zurück

GELSENKIRCHEN, 3. FEBRUAR-WOCHE 1999

Erschlägt Hitler die Geschichte?
CARL AMERY ZIEHT BILANZ

Ein Kommentar von DIETMAR KESTEN

02/99
trdbook.gif (1270 Byte)
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel:
kamue@partisan.net
ODER per Snail:
Anti-Quariat
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin
HITLER Bücher gibt es nun wahrlich genug. Immer wieder werden neue Forschungsergebnisse veröffentlicht, die eingebunden sind in den Kontext der WEIMARER REPUBLIK, des aufziehenden Nationalsozialismus, der Eugenetik und des Genozids, ohne die Faschismus und Krieg nicht zu verstehen wären. (1) Kaum bestreitbar ist, daß sie sich alle in irgendeiner Weise verdient gemacht haben, schon alleine deswegen, weil sie versuchen, von dem Grauen - obwohl man es nicht kann - Abstand zu nehmen, und nur die reinen Fakten sprechen zu lassen. Ob sie nun immer mit aufklärerischem Anspruch geschrieben wurden, mag dahingestellt sein, und ob die reine Faktenflut dazu beigetragen hat, und beitragen wird, die Welthistorie des 20. Jahrhunderts mit HITLER bestandsmäßig einzuordnen, sie sozusagen zu vergegenwärtigen, und diese gerade mit dem deutschen Desaster letztlich abschließend zu klären, gehört in den Bereich der Mythen und Legenden- bildung. Jedenfalls wird das 21. Jahrhundert noch eine Menge über HITLERs Skandalchronik nachzutragen haben, wenn nicht sogar vieles neu formulieren müssen!

Auf der historischen Ebene ist die Zeit der "furchtbaren Anarchie" jedenfalls immer ein Untersuchungsgegenstand geblieben, der bis in die heutigen Tage hinein als ein "klassischer Abschnitt" Deutscher Geschichte behandelt wird. Kein renommierter Neuzeitgeschichtler, der nicht meint, zu HITLER Stellung beziehen zu müssen, um den Volk ihre einstige Blindheit vor Augen zu halten. (2) HITLER, die gespaltene Persönlichkeit, scheint mit Glanz und Tragik die Aha- Reaktionen hervorzurufen, die bestens in die Stadien der verschiedenen Abschnitte seines Lebens passen: "Erleuchtung", Konsolidierung seiner Macht, bewußte Vorbereitung eines Angriffskrieges, seine Verbrechen, die unverrückbare Bestandteile der häßlichen Grimasse der auf Blut und Boden ausgerichteten Politik sind. Sie rufen die Erinnerung wach, das Versklavung und Ausrottung, jüdische "Weltverschwörung" und Antisemitismus nicht nur ein Fehltritt der Geschichte war, sondern von Anfang an den Zusammenhang von Großmachtstreben und Deutschtum, Lebensraum und Intervention, Militarismus und Verbrechen an anderen Völkern beinhaltete.

Wer sich bisher über ihn kurz und knapp informieren, wer ihn in seiner Zeit verstehen wollte, ohne in ein tiefes geistiges Klima eintauchen zu wollen, ohne zig Bücher über die WEIMARER REPUBLIK und den Faschismus gelesen zu haben, aber dann doch mit einem dementsprechenden Niveau im Verhältnis zum Erkenntnisgegenstand, der sich aus der Schimäre des "Ausrutschers" in der Deutschen Geschichte herauslösen ließ, tat dies bisher in der Regel immer mit einem der sog. "Standardwerke", nämlich z.B. mit den "Anmerkungen zu Hitler" des jüngst verstorbenen SEBASTIAN HAFFNER. (3) Nun hat CARL AMERY (4) ein weiteres HITLER Buch vorgelegt; eines von vielen, an Auflagen interessiertes, von Voreingenommenheiten nur so strotzendes, geprägtes Historikermachwerk, oder vielleicht nur ein maßstabvergrößertes? Nein, AMERY hat HITLER - mit Verlaub gesagt - in ein Essay untergebracht; in eins, das es in sich hat. "Hitler als Vorläufer" lautet im Untertitel: "Ausschwitz der Be- ginn des 21. Jahrhunderts"?

