEL, wurde nach seiner Kon- version zum Katholizismus Hofsekretär unter METTERNICH, der Galionsfi- gur der Konterrevolution des 19. Jahrhunderts), diese "unheilige" Verbindung blitzte auf in der Beinahe-Affäre des LASSALLE-Flügels der Arbeiterbewegung mit BISMARCK, und sie reichte bis zu den "Nationalrevolutionären" und den "Nationalbolschewisten" vom Schlage eines ERNST JÜNGER (13), der die "Stahlgewitter" des ersten Weltkriegs verherrlicht hatte. Alle diese historischen Rinnsale irrationalistischer Kapitalismus-und Fort- schrittskritik vereinigten sich auf dem Höhepunkt der kapitalistischen Krise in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum reißenden Strom des Faschismus, mit seiner "genialen" Synthese von Endzeitstimmung, sozialer Demagogie und brutal-imperialistischer Politik.

Wer nicht aus der Geschichte lernt, ist dazu verdammt, sie noch einmal zu erleben, das mit zwangsläufiger Sicherheit in einer viel schlimmeren Fassung als vorher. Die Epoche nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, der die Schrecken des ersten bei weitem in den Schatten stellte, verschaffte dem modernen Kapitalismus noch einmal eine historische Atempause, deren ökonomischer Inhalt staatsinterventionistische Krisenregulierung und eine lange Welle der Prosperität war, die ihren theoretischen Ausdruck im Keynesianismus und einem neuen Aufstieg des Positivismus fand, freilich keinem naiv fortschrittsgläubigen mehr; zum Ideal wurde es, keine Ideale zu haben und fleißig zu konsumieren. Heute sind Keynesianismus, Krisenregulierung, Arbeitsgesellschaft und Sozial- staat an ihr geschichtliches Ende angelangt, die Weltmarktbewegung des Kapitals hat ihre Gesundbeter eingeholt und die Moderne pocht auf neuer historischer Stufenleiter und mit größerer Wucht als je zuvor an die Tore einer morschen und überlebten Gesellschaftsordnung. Der dritte Weltkrieg, wenn er denn unvermeidlich ist, oder andere größere Er- schütterungen, drohen nun wirklich zum Weltuntergang zu werden und das Unvorstellbare wahr zu machen, die Katastrophen des bisherigen Jahrhunderts noch zu übergipfeln. Und prompt steigt der alte Irrationalismus wieder aus dem Grab der Ideologen. War schon der zur Schau getragene Optimismus eines Kaiser WILHELM hohl und unglaubwürdig, der eines HITLER gespenstisch, so war der eines KOHL, ist der eines LAFONTAINE, SCHRÖDER, FISCHER oder SCHÄUBLE nicht einmal mehr die Karikatur einer Karikatur.

Aber nicht nur das gegenwärtige warenproduzierende System hat im "Wirtschaftswunder" ihre eigene Geschichte vergessen, sondern auch die Jugend, und jene, die sich so gerne selbst als Opposition deklariert. Der ganze alte Dreck des Irrationalismus kann frech und frisch herausgeputzt als letzter Schrei auf die Bühne treten, frei nach GOETHE "verzeiht, ich hört euch reklamieren" ! Im gesamten Überbau raunt und wabert es wieder als dumpfe Begleitmusik zu den schrillen Tönen von Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau, Kriegsge- fahr, nicht nur bei den Ideologieproduzenten selbst, sondern bei alldenjenigen, die so gerne vergessen und sich ein Stück des "Himmelsreichs auf Erden" (14) unter allen Umständen im Kapitalismus der Moderne erhalten wollen. Nicht von ungefähr "entdeckt" die Frankfurter Buchmesse seit Jahren die eso- terische Philosophie, die Anthroposophie, die Märchen und Mythen, Innenleben und Seelenquark, die "Grenzwissenschaften" neu. Eine Vielzahl nahmhafter Verlage ist sich nicht zu Schade dafür, die "Schwingen des Drachen", die "Magischen Hände" (Hugendubel-Verlag); die "Persönlichkeits- und Emotionalitäts"-Horoskope (Quellen Verlag); die "Ganzheitsmedizin" (Sommer-Verlag); "Tarot"- Reihen (Urania-Verlag); "Geheimlexika" (Verlag Esoterische Philosophie)", "Geheimprojekt"-Bibliotheken (Moewig Verlagsunion) usw. feilzubieten; die Wiederbelebung der Krisenphilosophie!

