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MSZ 1983 Ausgabe 1

Die "nationale Frage" in der Arbeiterbewegung

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Der Kampf der Kommunisten wäre ein Kinderspiel, wenn sie nur Lügen zu bekämpfen hätten; weil diesen die wirklichen Verhältnisse schnell kurze Beine machen würden. Die Opfer von Staat und Kapital werden jedoch hauptsächlich mit bitteren Wahrheiten legitimiert: Für Frieden, Freiheit und Vaterland hat der Mensch Geld und Leben zu opfern - im Krieg wie im Frieden. Die Ideologie besteht in der Vorstellung über die Zwecke, nicht in ihnen selbst und in den Opfern, die dafür verlangt werden. Diese hohen Zwecke sind nämlich ohne Opfer nicht zu haben. Ihre agitatorische Wucht erhalten sie dadurch, daß sie von den Opfern geteilt werden. Insofern Kommunisten am Nationalismus ihrer Adressaten eine harte Nuß zu knacken haben, ist er permanenter, aber eben negativer Gegenstand ihrer Agitation.

Daß die Geschichte der Arbeiterbewegung bis in unsere Tage eine des erbitterten Streits um die "korrekte" Stellung der diversen Sozialisten und Kommunisten zur "nationalen Frage" gewesen ist, verweist darauf, daß diese einfache Antwort nicht zum allgemeinen Repertoire der Arbeiterbewegung gehört. Dabei haben sie Marx und Engels, was ihre Relevanz für die organisierte Arbeiterbewegung betrifft, unmißverständlich, so sollte - man meinen, beantwortet:

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Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers wird der trend in loser Reihenfolge solche Artikel aus der MSZ veröffentlichen, deren Befunde noch heute Relevanz haben.
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"Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf der Proletarier gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler." (Marx/Engels, Werke MEW - Band 4, S. 473)

Aus der hier angegebenen Schranke der proletarischen Bewegung, daß sie als unmittelbaren Gegner eine nationale Herrschaft und ein nationales Kapital vorfindet, der nationale Zusammenhang also ein vom Feind aufgemachtes Gewaltverhältnis ist und nicht positive Bedingung des Kampfes oder die Nation ein gar durch ihn zu verfolgendes Ziel, machte sich die Arbeiterbewegung nach Marx und Engels das aparte Problem, wie denn das Verhältnis zwischen "nationaler Frage" und Kommunismus beschaffen sei. Der Fortschritt bei der Beantwortung dieser "Frage" reicht von Versuchen, nationalistische Bestrebungen für den Kommunismus zu funktionalisieren über ihre Diskussion als "Bündnisfrage" bis hin zur Identifikation von Nation und Revolution im "sozialistischen Vaterland", für die dessen Wohl das höchste Gut des Sozialismus ist.

Lohnarbeit und Kapital

Dabei wäre die prinzipielle Kritik am Nationalismus bei Marx nachzulesen gewesen, auch wenn er das "Buch vom Staat" nicht geschrieben hat. Daß Nationalismus nicht bloße Ideologie, sondern ein sehr praktisches Verhältnis von Staat und Bürgern darstellt, ist seinem Aufsatz "Zur Judenfrage" zu entnehmen:

"Der vollendete politische Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens bleiben außerhalb der Staatssphäre in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gibt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die anderen Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird. Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde. Er steht in demselben Gegensatz zu ihr, er überwindet sie in derselben Weise wie die Religion die Beschränktheit der profanen Welt, d.h. indem er sie ebenfalls wieder anerkennen, herstellen, sich selbst von ihr beherrschen lassen muß. ... In dem Staat dagegen, wo der Mensch als Gattungswesen gilt, ist er das imaginäre Glied einer eingebildeten Souveränität, ist er seines wirklichen individuellen Lebens beraubt und mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt." (MEW 1, S. 354 f.)

Die Notwendigkeit des Gegensatzes des Staates zu seiner Gesellschaft verbietet jeden Gedanken an eine Versöhnung der beiden Seiten, jeden frommen Wunsch, den Staat nun doch "wirklich" zum "Staat des ganzen Volkes" machen zu wollen, weil er Staat des ganzen Volkes eben in diesem Gegensatz ist. Im Bild von Himmel und Erde macht Marx deutlich, da die Beherrschung der Klassengesellschaft der Dienst des Staates an ihr ist; sie "anerkennen, herstellen, sich selbst von ihr beherrschen lassen" - diese, Leistungen vollbringt er, indem er sie unterwirft, ihr ihre Gesetze aufzwingt, Kapital und Lohnarbeit kraft seiner Macht schützt und erhält. Seine Trennung von der Gesellschaft, seine Absolutheit und Freiheit entspringen einer Gesellschaft, deren Gegensatz nur gewaltsam aufrechterhalten werden kann. Die immer wieder beklagte Trennung des Staats vom Volk ("Oben-unten", "Verselbständigung der Bürokratie" usw.) geschieht also grade des Volkes wegen,

"und man kommt dem Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Worts Volk mit dem Wort Staat auch nicht um einen Flohsprung näher" (MEW 19, S. 28).