Darin ist all das ausgesagt, was den Leser von der ersten bis zur letzten Seite begleitet: Der Rückblick auf das 19. Jahrhundert, ohne das der spätere Triumphhall nach dem Reichstagsbrand nicht zu verstehen gewesen wäre; der geschichtliche Dunstkreis des Preußentums, nationalen Größenwahn und Scheitern der WEIMARER REPUBLIK; die Ideen, die ideologischen Denkmuster, schlicht der Zeitgeist des "Fortschrittszeitalters", das er einbettet in die Metaphysik und die Blendung des bürgerlichen Denkens; den zutiefst pessimistischen, destruktiven Irrationalismus des Sozialdarwinismus und dieser kollektiven Amnesie, die sich in der "Kontrolle des Geistes" und der politischen Unvernunft niederschlagen sollte: Das "Programm" der Eugenetik, des Genozids; des Rasssismus, des Kriegstotalitarismus, und ein Versuch seiner Erklärung aus der damaligen - allerdings immer noch weitgehend ungeklärten - eigentümlichen Mischung von militantem Geschrei und Untergangsstimmung, die der bürgerliche Staat seit dem Eintritt in seine imperialistische Phase ständig reflektierte, die dunkle Seite des Bürgertums, die mit den Judenwitzen begann und in Treblinka, Belsen und Ausschwitz endete.

Reine Erzählgeschichten aus der Vergangenheit gibt es nach AMERY nicht; das Herumjonglieren mit Metaphern und Analogien der (neu-)heidnischen Barbaren, die sich aller politischen Klischeevorstellungen der Herrenrasse und der Kultstätten der Selektion bedienten, die im Verteidigungsmechanismus der "Hitlerformel" (5) und seiner Geopolitik Anwendung fanden; die Wiederaufnahme der Gewaltpolitik und der mittelalterliche Expansionsgedanke nach Osten (Globalisierung) - "von der Maas bis an die Memel (und) der Etsch bis an den Belt"-, sind jene rassistischen Grundlagen, die sich nicht nur aus der viel tieferen Geschichte Deutschland ableiten lassen, son- dern im gesamten ideologischen Überbau des Kulturbetriebs gelegt waren, der Lehre und Forschung, und schließlich in der Auffächerung des Alltagsbewußtseins des Volkes; der Präsentation des ökologischen HITLER- Nazismus, (6) woraus sich die Frage eines Überlebenskampfes in einer Welt ohne die notwendigen Ressourcen unabdingbar stellte. HITLER hat die kommende Antwort vorweggenommen: Der Sturz in die Barbarei, die Reduzierung der Geschichte auf reine Naturgeschichte, das Dritte Reich als Vorbote einer Antwort auf die Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts; (7) das "Planet-Management", (Globalisierung der HITLER Formel, die sich mit zunehmender Krisenerfahrung und Erkenntnisse darüber aufdrängt); schließlich der Versuch einer Beschreibung der Kulminationspunkte der gewaltsam aufbrechenden Widersprüche von Modernisierung (Arbeitsgesellschaft), dem Widersinn kapitalistischer Ökonomie, und das Nachsinnen über die Weltgefahr des ORWELLschen-Gedankenpolizisten. Mit anderen Worten: AMERYs Blick gilt über weite Strecken seines Essays der Verleumdung und Verfolgung ethnischer Minderheiten, speziell der Juden, aber nicht nur ihnen; er versucht den Einbruch von Mittelalter und Barbarei aus der weiträumigen Geschichte des Abendlandes heraus zu fassen, parallel zur Entfaltung des In-dustriekapitalismus; denn erst hier gewann der Antisemitismus die spätere "Qualität" einer Weltanschauungsidee. Das allerdings nicht nur aus den gesellschaftlichen Widersprüchen heraus zu erklä- ren, sondern auch aus dem Gesamtverlauf der Weltgeschichte (ein Gedanke, den HITLER entwarf, oder vorgab zu entwerfen), die sich schließlich m.E. in den "Utopien" einer "judenfreien", "judenreinen" und damit "arischen" Staates widerspiegeln sollten, ist ein sehr gelungener, origineller Impuls, der zeigt, daß die Theoretiker, Verfechter und deren Gefolgschaften in der Moderne, weder über ein waches Krisenbewußtsein, noch über tatsächliche theoretische Möglichkeiten verfügten, den HITLER-Staat in den ideologischen Boden des Aufstiegs des Faschismus seit den zwanziger Jahren einzuordnen, der zum wahren Erbe irrationalistischer Philosophien und Ideologien werden sollte.