Vielelleicht im Moment noch nicht wieder indem Maße wie etwa zu Beginn der 80er Jahre, als die gesamte "Grün-Alternative- und Bunte Bewegung" auf den Zug der "Identitäts-Erlebnisse" aufsprang, aber die Tendenz ist erneut sichtbar; die Suche nach dem "Übersinnlichen" , die publizistischen Versuche der Herstellung ei- ner Synthese von Naturwissenschaften und Irrationalismus. (15) Man sehe sich nur die Verlagsprogramme des Aussaat-Verlag, des Luther- Verlag, des Vier-Türme-Verlag, Don Bosco aus München, Echter-Würzburg, des Paulus-Verlag, Lahn-Verlag Limburg, Friedrich Pustet (Regensburg), Tyrolia, Steyler-Verlag, Rüggenberg, Omega, Patmos usw. an, und der Eindruck setzt sich fest, daß die "Reiseführer ins Jenseits" tatsächlich vor einer neuen Blüte stehen. Die Liste der "Theosophischen" Verlagsanstalten scheint lang und länger zu werden; Rudolf Steiner, Silberschnur, Neue Erde, Adyar, Drei Eichen Verlag, Edition Tetrae- der üben sich in Transzendenz und außersinnlichen Wahrnehmungen. Eine schlimme Beobachtung, die selbst vor Goldmann, Ullstein, Heyne, Droe- mer/Knaur oder Lübbe nicht halt macht. Letzterer scheinen sich überdies noch begierig darauf zu stürzen, den "Grenzgänger" JOHANNES v. BUTTLAR zu produzieren. Und wieder scheinen sich zum Ausgang einer Dekade, des 20. Jahrhunderts, die irrationalistischen Ideologen auf dem Vormarsch zu befinden, die sich zu- dem noch den gesamten  Kultursektor einverleibt haben, der die Untergangsstimmung mal pompös, dezent oder faschistoid verbreiten darf.

Sieht man von der mystischen Verherrlichung der ""kultischen Rituale" der "Horste" und "Sylvestermahnfeuer", der "verwirklichung im Blut" im Neonazi- Schrifttum und deren "praktischer Anwendung einmal ab, von den Skinheadbands und ihren formuliertern Kriegszielen auf Tonträgern, der Verbreitung ihres "Germanenkults" in den Printmedien, so sind es gerade diejenigen, die als "seriös" gelten, aber mit Verve ihre Untergangsgesänge in der neudeutschen Mythen-Musik verbreiten, JOACHIM WITT, RAMMSTEIN, oder auch die angeblich "geläuterten" BÖHSEN ONKELSZ. War WITT einst der "Goldene Reiter" , (16) so ist nicht nur sein Werk BAYREUTH martialisch an den WAGNER-Mythos angelehnt, voll von RIEFENSTAHL-Zitaten Nebelsprachen, tiefstem Keller Sing-Sang und Flutmetaphern, (17) sondern auch sein Sprachvolumen und gereimte Textzeilen wie "Die Welt, blutverschmiert, macht die Seele mir wund", Hinweise darauf, die Welt aus den vergessenen Gewölben der Seele zu befreien, die verwirrenden Labyrinthe des Geistes zu öffnen, um die poetische Reise in die Dunkelheit anzutreten. Auf das kulturell-schwülstige Gedächtnis der Moderne fahren ebenfalls RAMMSTEIN (18) voll ab, wenn sie den süßen Nektar des Schwertes kosten "Ihr wollt doch auch das Blut vom Degen lecken", heißt es bei ihnen. Die Ritter vom Teufelsgral, die Pyromanen und Abfackler, die die Bühne in brennendes Steppengras verwandeln, feiern mutierte Auferstehung, und ihre Flucht in den Mythos ist begleitet von einem unverkennbaren Rechtsdrall, der zur Drohgebärden auswächst. Ins Zwielicht müssen daher auch weiter die BÖHSEN ONKELSZ (19) geraten, deren angebliche Läuterung die Blutwolke noch größer werden läßt, wenn sie ihr "Deutschland kotzt/Und uns gefällt"s abliefern. Eine Image-Änderung heißt eben noch lange nicht, daß das Zucken und die Ekstase der einstigen "Türken raus" Songs vorbei ist.

