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aus: Die sexuelle Revolution, Frankfurt / Main 1972

Die Zwangsfamilie als Erziehungsapparat

von Wilhelm Reich

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Die wichtigste Erzeugungsstätte der ideologischen Atmosphäre des Konservatismus ist die Zwangsfamilie. Ihr Grundtypus ist das Dreieck: Vater, Mutter und Kind. Während die konservative Anschauung in der Familie die Grundlage, wie manche sagen, die "Zelle" der menschlichen Gesellschaft überhaupt sieht, erblicken wir in ihr bei Berücksichtigung ihrer Wandlungen im Laufe der historischen Entwicklung und ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion ein Ergebnis bestimmter ökonomischer Strukturen. Wir sehen also die Familie nicht als Baustein und Grundlage, sondern als Folge einer bestimmten ökonomischen Struktur der Gesellschaft an (matriarchalische, patriarchalische Familie, Zadruga, polygynes und monogynes Patriarchat usw.).

Wenn aber die konservative Sexualforschung, die reaktionäre Sozialethik und die Rechtsordnung von der Familie immer wiederum als der Grundlage des "Staates" und der "Gesellschaft" sprechen, so haben sie nur in dem Sinne recht, daß die Zwangsfamilie zum Bestand des autoritären Staates und der autoritären Gesellschaft unabtrennbar gehört. Ihr gesellschaftlicher Sinn erschöpft sich in drei Grundeigenschaften:

  1. Ökonomisch: Sie war in den Anfängen des Kapitalismus der wirtschaftliche Kleinbetrieb und ist es heute noch in der Bauernschaft und im Kleingewerbe.
  2. Sozial: Sie hat in der autoritären Gesellschaft die wichtige Funktion des Schutzes der wirtschaftlich und sexuell entrechteten Frau und der Kinder.
  3. Politisch: Während die Familie in der vorkapitalistischen Zeit des Privateigentums und in den Anfängen des Kapitalismus eine unmittelbare ökonomische Wurzel in der familiären Kleinwirtschaft (wie heute noch in der Kleinbauernwirtschaft) hatte, vollzog sich mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der Kollektivierung des Arbeitsprozesses ein Funktionswechsel der Familie. Ihre unmittelbare ökonomische Basis verlor an Bedeutung, und zwar zunehmend mit dem Grad der Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozeß; was an ökonomischer Basis verlorenging, wurde durch ihre politische Funktion ersetzt. Ihre kardinale Aufgabe, diejenige, um derentwillen sie von konservativer Wissenschaft und konservativem Recht am meisten verteidigt wird, ist ihre Eigenschaft als Fabrik autoritärer Ideologien und konservativer Strukturen.

Sie bildet den Erziehungsapparat, durch den fast ausnahmslos jedes Mitglied der Gesellschaft vom ersten Atemzug an hindurch muß. Nicht nur als Institution autoritärer Art, sondern wie wir gleich sehen werden, kraft der ihr eigenen Struktur beeinflußt sie das Kind im Sinne der konservativen Weltanschauung; sie ist der Mittler zwischen der wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft und deren ideologischem Überbau, sie ist durchtränkt von der konservativen Atmosphäre, die sich notwendigerweise jedem ihrer Mitglieder unauslöschlich einprägt. Sie übermittelt durch ihre Formation und durch direkte Beeinflussung nicht nur allgemeine Einstellungen zur bestehenden Gesellschaftsordnung und konservative Gesinnungsart, sondern nimmt auch insbesondere durch die sexuelle Struktur, der sie entspringt und die sie weiterpflanzt, unmittelbaren Einfluß auf die sexuelle Struktur der Kinder im konservativen Sinne.