Der Fortschrittsgedanke des 19. Jahrhunderts, der sich seines irrationalistischen Gegenpols bediente, nämlich des Positivismus und in dieser Gläubigkeit seine Hei- mat fand, mußte einerseits geschichtlich liquidiert werden. An seine Stelle trat der mystische Analogismus; ein überdeutliches "Unbehagen in der Kultur". Andererseits konnte sich die antisemitische-rassistische Weltdeutung des 19. Jahrhunderts vordergründig auf epochemachende Erkenntnisse in der Biologie berufen, namentlich auf DARWINs berühmte Abstammungslehre der Mutation und speziell der Selektion. Der Bauplan dieser Theorie wurzelte jedoch in dem Bedürfnis nach einer "monistischen", die Dialektik von erster und zweiter Natur des Menschen aufhebenden Ideologie. Wie dieses Bedürfnis entstand, kann AMERY indes nicht erklären, will er vielleicht auch nicht; denn weder Tiefenpsychologie noch manipulationstheoretische Ansätze im Sinne eines GUSTAV Le BON (8) etwa, können verdeutlichen, warum die Verschwörung der "Kanonenkönige" und der pluto-demokratischen Kriegshetzer, der Figuren mit Verfolgungswahn, der verhutzelten Männer mit Tweedjacketts, sich immer wieder auf"s neue dazu verlocken ließen und lassen, die eigenen tragischen Irrtümer zu wiederholen, und warum konkrete Massenhysterien (Krisensituationen) von ausnahmslos allen Bevölkerungsschichten mit schlechthin irrationalen Interpretationen und Handlungskonzepten beantwortet werden? Daher ist es nach AMERY immer wieder notwendig, die schmerzliche Lektion der dreißiger Jahre aufzufrischen.

Freilich kann die innere Logik dieser Deutung sich nicht mehr an der berühmten "Dialektik der Aufklärung" (9) messen lassen, auf einen verkürzten Aufklärungsbegriff des beliebig interpretierbaren "Lebendigen und Organischen" gegenüber dem "Toten und Künstlich-Kulturellen" entsprechend. Der "Sieg der Volksaufklärer", (10) der Philosophen, der Ortlosen, bezog seine ambi-valente Partnerschaft nun nicht immer aus dem schwarzen Fühlen und Denken, son- dern augenfällig auch aus einer Ver(w)irrung des traumatischen Schocks der reifgewordenen Weltmarktmodernität, die begann nicht nur die eigene Biosphäre zu ruinieren, sondern ganze Volkswirtschaften, die vom sich verselbständigten Produktionsprozeß der Kapitalverwertung in den Strudel des Abgrunds gerissen wurde, und daß mit Beginn der deutschen Expansion gegen Polen (11) der totale Krieg als physische Existenzbedrohende Analogie auch den eigenen Totengräber jederzeit auslöschen konnte. Der politisch/pathologische "Wille" von Millionen, die zu "Idealisten" wurden und in den Krieg zogen, der Schritt nach rückwärts zum primitiven Götzendienst an der Waffe und Totem-Anbetung in den Schützengräben ist zugleich etwas, was ständig neu perver-tiert/e, das Streben in der Verehrung der einen "Partei", des einen "Willen", der einen "Idee" und des einen "ursprünglichen Zwecks", Siege und Niederlagen gleichermaßen im "großen Plan" (12) umzusetzen, um die "Seelenlage der anständigen Mehrheit" (13) auf den Krieg auszulegen.

Da gibt es kein Blendwerk mehr, wenn sich AMERY HITLERs "Dämonenwerk", (14) seiner einfachen (politischen) Religiosität zuwendet, der Verehrung im Heldenmythos, der Militärgeistlichkeit. Die Dämonisierung HITLERs entwickelte sich zwischen 1930 und 1940 schnell zu einem Glaubensartikel. Vergleicht man die Auflagen des "Volksbuches" (Mein Kampf), dann wird einem schlaglichtartig klar, warum es weder einen ausgereiften theoretisch- ideologischen "Oppositionsblock" auf der Höhe der Zeit gab, noch gesellschaftliche Gruppen, die tatsächlich die Modernität begriffen: Bis zur Herausgabe der ersten einbändigen "Volksausgabe" 1930 sollen 23.000 Exemplare des ersten Bandes und 13.000 des zweiten Bandes verkauft worden sein, danach bis bis zum Machtantritt HITLERs am 30. Januar 1933 rund 287.000 Exemplare; Ende 1933: 1. 500.000; 1935: 2. 127. 000; 1937: 3.477.000; 1938: 4. 000.000; 1939: 5. 000.000; 1940: 6.000.000; 1942: 7.000.000; die 815.-820- Auflage (1943) soll bis zu 9. 840. 000 mal verkauft worden sein; bis Ende 1945 waren ca. 10.000.000 Exemplare verkauft worden. (15) HITLERs politisches Überleben, seine Kämpfe gegen den "inneren Feind" (vgl. RÖHM-Affäre), seine Polemiken, Siege und Niederlagen (wie sie HAFFNER vortrefflich beschreibt), waren Stürme im Wasserglas und beschränkten sich u. a. auch auf den ihn unmittelbar umgebenen Kreis, der ohne gegenseitige Beschuldigungen nicht auszukommen schien und doch kraft eines einzigen dialektischen Klebstoffs zusammengehalten wurde; der Kampf gegen den Antisemitismus, gegen die "Niedermenschen", für die "Hochmenschen" .(16)