Das hat Tradition, die in sich schon Neomythisierung ist, weil aus der Mitte aller Rettungsgestalten die unterirdische Restwelt steigt, die das "dumbe" Volk mit gewohnter Durchsetzungskraft in die Ruinenhallen der Zukunft führt, beileibe nicht nur die neuen und die alten Nazis, im erschreckenden Maße eben auch junge Bürger aller gesellschaftlichen Schichten; die dem politischen Desaster den Moloch des Untergangs entgegensetzen, und wenn schon, dann soll es uns Freude bereiten, wie man an den alljährlich stattfinden Love-Paraden bestens beobachten kann. Die Moralkeule der singenden Meinungssoldaten kommt ihnen gerade recht; denn wenn der Feuerteufel zündeln kann, wird auch die Idee des sinnbefreienden "Geist-Seele" Raums (20) geschürt. Ein neuer Kulturschub bricht sich Bahn, die Kulturproduktion erreicht jene Stu- fe, wo sich jeder gerne das "Passende" aussuchen kann, und es verwundert nicht, daß selbst im endzeitlichen Film der Klabautermann stets anklopft, um die abgewiesenen Todesdrohungen einzufordern. Die Liste der Kamikaze-Filme sind populär und Orientierungshilfen für jedermann geworden; und es ist nicht das Darstellungsvermögen der Hollywood-Größen, die die Triebträume des seelenlosen Menschen vermarkten, sondern der Prozeß des Schreckens, das Katastrophengenre, daß den apotheotischen Schlußkampf oh- ne Hoffnung auf den Retter zu schildern vermag. Die irrationalen Adaptionen der Apokalypsen, exakt der gebauten Gewalt der faschistoiden Botschaften ähnelnd; von "Blade Runner" bis "Indiana Jones and the Last Crusade" zieht sich die blutige Spur des Heilsmythos.

Das sind die "wahren" Helden des 21. Jahrhunderts, der apokalyptische Film der Erlösung, BRUCE WILLIS in "The Fifth Element" oder "The Hard", "Twelf Monkeys", "Armargeddon" , BRAD PITT in "Sieben" , SCHWARZENEGGER and the "Terminator", der "schöne" Drache "Godzilla" usw. Die endzeitliche Industrie weiß was sie ihrem Publikum schuldig ist. Sie entdeckt den Ausnahmezustand, der nie seine Wirkung verfehlt, wenn den Widersachern getrotzt wird. Die mit Freudensängen verbreitete irrationale Erschleichung der Weltherrschaft mag da einen ROLAND EMMERICH (21) genauso erfreuen wie JAMES CAMERON( Titanic) alles wird unter einer "Fortschrittsgläubigkeit" subsumiert, daß einem im Kino nicht die Träne, sondern die Galle hochkommt. All diese Theoreme stützen direkt oder indirekt die rückwärtsgewandte ideologische Fluchtbewegung des Kleinbürgertums, dem vor den drohenden Katas- trophen des Kapitalismus der Moderne ebenso graut wie vor der eigenen Courage. Selbst der brave Arbeitsmann kann sich da mit ihm solidarisieren; denn der "normale" Staat ist auch sein Staat, und an der Trauerkultur partizipiert er wie jede/r andere auch. Zurückdrehen läßt sich die Geschichte nun mal nicht, weder zur kleinen über- schaubaren Warenproduktion, noch zur Hochkonjunktur oder Vollbeschäftigung. Aber die grundlegenden ideologischen Strukturmerkmale werden sichtbar, die den gesamten kulturellen Überbau zu beherrschen scheinen, und es ist absolut nicht von der Hand zu weisen, daß das 21. Jahrhundert sich auf diese Umgebung einlassen wird; denn es kann sich nicht mehr am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Dazu hat es bereits jetzt schon viele der haßerfüllenden, mythi- schen, gar die Ausrottung propagierenden Ideologien gespeichert, und wird sie zur Individuierung führen.