Es ist kein Zufall, daß die Einstellung der Jugend für beziehungsweise gegen die herrschende Ordnung bis zu einem sehr hohen Grade in einem proportionalen Verhältnis zu ihrer Einstellung für beziehungsweise gegen die Familie steht. Es ist auch kein Zufall, daß die konservative und die reaktionäre Jugend im großen und ganzen, von abweichenden Einzelfällen abgesehen, familienanhänglich und -erhaltend, die revolutionäre Jugend dagegen familienfeindlich und -zerstörend ist und sich aus dem Familienverband mehr oder weniger vollständig löst.

Das hängt mit der sexualfeindlichen Atmosphäre und Struktur der Familie, mit den Beziehungen der Familienmitglieder zueinander aufs innigste zusammen.

Wir haben demnach, wenn wir die erzieherische Bedeutung der Familie betrachten, zwei Tatbestände gesondert zu untersuchen: den Einfluß der konkreten gesellschaftlichen Ideologien, die sich der Familenerziehung bei der Beeinflussung der Jugend bedienen, und den unmittelbaren Einfluß der "Dreiecksstruktur" selbst.

1. Der Einfluß der gesellschaftlichen Ideologie

Die Familien des Großbürgertums unterscheiden sich von denen des Kleinbürgertums, und diese wieder von denen der Industriearbeiter. Sie alle sind aber der gleichen sexualmoralischen Atmosphäre ausgesetzt, die die spezifische Klassenmoral nicht austilgt, sondern diese bleibt teils widerspruchsvoll neben jener bestehen, teils schließt sie mit ihr Kompromisse.

Der vorherrschende Typus der Familie, der kleinbürgerliche, reicht nun bedeutend weiter als die gesellschaftliche Schicht "Kleinbürgertum", weit hinein bis ins Großbürgertum und noch weiter in die Industriearbeiterschaft. Die Grundlage der kleinbürgerlichen Familie ist die Beziehung des patriarchalischen Vaters zu Frau und Kindern. Er ist sozusagen der Exponent und Vertreter der staatlichen Autorität in der Familie. Er ist wegen des Widerspruchs zwischen seiner Stellung im Produktionsprozeß (Diener) und seiner Familienfunktion (Herr) folgerichtig und typisch eine Feldwebelnatur; er duckt sich nach oben, saugt die herrschenden Anschauungen restlos auf (daher seine Nachahmungstendenz) und er herrscht nach unten; er gibt die obrigkeitlichen und gesellschaftlichen Anschauungen weiter und setzt sie durch.

In sexualideologischer Hinsicht fällt in der kleinbürgerlichen Familie die gesellschaftliche Eheideologie mit dem Kern der Familie überhaupt, der dauermonogamen Ehe, zusammen. So miserabel und trostlos, leidvoll und unerträglich die Ehesituation und Familienkonstellation ist, ideologisch muß sie nach außen sowohl wie nach innen von den Familienmitgliedern verfochten werden. Die gesellschaftliche Notwendigkeit dieses Seins zwingt zum Vertuschen der Misere und zu ideologischem Hochhalten der Familie und Ehe, erzeugt auch die weitverbreitete Familiensentimentalität und die Schlagworte vom 'Familienglück', vom 'trauten Heim', vom 'stillen Ruhepunkt' und vom Glück, das die Familie für die Kinder angeblich bedeutet.

Aus der Tatsache, daß es in unserer Gesellschaft außerhalb der Ehe und Familie noch trostloser aussieht, weil da jeder materielle, rechtliche und ideologische Schutz des Sexuallebens fehlt, schließt man auf die Naturnotwendigkeit der Familieninstitution. Das Verschleiern vor sich selbst und die sentimentalen Schlagworte, welche wichtige Bestandteile der ideologischen Beeinflussungsatmosphäre bilden, sind seelisch notwendig, denn sie unterstützen das Durchhalten und der seelisch unökonomischen Familiensituation. So erklärt es sich, daß die Behandlung von Neurosen so leicht den Familien- und Ehezusammenhang zerstört; sie räumt nämlich mit den Illusionen auf, die Wahrheit tritt unerbittlich zutage.