Es kann historisch möglich sein, daß sich die "restlose Unterwerfung unter den "völkischen Willen" (17) bis weit hinter die Krise des Kaiserreiches zurückführen läßt, in der vor allem die Mittelstände und Kleinkapitalisten der ökonomischen Zwangsmanie unterlagen, sich nicht entscheiden zu können, oder nicht zu wollen. Offensichtlch bestand gerade in dieser Zeit (1873 - ca. 1900) eine gesteigerte Be- reitschaft, zur undialektisch, mehr dualistischen Sicht der realen Problematiken. Aus der greifbaren Gefährdung der eigenen Existenz (der ökonomischen und der individualisierten) wurde auf eine überwiegend geheimnisvollen, und latent verborgenen-operie-renden Macht geschlossen. Dieser "Schattenmann" ließ sich ebensowenig erklären, wie das Bild des Juden, dem man nun alles anlastete und ihn mit dieser Unerklärlichkeit seines Auftretens in Verbindung brachte, mit all dem, was mit Angst, Vergiftung des kulturellen Klimas, Zunahme von Neurosen, Hungersnöte, Kriege, Gefühle der Unsicherheit, Enttäuschungen, Zustände der Unbefriedigtheit und Niederlagen zu tun hatte. Vor AMERY hatte GOLDHAGEN (18) schon versucht, sich mit der Frage des tiefverwurzelten Antisemitismus in der "deutschen Seele" zu beschäftigen, und er stieß zu einer der ungeklärtesten Fragen Deutscher Geschicht empor: Wie konnte es geschehen, daß sich ein (politischer) Antisemitismus über Jahrhunderte hielt und im großen "Show Down" endete? Wenn "Hitler als Vorläufer" nun die "diabolische Täuschung" (19) enthüllt, und auf die Überwindung der Naturgesetzlichkeit, die das Rassenniveau kontemplativ enthielt verweist, auf den "marxistischen-Judengeistes", (20) der "Verführung mit den ewigen Gesetzen der Natur seit Jahrtausenden", (21) die sich wie ein Geschwür durch Lebensraumtheorie und Barbarei zieht, dann sind das für die Zukunft sehr wertvolle Gedankengänge, die er anbietet. Es war eben nicht nur der deutsche sektiererische Typus, der eine schon fast in- zestuöse Neigung zum Juden hatte, auch die internationale Amarda, die den pseu-dowissenschaftlichen Deutschwahn "verinnerlichte", tat ihr Bestes, um dem modernen Antisemitismus zu huldigen. Z. B. stellte der französische Graf HENRI de GOBINEAU (22) die antifeudalistische Revolution von 1789 als pures Semitenwerk hin; und die Habsburger Monarchie, das feudale und ländlich geprägte Österreich des 18. Jahrhunderts ließ die Juden aus Wien hinauswerfen; die österreichische Wirtschaftskrise ab 1873 wurde den Juden angelastet, und eben nicht den ROTHSCHILDs, die dazu beitrugen, daß durch abenteuerliche Spekulationen und zweifelhafte Geschäfte die wirtschaftliche Ruinierung und die Finanzskandale um sich griffen usw. Die Suche nach der "mystischen Größe" wurde um so mehr faßbarer, je mehr sich Literaten, Schrifsteller, Hochschullehrer, kurz; die gesamte Kulturproduktion des politisch-kulturellen Überbaus mit der "hiflos-gefühlsmäßigen" Frage nach dem eigentlichen Verursacher deutscher und internationaler Misere beschäftigen. War es in Österreich VOGELSANG, (23) so enthüllte auch ein gewisser WILHELM MARR (auf den evtl. die Prägung des Begrifs "Antisemitismus zurückgeht), in seiner heuch- lerischen Schrift "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" (1873) angebliche semitische Pläne zur Zersetzung deutscher Kultur und Eroberung der Weltherrschaft; und der protestantische Prediger ADOLF STOECKER meinte 1878, daß das Judentums die fortschreitende Kapitalkonzentration beeinflußte und es zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor, dem Einhalt geboten werden müsse, heranwachse. Der genetische "Irrwuchs" machte selbst vor EUGEN DÜHRING (24) nicht halt, der die Juden als "unschöpferische Rasse", die sich "parasitär" verhalte, bezeichnete. Dieser systematische Sturm auf das Leben der Juden schufen mit die Bedingungen, die HITLER brauchte, um "innere Konsolidierung" zu erreiche, (AMERY nennt sie den ökologischen Faktor), die Verbesserung der Infrakstruktur( Ernährung, landwirtschaft-liche Ertragssteigerung, Kultivierung von Mooren) etc., (25) um dann im "Kampf ums Dasein", den "neuen Boden" (26) gewaltsam zu rekrutieren. Das belegt seine These der "rassistischen Prämisse" und schlußendlich, daß HITLER das Herrenvolk "als Imperator der Pax Germanica als über dem Erdkreis thronend" (27) verstand.