Im übrigen lasssen sie sich in vielen Bereichen bis auf die Romantik zurückführen,   und die Strömungen bürgerlichen Denkens machen weder vor Kulturproduktion, Kulturideologie oder Kulturpolitik halt. Und wie es scheint, ist dieses Denken Träger des apolitischen, der Endzeit- und Untergangsstimmung, dem irrationalen Aufbruch nach rückwärts, dem Rückzug in die romantische, in die mystische Idylle und der krankhaften Heiterkeit, die sich selbst im Sog des ganzen Comedy und Entertainment verei- nigt hat. Das irrationalistische Licht ist allemal sichtbar: Die emotionale und intuitive Idee, daß der Mensch abgezockt werden muß, sein Wesen "umgedreht", vereinnahmt und erleuchtet zu sein hat, wenn es auf die Reise ins 21. Jahrhun- dert geht. Der Verstand soll nicht mehr regieren, die Welt ist zum Gewissheitserlebnis geworden, wo alles nur noch mit dem SCHOPENHAUER-"Willen" erfaßt wird. Rational sind da vielleicht nur noch die mittelalterlichen Holzwürmer, die in PLATONs verschwundenen Dialogen lauern und nicht zum Mystizismus ihre Flucht anzutreten brauchen. Die kapitalistische Totalität der Moderne hat nicht nur die untergehende Warenproduktion hervorgebracht, sie hat sich auch der "magischen" Realität zu- gewandt, der irrationalen Verkettung einer "neuen Versachlichung", die sich in den Katastrophenahnungen des gesamten Überbaus niederschlägt. Wenn sie wieder von "jungfräulichen Landschaften" träumt, mit der "Innerlichkeit" schwanger geht, die Produzenten und Konsumenten eifrig damit beglückt, dann ist es möglich, daß ihr narzißtischer Stolz im kommenden Jahrhundert die Dualität von wesenhafter "Natur" und perverser "moderner Gesellschaft" behender vereinigen kann, als viele unserer Zeitgenossen es für möglich halten.

Anmerkungen:

(1) vgl. z.B. NOSTRADAMUS (1503-1556); Astrologe; Leibarzt Karl IX.

(2) Lyrik des Naturalismus, Stuttgart 1982, S. 136f.

(3) WERNER (von) SIEMENS: 1816 - 1892; Mitbegründer der Elektrotechnik; erfand 1846 einen elektrischen Zeigertelegrafen; gründete 1847 die Telegraphen Bau-Anstalt von SIEMENS&HALSKE; erfand 1856 den Doppel-T-Anker; 1866 die Dynamomaschine; baute 1879 die erste funktionstüchtige elektrische Lokomotive.

(4) ARTHUR RIMBAUD: 1854 - 1891; französischer Dichter; malte irreale Bilder; wichtigstes Werk: "Eine Zeit in der Hölle". Die Texte gelten als Schlüsseltexte der Symbolik.

(5) ARTHUR RIMBAUD: "Eine Zeit in der Hölle", Stuttgart 1979, S. 13.

(6) OSWALD SPRENGLER: 1880 - 1936; Geschichtsphilosoph; ist wie BERGSON davon überzeugt, daß die Wesensverschiedenheit der Welt sich im Menschen widerspiegelt; vertritt die Auffassung, daß es die "Logik des Raumes, der Zeit" gibt, eine "organische Logik"; sein wichtigstes Prinzip war die "Logik des Schicksals" worunter er alle Untergangstendenzen faßte. Die "Logik des Schicksals" lehrt, die "Welt als Geschichte" zu begreifen. Der "Untergang des Abendlandes" (1918-1922) ist in diesem Sinne der lebensgesetzliche Ablauf der Weltgeschichte, der Ablauf jeder Kultur; auf die abend- ländische (der "faustischen") Kultur angewandt, ist es die Prognose, daß wir uns im Endstadium der Zivilisation befinden, die in die Erstarrung eingetreten ist, wir gehen dem Untergang entgegen,

(7) JAKOB van HODDIS: 1887 - 1942; aus "Ich schneide die Zeit aus", München 1964, S. 20.

(8) HODDIS gilt als Mitbegründer des frühexpressionistischen "Neuen Clubs" (1909); schrieb "Das Weltenende" (1911).

(9) GEORG HEYM: 1887 - 1912; Lyriker; Vertreter des Expresssionismus; Verfechter einer dämonisch - apokalyptischen Schau; dramatisierte die Literatur durch die Visionen einer kommenden Naturkatastrophe. GEORG TRAKL: 1887 - 1914; frühexpressionistischer Lyriker.