Erziehung zur Ehe und zur Familie ist das Ziel der Aufzucht der Kinder von Anbeginn. Die Erziehung zum Beruf tritt ja erst viel später hinzu. Die sexualverneinende und -verleugnende Erziehung ist nicht nur von der gesellschaftlichen Atmosphäre diktiert, sondern sie wird notwendig durch die Sexualverdrängung der Erwachsenen. Ohne umfassenden Sexualverzicht ist ein Existieren in der Familienatmosphäre nicht möglich.

In der typischen kleinbürgerlichen Familie nimmt die Beeinflussung des sexuellen Triebapparates bestimmte, für sie spezifische Formen an, welche die individuelle Disposition für "Ehe- und Familiensinn" legen. Es wird nämlich die prägenitale Erotik durch Überbetonung der Eß- und Exkretionsfunktionen fixiert, während die genitale Betätigung restlos unterbunden wird (Onaniebekämpfung). Die genitale Hemmung und die prägenitale Fixierung bedingen eine Verschiebung des sexuellen Interesses ins Sadistische, und die sexuelle Wißbegierde des Kindes wird aktiv unterdrückt. Das gerät in Widerspruch mit der Wohnungslage, der allgemeinen sexuellen Ungeniertheit der Eltern und mit dem unvermeidlich sexuell betonten Milieu in der Familie. Die Kinder nehmen ja doch alle Vorgänge wahr, wenn auch verzerrt und mit falschen Auslegungen durchsetzt.

Die ideologische und erzieherische Hemmung des Sexuellen einerseits, das Mitansehen und Miterleben der intimsten Vorgänge unter den Erwachsenen andererseits setzen im Kinde bereits die Grundlage zur sexuellen Heuchelei. Das ist etwas gemildert in Industriearbeiterfamilien, wo die Betonung der Eß- und Verdauungsfunktion weniger stark ist, die genitalen Betätigungen hingegen stärker besetzt und weniger verboten sind. Die Widersprüche sind daher geringer, die Bahn für die Genitalität ist freier. Das ist durchwegs bedingt durch die wirtschaftliche Daseinsweise der Industriearbeiterfamilie. Steigt ein Industriearbeiter wirtschaftlich auf in die Reihen der Arbeiteraristokratie, so verändert sich dementsprechend auch seine Gesinnung, seine Kinder geraten unter stärkeren Druck von seiten der konservativen Moral.

Während in der kleinbürgerlichen Familie die Sexualunterdrückung sich mehr oder minder vollständig durchsetzt, gerät sie im Industriearbeitermilieu in Widersprüche mit der notwendigerweise geringeren Beaufsichtigung der Kinder, die sich ja meist selbst überlassen sind.

2. Die Dreiecksstruktur

Während die Familie, derart von der ideologischen Atmosphäre der Gesellschaft beeinflußt, auf das Kind einwirkt, ergibt sich aus ihrer Dreiecksstruktur überdies eine für sie spezifische Konstellation des Kindes, ganz in der Richtung der konservativen Tendenzen der Gesellschaft.

Die Freudsche Entdeckung, daß überall, wo diese Dreiecksstruktur besteht, das Kind in ganz bestimmte sexuelle Beziehungen sinnlicher und zärtlicher Art zu seinen Eltern kommt, ist grundlegend für das Verständnis der individuellen sexuellen Entwicklung. Der sogenannte "Ödipus-Komplex" umfaßt alle diese Beziehungen, die in ihrer Quantität, vor allem aber in ihrem Ausgang, von der weiteren Umgebung und von der Struktur der Familie bestimmt werden. Das Kind richtet seine ersten genitalen Liebesregungen (von den prägenitalen sehen wir hier der Einfachheit halber ab) auf die nächsten Personen seiner Umgebung, und das sind meist die Eltern. Typischerweise wird der heterosexuelle Elternteil geliebt und der gleichgeschlechtliche zunächst gehaßt. Gegen diesen werden Eifersuchtsregungen und Haß entwickelt, aber gleichzeitig auch Schuldgefühle und Angst vor ihm. Die Angst betrifft in erster Linie die eigenen genitalen Regungen zum andersgeschlechtlichen Elternteil. Diese Angst, zusammen mit der realen Unmöglichkeit der Befriedigung des Inzestwunsches, bringt diesen mitsamt der genitalen Strebung zur Verdrängung. Aus dieser Verdrängung leiten sich die allermeisten späteren Liebesstörungen ab.