Der Staat wurde selbst im Überbau als reibungslos funktionierender Organismus begriffen - bis die Juden kamen (obwohl sie schon längst ein gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Faktor waren). Die äußere Krankheitsquelle, die auch den damaligen biologisch-medizinischen "Forschungsergebnissen" entsprach, mußte beseitigt werden. Die Erreger und die Schadstoffe, die in jede Körperöffnung und Ritze eindrangen, waren wie ein Krankheitskeim, der sich auszubreiten drohte (HITLERs Programm der Eugenetik); und anstatt von Prosperität und kapitalistischer Krise zu reden, sprach man von einer "Zunahme des minderwertigen Erbguts". (28) Folgerichtig konnte die Heilung, der Weg zur Regulierung, der Behebung der Knappheit nur im "Deutschland ist bereit" (29) gipfeln, in der Eliminierung, der Abtötung der "jüdischen Bazillus". (30) Die Judenpolitik der Nationalsozialisten war bis zum HOLOCAUST logisch bereits im Antisemitismus der Wilhelminischen Zeit und darüber hinaus angelegt (Popularität des Antisemitismus) und wenn HITLER in "Mein Kampf" (den AMERY immer neu faßt, quasi als neu zu lesende Lektüre begreift) von "Eiterherden", "Furunkeln", "Madenbe- fall" sprach, die sich in der Gesellschaft breit machen, so darf man darin nicht nur die schwarze Metapher des Irrationalen sehen: Diese wortgewaltigen Bilder sind in der Buchstäblichkeit einer ganzen Epoche des Analogiedenkens angelegt, die sich monströs selbst in der späteren "Volksmedizin", der Praxis der "Entseuchung" durch millionenfachen Mord wiederfinden.

Eine Retrospektive muß gerade den Jahren um 1900 gelten; denn hier erhielt der irrationale Judenhaß der kommenden Jahrzehnte seinen Antipoden, den pseudowissenschaftlichen Deutschwahn, das (T)Deutschtum: Unter dem Namen "Arisophie" breitete sich in rechtsradikalen Kreisen eine Lehre aus, die das Bild des "gesunden Volksorganismus" rassengeschichtlich" untermauerte. Den Begriff "Arier" hatte Mitte des 19. Jahrhunderts FRIEDRICH MAX MÜLLER geprägt, um dadurch eine einheitlich-gängige Bezeichnung für die Völker der indogermanischen Sprachgruppe zu schaffen. Erst in der Vermengung mit theosophischer Kosmologie und Weltgeschichtsenträtselung entstand in Frankreich der "Arier-Mythos", den vermutlich F. HARTMANN in die deutsche rechte Szene einbrachte. Kräfte wie LANZ trugen dazu bei, der antisemitischen Weltdeutung ein nicht minder irreales Gegenstück anzufügen: Die Legende eines vorzeitlichen Paradieses, wo gottgleiche Blondschöpfer mit sich und der Natur im Reinen waren. Nach WALTER BENJAMIN handelte es sich hierbei um einen "Tigersprung" in eine prähistorische Vergangenheit, und schloß philosophisch betrachtet, schon die rigoro- se Bestialität späterer Rassentrennungs- und "Rassenhochzucht"-Maßnahmen in sich; die Phantasie der "organisch" geordneten Vorwelt war gleichbedeutend mit der Ver- heißung einer erneuten "arischen" Hochblüte für den Fall, daß der gesellschaftliche "Organismus" alle Fremdkörper ausschiede und zu seiner "ursprünglichen Reinheit" zurückfände. Märchen für Erwachsene, wie der Atlantis-Mythos, die Welteisenlehre, die spätere "Orgon-Theorie" eines WILHELM REICH etc. sind nur vor diesem Hintergrund ver- ständlich.