(10) GEORG LUKACS: "Die Zerstörung der Vernunft", Bd. 1, Neuwied 1979, S.

23. GEORG LUKACS; 1895 - 1971; Literaturhistoriker, Philosoph; war während der ungarischen Räterepublik - 1919 - stellvertretender Volkskommissar für Unterrichtswesen. Wichtige Werke: "Geschichte und Klassenbewußtsein" (1923); "Die Zerstörung der Vernunft" (1954); gilt als Verteter einer marxistischen Ästhetik.

(11) HENRI BERGSON: 1859 - 1941; französischer Philosoph; in der Tradition der Mystik stehend; Vertreter einer spiritualistischen Lebensphilosophie; Werke: "Zeit und Freiheit" (1889); "Materie und Gedächtnis" (1896); "Schöpferische Entwicklung" (1907). WILHELM DILTHEY: 1833 - 1911; Mitbegründer der Lebensphilosophie; vertritt die Auffassung, daß "Erfahrungswissen der geistigen Erscheinungen" sinnerhaltend sind. Werke: "Das Leben Schleiermachers" (1870); "Das Erlebnis und die Dichtung" (1906). MAX SCHELER: 1874 - 1928; deutscher Philosoph; schloß sich der Phänomenologie HUSSERLs an; vertritt eine intuitive Werteerfassung durch die Person; Mitbegründer der ethischen Anthropologie. Werke: "Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik" (1913-1916); "vom Ewigen im Menschen" (1921); "Die Stellung des Menschen im Kosmos" (1928).

(12) OSWALD SPRENGLER: "Der Untergang des Abendlandes", zitiert nach LUCACS; a. a. O, Bd. 2, S. 150.

(13) ERNST JÜNGER: 1895 - 1998; deutscher Schriftsteller; verbreitete "In Stahlgewittern" (1920) den Mythos eines neuen (un)-bürgerlichen Menschen mit der Neigung zum "heroischen Nihilismus".

(14) HEINRICH HEINE: "Deutschland ein Wintermärchen", Wien 1978.

(15) Vgl. z.B. JOHANNES v. BUTTLAR; der in seinen Büchern die subjektivistische - irrationale Sichtweise bevorzugt, und ständig darum bemüht ist, viele Bereiche der Naturwissenschaften auf dieser Ebene zu synthetisieren. In einem späteren Beitrag möchte ich mich gerade mit ihm beschäftigen, da er einer der wesentlichstens Vertreter auf dem pseudowissenschaftlichen Sektor ist, der dem Irrationalismus breiten Raum verschafft, und die Flucht in den Mythos propagiert.

(16) JOACHIM WITT: Exponent der "Neuen Deutschen Welle", wurde vor allem mit seinem "Goldenen Reiter" (1980 -LP:Silberblick) bekannt.

(17) WITT gelang 1998 ein Comeback; u. a. mit dem Song "Wann kommt die Flut?" Die zitierte Textzeile "Die Welt (so) blutverschmiert..." entstammt dem Song "Und ich lauf!" Wer WITT bei der Live-Übertragung der Sylvesterparty von 1LIVE aus der Dort- munder Westfalenhalle im 3. Programm des WDR sah, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er sich in seiner Rolle als Endzeitverkünder ganz gut gefiel. WITT in einem schwarzen Outfit, trat so vor"s Mikro, als komme er gerade aus einer   Unterredung mit den Fürsten der Unterwelt.

(18) RAMMSTEIN, die jetzt auch in den USA vermarktet werden, wurden 1998 mit dem Titel "Engel" bekannt.

(19) BÖHNSE ONKELSZ: Urgesteine des rechtslastigen Rocks; haben in den letzten Jahren versucht, DIE Wandlung zu vollziehen, was als mißglückt inter pretiert werden darf; spielen Musik auf unterster Proll-Ebene.

(20) Auf einer ähnlichen Ebene versuchen einige Marketingabteilungen von

Plattenfirmen das Blutgesülze weiter zu stricken. Sicherlich wird man bald

von Bands mit folgenden Namen "Oompf", "V-Lenz", "Keilerkopf", "Weissglut"

etc. einiges hören.

(21) ROLAND EMMERICH; deutscher Filmregisseur; Independence Day (1996), Godzilla (1998).

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