Nun sind aber zwei für die Folgen dieses kindlichen Erlebens kardinale Tatbestände nicht zu übersehen. Erstens käme keine Verdrängung zustande, wenn der Knabe etwa zwar auf seine Mutter verzichten müßte, ihm aber das genitale Spiel mit Altersgenossinnen sowie die Onanie gesellschaftlich gestattet wären. Man gibt nicht gern zu, daß solche sexuellen Spiele ("Doktorspiele" usw.) immer stattfinden, wo Kinder mit anderen länger beisammen sind; sie erfolgen allerdings mit klarem Wissen um das Verpönte dieses Tuns, daher mit Schuldgefühlen und schädigenden Fixierungen an diese Spiele. Das Kind, das solche Spiele, wenn es Gelegenheit dazu hat, nicht wagt, ist sicherer Kandidat einer schweren Beeinträchtigung seines späteren Sexuallebens, es entspricht aber den Prinzipien der Familienerziehung. Über die Versuche, solche Feststellungen als Produkte verderbter Phantasie abzutun, wird sich die Geschichte glatt hinwegsetzen. Man wird nicht lange diese Tatsachen verleugnen und den Konsequenzen, die sie aufzwingen, ausweichen können. Freilich, die offizielle gesellschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen wird nicht und so lange nicht erfolgen, wie die Familienerziehung innerhalb der autoritären Gesellschaft wirtschaftlich und politisch verankert ist.

Die Verdrängung der frühen sexuellen Regungen wird qualitativ und quantitativ entscheidend von der sexuellen Denkungsart der Eltern bestimmt. Es hängt viel davon ab, ob sie mit mehr oder weniger Strenge erfolgt, ob sie die Onanie mitbetrifft oder nicht, u.a.m.

Daß das Kind gerade im kritischen Alter zwischen dem vierten und dem sechsten Lebensjahr seine Genitalität im Elternhaus erlebt, zwingt ihm eine bestimmte, eben für die Familienerziehung spezifische Lösung auf. Ein Kind, das vom dritten Lebensjahre an in Gemeinschaft mit anderen Kindern und unbeeinflußt von der Elternbindung erzogen wäre, würde seine Sexualität ganz anders entwickeln, in Formen, die hier nicht zur Diskussion kommen können. Man darf auch die Tatsache nicht unterschätzen, daß die Familienerziehung praktisch individualistisch ist, den günstigen Einfluß eines Kinderkollektivs ausschließt, auch dann, wenn das Kind täglich einige Stunden in einem Kindergarten verbringt. Die Familienideologie beeinflußt praktisch weit mehr den Kindergarten als dieser die Familienerziehung.

Das Kind ist also in die Familie hineingezwängt und bringt daher eine Fixierung an die Eltern in sexueller und autoritativer Hinsicht zustande. Es wird schon zufolge seiner physischen Kleinheit von der elterlichen Autorität erdrückt, möge diese nun streng sein oder nicht. Die autoritative Bindung überwuchert bald die sexuelle, drängt sie in den Zustand der unbewußten Existenz und steht später, wenn die sexuellen Interessen sich der außerfamiliären Welt zuwenden sollen, als mächtiger hemmender Block zwischen Sexualinteresse und Wirklichkeit. Gerade weil die autoritative Bindung selbst zu einem großen Teil unbewußt wird, entzieht sie sich der bewußten Beeinflussung.