AMERY hat mit Sicherheit diese Pseudo-Anthropologie, das Hervorstechen der antisemitischen Ideologie, die "Ariosophen", den Deutschnationalismus und seine Idealvorstellung einer "organischen Staatsharmonie" , HITLERs "Wille" der kosmisch verkappten religiösen Elementargewalten, die sich um so eher Bahn brechen werden, wenn man den Rapport mit der "Natur" sucht und die "Uneigentlichkeit der maschinenbeherrschten Städte hinter sich läßt, im Blickfeld; wenn er konzidiert: "Es ist schwierig bis unmöglich, die komplexe Schichtung der Gefühle zu erforschen, welche die große Mehrheit damals beseelte...Irgendwie, so schien es, war eine neue Zeit ange- brochen, war ein frischer Wind übers Land gekommen. Irgendwie, so fühlten die einen, würden sich die häßlichen Züge des Regimes verlieren...Irgendwie, so fühlten andere, würde sich die neue Zeit als Erfüllung dessen zeigen, was die Jugendbe- wegung, was die Naturschützer, was die Barden des gesunden Volkstums angestrebt hatten und anstrebten.

Irgendwann, so hofften die meisten, würden die Rabauken, die wild gewordenen Lumpenproletarier und Kleinbürger mit den Braunhemden, schon wieder auf den demütigen Platz in der sozialen Ordnung zurückgescheucht werden, der ihnen zustand." (31) In diesem Punkt berührten sich allerdings stark die "Völkischen" mit der Lebensform- und Jugendbewegung der Jahrhundertwende, die zahlreiche Parallelen zu den alten Grün/Alternativen, den heutigen irrationalen Strömungen der Sekten, der Esoteriker, der Seelenwanderungen und Naturmystik aufweisen. Und die Art des damaligen Naturzuspruchs - die Durchwanderung der jungfräulichen Landschaft, gärtnern, sich gesund ernähren (was in der Regel vegetarisch hieß), FKK-Ansätze - war eben nicht harmlos; denn in diese Form hatte die Freude an der Natur auch ihre deutliche Nachtseite.

Der narzißzistische Stolz auf die eigene "schöne Seele", und womöglich sogar auf die eigenen (gesunden) Gene war in der Tat Rassenmythologie; und nicht selten verbarg sich hinter der emphatischen Naturgesinnigkeit jene unterschwellige Zersetzungs- und Unterwanderungsangst, die auch dem zeitgenössischen Antisemitismus zugrunde lag. Und da wo HITLER den offenen Judenhaß, die "germanische Trennung" von dieser Rasse forderte, fand die "Lebensform-Bewegung" die Wahrung der "arischen" Rassenrein- heit auf dem freien Lande, fernab der städtischen "Bastardisierung". Eben diese Deutung HITLERs und seine zunehmende Militanz in der Judenfrage ist es, die AMERY als seriösen Kenner der Materie mit Sachverstands ausweist. Die "Nachtseite" des (T)Deutschtums (32), die Quasi-Religiosität im Sinne der "Arisophie" und des Antisemitismus, gepaar mit einem deutschnationalen Chauvinismus, der die territorialen Forderungen einschloß (Geopolitik/Kampf um mehr Lebensraum; Behebung der verminderten Ressourcen, Eugentik, Euthanasie, Versklavung, Geno- zid etc.) war die schizoide Wirklichkeitsentrückung dieser zweipoligen Weltanschauung, die sich wie ein roter Faden durch HITLERs "Mein Kampf" zieht. Dies war auch die Nahtseite, an der sich die obskurantische Iodeologie und die rechtsradikalen Vertreter der "traditionellen Eliten" berührten.