Es hat wenig zu sagen, wenn die unbewußte Bindung an die elterliche Autorität oft als Gegenteil, als neurotisches Revoltieren zum Ausdruck kommt; es vermag die sexuellen Interessen dennoch nicht zur Entfaltung zu bringen, es sei denn in Form triebhafter und unbeherrschter sexueller Aktionen, als krankhafte Kompromisse zwischen Sexualität und Schuldgefühl. Die spätere Lösung dieser Bindung an die Eltern ist die Voraussetzung eines gesunden Sexuallebens. Sie gelingt heute in der Minderzahl.

Die Elternbindung, sowohl die sexuelle Gebundenheit wie die Unterordnung unter die Autorität des Vaters, erschwert in der Pubertät den Schritt in die sexuelle und soziale Realität, wo sie ihn nicht völlig unmöglich macht. Das kleinbürgerliche Ideal des braven Sohnes und der braven Haustochter, die noch bis ins reife Alter in der kindlichen Situation stecken, ist das extreme Gegenteil der freien, selbständigen Jugend.

Ein weiteres Kennzeichen der Familienerziehung ist, daß die Eltern, im besonderen die Mutter, sofern sie nicht gezwungen ist, ihren Lebensunterhalt außerhalb des Hauses zu verdienen, in ihren Kindern bald immer mehr den Inhalt ihres Lebens suchen - und zu deren Nachteil auch finden, daß die Kinder dabei die Rolle von Haushunden spielen, die man lieben, aber auch beliebig quälen kann, daß die affektive Einstellung der Eltern sie völlig ungeeignet zur Erziehung macht, das sind allzu abgeleierte Tatsachen, als daß wir uns hier ausführlicher mit ihnen beschäftigen müßten.

Was an Ehemisere in den ehelichen Konflikten nicht direkt ausgelebt werden kann, ergießt sich auf die Kinder. Das setzt neuerliche Schädigungen ihrer Selbständigkeit und sexuellen Struktur, schafft aber auch einen neuerlichen Widerspruch: den zwischen dem Miterlebthaben der elterlichen Ehe, daher Ehegegnerschaft, und dem späteren wirtschaftlichen Zwang zu heiraten. In der Pubertät spielen sich gerade dann Tragödien ab, wenn die Jugendlichen sich glücklich aus den Schädigungen der kindlichen Sexualerziehung gerettet haben und nunmehr auch die puberilen Fesseln der Familie abstreifen wollen.

Die Sexualeinschränkung, die die Erwachsenen auf sich nehmen mußten, um das eheliche und familiäre Dasein ertragen zu können, pflanzen sie auf ihre Kinder fort. Und da diese später aus wirtschaftlichen Gründen in die familiäre Situation zurücksinken müssen, setzt sich die Sexualeinschränkung von Generation zu Generation fort.

Da die Zwangsfamilie ökonomisch mit der autoritären Gesellschaft verwachsen ist, heißt es völlig blind den Tatsachen und Zusammenhängen gegenüberstehen, wenn man ihre Wirkungen innerhalb dieser Gesellschaft auszurotten hofft. Diese Wirkungen liegen ja in der Situation der Familie selbst und sind durch die unbewußten Mechanismen der Triebstruktur in den einzelnen Individuen unausrottbar verankert.

Zur direkten Sexualhemmung, die aus dem Verhältnis zu den Eltern resultiert, addieren sich die Schuldgefühle aus dem maßlosen Haß, welcher sich in den Kindern in der jahrelangen familiären Situation aufspeicherte. Bleibt dieser Haß bewußt, so kann er zu einer mächtigen individuellen revolutionären Triebkraft werden; er wird der Motor der Lösung aus dem Familienverband und kann sich dann leicht auf die rationellen Ziele des Kampfes gegen diejenigen Zustände übertragen, die diesen Haß verursachten.

Wird aber der Haß verdrängt, so entwickeln sich aus ihm die entgegengesetzten Regungen der treuen Anhänglichkeit und des kindlichen Gehorsams, welche sicher zu Bleigewichten werden, wenn rationelle Gründe den Betreffenden später zur freiheitlichen Bewegung bringen. Man begegnet dann dem Typus, der vielleicht sogar für die vollständige Freiheit ist, aber seinen Kindern Religionsunterricht erteilen läßt und selber aus der Kirche nicht austritt, obwohl es seiner Überzeugung widerspricht, weil er "so etwas seinen alten Eltern nicht antun" kann. Man beobachtet an ihm aber auch Züge des Zauderns und Zögerns, Unentschlossenheit, Gebundenheit durch Rücksichten auf die Familie usw. Er ist sicher nicht der Typus des Vorkämpfers für Freiheit.

Aus der gleichen familiären Situation kann aber auch der "Revolutionär aus neurotischen Gründen" entstehen. Er ist sehr häufig bei kleinbürgerlichen Intellektuellen. Das sagt natürlich über seinen Wert als Revolutionär nichts aus. Aber die Verbundenheit mit Schuldgefühlen macht die so strukturierte revolutionäre Persönlichkeit zu einer problematischen Angelegenheit.

Die familiäre Sexualerziehung muß ihrem Wesen nach Schädigungen des Sexuallebens beim einzelnen setzen. Gelingt es dem einen oder anderen doch, sich zu einem gesunden Sexualleben durchzuringen, so geschieht es gewöhnlich auf Kosten seiner familiären Bindungen.

Die Unterdrückung der sexuellen Bedürfnisse wirkt sich darüber hinaus in einer allgemeinen Schwächung der geistigen und gefühlsmäßigen Funktionen aus, vor allem der Selbstsicherheit, der Willensstärke und der Kritikfähigkeit. Der autoritären Gesellschaftsordnung kommt es nicht auf die "Moral an sich" an. Die Veränderungen im psychischen Organismus, die der Verankerung der Sexualmoral zuzuschreiben sind, schaffen erst diejenige seelische Struktur, die die massenpsychologische Basis jeder autoritären Gesellschaftsordnung bildet. Die Untertanenstruktur ist ein Gemisch aus sexueller Impotenz, Hilflosigkeit, Anlehnungsbedürftigkeit, Führersehnsucht, Autoritätsfurcht, Lebensängstlichkeit und Mystizismus. Sie kennzeichnet sich durch Neigung zum Rebellentum und durch Hörigkeit gleichzeitig. Die Sexualscheu und Sexualheuchelei bilden den Kern dessen, was man Spießertum nennt. Derartig strukturierte Menschen sind demokratieunfähig. An ihren Strukturen zerbrechen die Versuche, echt demokratisch geleitete Organisationen aufzubauen oder zu erhalten. Sie bilden den massenpsychologischen Boden, auf dem sich die diktatorischen Gelüste und bürokratischen Neigungen der demokratisch gewählten Führer entwickeln können.

Die politische Funktion der Familie ist also eine doppelte:

  1. Sie reproduziert sich selbst, indem sie die Menschen sexuell verkrüppelt; indem sich die patriarchalische Familie erhält, konserviert sich auch die Sexualunterdrückung mit ihren Folgen: Sexualstörungen, Neurosen, Geisteskrankheiten, Sexualverbrechen.
  2. Sie erzeugt den autoritätsfürchtigen, lebensängstlichen Untertanen und schafft derart immer neu die Möglichkeit, daß Massen durch eine Handvoll Machthabender beherrscht werden können.

So gewinnt die Familie für den Konservativen ihre besondere Bedeutung als Bollwerk der von ihm bejahten Gesellschaftsordnung. Daher kommt es auch, daß sie in der konservativen Sexualwissenschaft eine der am schärfsten verteidigten Positionen ist. Denn sie ist "staats- und volkserhaltend" - im reaktionären Sinn. Die Bewertung der Familie darf uns daher als Maßstab für die Beurteilung der allgemeinen Natur gesellschaftlicher Ordnungen dienen.

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