Die drei letzten Kapitel von "Hitler als Vorläufer" - "Rückstände oder Er bleibt populär"; (33) "Planet-Management oder Die Globalisierung der Hitlerformel"; (34) und "Der große blinde Fleck" (35) gehören mit zu den aufrührendsten Kapiteln, da sie die WEIMARER HITLER-Geschichte als perspektvisch für die Zkunft behandeln; man kann sie mit den Worten beschreiben: "Der Mystiker ist nicht tot" ! AMERY bietet hier Kostproben des aktuellen Irrsinns der Moderne, die bei weitem ORWELL, HUXLEY oder ERDMANN in den Schatten stellen. Diese Krisenerfahrung (und er meint nicht nur die der WEIMARER REPUBLIK), sondern gerade die aktuellen des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des kommenden 21. Jahrhunderts, muß die Erkenntnis aufdrängen, daß es nicht (und wahrschein- lich nie mehr!) "für alle reicht." (36) Unsere erste Frage lautet also: Ist eine "Hitler-Krise" im einundzwanzigsten Jahrhundert möglich oder wahrscheinlich? Ja." (37) Für AMERY gibt es keine Entwarnung! Es geht nicht nur um ein allseits geopolitisches Knappheitsszenario (welches kommende ökonomische Krisen einschließen); der politischen Verwerfung der Menschen, der "selektiven" Lösungen, der Verschlimmerung des Elends, das endlose Grauen der postkatastrophalen Gesellschaften, des globalen Vernichtungs- und Verteilungskampfes, es geht auch um das Ende des Privaten.  Die brutale Modernisierung der technizistischen Geschichte der Menschheit wirft das Menetekel an die Wand: "Auf den ersten Blick ist zu sehen, daß die biosphärische Krise gleichzeitig (vermutlich vorrangig) eine Kulturkrise ist. Die Art und Weise, wie wir mit der Welt umgehen, verschärft und beschleunigt sie zumindest. Der "fortschrittliche" Teil der Menschheit hat sich auf ein Wirtschaftssystem geeinigt (oder wird vonihm mitgerissen), das dem Grundgesetz aller lebenden Systeme widerspricht...Dieses Wirtschaftssystem ist demnach ein Verbündeter der Wüste, und der objektive Endzustand, der aus seinen röhrenden Aktivitäten hervorgeht, ist eine Welt von Schrott, Müll und Gift. Kein kühnes Gerede von Innovation, Kommunikationszeital- ter und dergleichen vermag an diesem Grundmuster unserer Wirtschaftsweise etwas ändern." (38) Unser eigener Entwurf verblaßt also mehr und mehr; die "HITLER-FORMEL" ist nichts anders als die Apokalypse des menschenverachtenden- und leeren Planeten. Daß AMERY HITLER mit der Modernisierung und Globalisierung in Verbindung bringt, an seine (Wieder-) Anwendung glaubt, das macht sein Buch umso lesenswerter. Die Gesellschaft als ORWELLscher Alptraum hat sich selbst schon zu den Akten gelegt; die Methoden der Überwachung werden in den Werkzeugen der "Planet- Mana- ger" ständig verfeinert. (39)

Seine Diagnostik und Prognostik wird sicherlich nicht von allen Lesern geteilt werden können; jedoch haben AMERYs Thesen in der Zeit der sich dem Ende entgegenneigenden Arbeitsgesellschaft und des warenproduzierenden Systems viel für sich; denn sie bedeuten auch, daß "selektiert" wird. Diese Selektion beginnt in den "obersten Stockwerken der Weltökonomie" und endet in der "vervollkommnung der Gen- Schnipselei" (40) bis zu dem folgenschweren Ende: "Der Gesamtkapitalist am Ende der Selektionskette kann sich dann als Planet-Manager konstituieren und die große Rechnung aufmachen, die über kurz oder lang fällig ist." (41) Jedenfalls sind alle Anzeichen, die er skizziert richtungsweisend; und selbst an einer neuen Naturordnung fehlt es der Moderne ja nicht, da wir wissen, daß sie uns tagtäglich begegnet. Letztlich ist an AMERY sehr sympathisch, daß er bewußt darauf verzichtet, seine Leser nicht mit den gewohnten gesellschaftspolitischen Veränderungskübeln zuzu- schütten, was man vielleicht von einem "Krisenbuch" erwartet (?) hätte! Ob es überhaupt möglich ist, Bedingungen für eine (Ver-)Änderung der bestehenden Verhältnisse bereit zu stellen, daran glaubt er eigentlich nicht.

"Müssen wir Unmenschen werden, um die Menschheit zu retten?" (HANS JONAS)

CARL AMERY: "Hitler als Vorläufer - Ausschwitz der Beginn des 21. Jahrhunderts?", Luchterhand Verlag, München 1998, 191 S., 29, 80 DM.

Anmerkungen

(1) Vgl. aus den letzten Jahren etwa: GERT BUCHHEIT: "Hitler, der Feldherr. Die Zerstörung einer Legende", Rastatt 1958. ALAN BULLOCK: "Hitler und Stalin. Parallele Leben"; Berlin 1991. Derselbe: "Hitler. Eine Studie über Tyrannei" (5), Düsseldorf 1957. JOACHIM FEST: "Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juni", Berlin 1994. Derselbe: "Hitler", Berlin 1987. IAN KERSHAW: "Hitler 1889-1998", Stuttgart 1998. MARLIS STEINERT: "Hitler", München 1994. Dieselbe: "Hitlers Krieg und die Deutschen", Düsseldorf 1970. HENRY A, TURNER: "Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, München 1996. Und in einer Auswahl: SEBASTIAN HAFFNER: "Anmerkungen zu Hitler", Frankfurt/M. 1981. FRIEDRICH HEER: "Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, München 1968. HELMUT HEIBER: "Adolf Hitler. Eine Biographie"; Berlin (Ost) 1960. ANDREAS HILLGRUBER:"Hitler. Strategie, Politik und Kriegsführung 1940- 1941; Frankfurt/M. 1965. WERNER MASER: "Adolf Hitler. Legende-Mythos-Wirklichkeit; München (6), 1974.

(2) Die vergleichenden Darstellungen, die HITLER und seine Zeit analysieren, beginnen bei HEINRICH AUGUST WINKLER, ERNST NOLTE, WOLFRAM SIEMANN, WINFRIED SCHULZE, DIETRICH THRÄNHARDT, ULRICH KLUGE, setzen  sich bei HANS PETER ULLMANN, DIETRICH STARITZ, DETLEV J. PEUKERT, LUDOLF HERBST, WOLFGANG WIPPERMANN, MICHAEL SCHNEIDER fort, und enden bei EBERHARD JÄCKEL, HANS -ULRICH WEHLER, ERNST ENGELBERG u. a.

(3) Vgl. HAFFNER: "Anmerkungen zu Hitler".

(4) CARL AMERY: "Hitler als Vorläufer - Ausschwitz der Beginn des 21. Jahrhunderts?", München 1998. CARL AMERY, Jahrgang 1922; Mitglied der Gruppe 47; 1989 zum Präsidenten des bundesdeutschen PEN-Zentrums gewählt; 1991 Literaturpreis der Stadt München. Wichtige Bücher: "Die Kapitulation oder Der real existierende Katholizismus"; "Die ökologische Chance", (1985) "Die Botschaft des Jahrtausends" (1994).

(5) Vgl., S. 163ff.

(6) Vgl., S. 89ff.

(7) Vgl., S. 187ff.

(8) GUSTA Le BON: (1841-1931); französischer Psychologe und Psychoanalytiker; Mitbegründer der sog. "Massenpsychologie", legte mit "Psychologie der Massen" sein wohl wichtigstes Werk vor.

(9) Vgl. MAX HORKHEIMER/THEODOR W. ADORNO: "Dialektik der Aufklärung", Frankfurt/M. 1969.

(10) AMERY, S. 21ff.

(11) Die Expansion gegen Polen: In den frühen Morgenstunden des 1.September 1939 überfiel die Wehrmacht Polen.

(12) AMERY, S. 105ff.

(13) Vgl., S. 111.

(14) Vgl., S. 51ff.

(15) Vgl. CHRISTIAN ZENTNER: "Adolf Hitlers Mein Kampf", München 1991, S. 179.

(16) AMERY, S. 61ff.

(17) Vgl., S. 67ff.

(18) Vgl. DANIEL J. GOLDHAGEN: "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust", Berlin 1996.

(19) AMERY, S. 71ff.

(20) Vgl. CHRISTIAN ZENTNER: "Adolf Hitlers Mein Kampf", München 1991.

(21) Ebd., S. 76.

(22) HENRI de GOBINEAU: Französischer Graf (1816-1882). Seine wichtigste These lautete, daß jeder gesellschaftliche Niedergang durch "Bastardisierung", also Rassenmischung bedingt sei. Diese Begründung legte er in "Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen", 4 Bde.,

1853-55) dar; hatte enormen Einfluß auf F. NIETZSCHE, R. WAGNER.

(23) VOGELSANG: Hauslehrer und Freund der Tochter von Fürst METTERNICH, war bekannt mit Fürst ALOIS von LICHTENSTEIN; 1875 wurde er Chefredakteur der österreichischen Tageszeitung "Das Vaterland".

(24) EUGEN DÜHRING: Philosoph, Nationalökonom (1833-1921); vertrat einen gemäßigten Materialismus. Er bekämpfte alle Jenseitsreligionen, besonders das Judentum und das Christentum; diese und auch der Marxismus seien Hemmnisse auf dem Weg zu einer wirklich freien Gesellschaft. DÜHRING war ENGELs Bezugsperson bei der Abfassung des "Anti-Dühring".

(25) Vgl., S. 93ff.

(26) Vgl., S. 94.

(27) Vgl., S. 97.

(28) Vgl., S. 75ff.

(29) Vgl., S. 100.

(30) Vgl., 110ff.

(31) Vgl., S. 106.

(32) Vgl., S. 69ff.

(33) Vgl. S. 147-162.

(34) Vgl. S. 163-185.

(35) Vgl.S. 187-191.

(36) Vgl., S. 163.

(37) Vgl., S. 163.

(38) Vgl., S. 166.

(39) Vgl., S. 178ff.

(40) Vgl., S. 182.

(41) Vgl., S. 179.

nach oben