Als "Volk" begreift und behandelt der Staat seine Gesellschaft und bewährt die Gesellschaft sich selbst als Voraussetzung und Mittel des Staates, eben dadurch, daß jeder Bürger sein ihm erlaubtes Privatgeschäft erledigt und sich so zum "Spielball fremder Mächte" macht. Gerade so beträgt er sich dem "Gattungszweck" gemäß als Staatsbürger, der im Rahmen von Recht und Gesetz entsprechend seinen - je nach Klasse sehr unterschiedlichen - Voraussetzungen seinen Teil zum Funktionieren des Ganzen beiträgt. All das ist der Grund für den Nationalismus des Staatsbürgers und alles, was dann zum Inhalt von Nationalbewußtsein wird. Das alltägliche Brot des Arbeiters, seine Leistung und seine Abgaben sind der "Himmel", den er sich auf Erden leistet und mit dem er seine eigene Knechtschaft, ein lebenslanges Arbeitsleben beständig reproduziert.

Und darum hat Marx, noch ehe Demokratie praktisch existierte, wo sie bloß als Fortschrittsideal gegen monarchischen Absolutismus in den Köpfen spukte, dieser nichts Positives abgewinnen können: weil er sie als die adäquate Herrschaftsform der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft erkannte, die die Herrschaft des Staates durch die Tugend der Selbstbeherrschung der Beherrschten ergänzt:

"Die Demokratie ist die Wahrheit der Monarchie, die Monarchie ist nicht die Wahrheit der Demokratie. Die Monarchie ist notwendig Demokratie als Inkonsequenz gegen sich selbst, das monarchische Moment ist keine Inkonsequenz in der Demokratie." (MEW 1, S.230)

"Die repräsentative Verfassung ist ein großer Fortschritt, weil sie der offene, unverfälschte, konsequente Ausdruck des modernen Staatszustandes ist. Sie ist der unverhohlene Widerspruch." (MEW 1, S. 279)

An der allgemeinsten Bestimmung des Staats hat Marx die Notwendigkeit der Analyse des ökonomischen Inhalts der Konkurrenz von Staatsbürgern entdeckt: Privatmenschen sind sie überhaupt nur in ihrer besonderen Stellung zum Eigentum, deren Gegensätzlichkeit die höhere Gewalt notwendig macht. Wenn Marx also im "Kapital" den ökonomischen Inhalt bürgerlicher Eigentumsverhältnisse untersucht, dann ist dort zwar der Staat nicht abgeleitet, als notwendige Voraussetzung des Kapitalverhältnisses kommen seine Leistungen jedoch in allen Kapiteln vor, und gerade in ihnen erweist sich der Staat immer als Klassenstaat:

  • Freiheit und Gleichheit als Pflicht zur Lohnarbeit und Recht auf Ausbeutung
  • Beschränkung des Arbeitstages als Bewahrung der Arbeitskraft vor ihrem maßlosen Verschleiß und schließlich selbst noch
  • die vom Arbeiter konsumierten Lebensmittel, seine Familie als Moment des Reproduktionsprozesses des Kapitals!

Deshalb wäre Marx auch nie auf die Idee verfallen, diese parteiischen Leistungen ihres Inhalts zu entkleiden, also Allgemeinwohl und Klassenherrschaft als Gegensatz zu behandeln, oder gar die Institution der Gewalt zur Beherrschung der Ausgebeuteten als Mittel für diese anzusehen. Herrschaft als Chance zu begreifen, ist dagegen der der staatsbügerlichen Praxis entsprechende ideologische Überbau, indem der Bürger das Unterwerfungsverhältnis auch noch bewußt antizipiert und zum aktiven Nationalisten wird.

Der zentrale Angriff gegen das Gothaer Programm der Sozialdemokraten - "fast jedes Wort zu kritisieren" (Engels) - richtete sich darum auch gegen deren Nationalismus. Den Vorwurf der "Heiligsprechung der Lassalle'schen Glaubensartikel" erhoben Marx und Engels, weil das Programm den Staat zum Christophorus der proletarischen Sache erhob, ausgerechnet vom Staat Bismarcks Hilfe für die Arbeiter forderte,

"würdig der Einbildung Lassalles, daß man mit Staatsanlehn ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn " (MEW 19, S. 26),

Für "verwerflich" hielten sie die "Litanei" demokratischer Forderungen:

"Sie sind bloßes Echo der bürgerlichen Volkspartei, des Friedens- und Freiheitsbundes. Es sind lauter Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem sie angehören, nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze, sondern in der Schweiz, den Vereinigten Staaten etc. ... Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, daß gerade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist - selbst sie steht noch berghoch über solcherart Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten." (MEW 19, S. 29)

Man vergleiche damit den heutigen "Kampf" um Recht und Demokratie, um den amtlich geprüften Revolutionär und den staatlich genehmigten Umsturz.

Proletarier aller Länder

Aber nicht die Einsichten von Marx und Engels haben Geschichte in der Arbeiterbewegung gemacht: Nach ihnen und bis auf den heutigen Tag stürzt sich der Revisionismus mit sicherem Gespür für die Brauchbarkeit von Klassikerzitaten auf die Stellen und Schriften, bei denen den Alten tatsächlich theoretische Fehler unterlaufen sind, wo sie ihre eigenen Einsichten taktischen Erwägungen zum Opfer brachten (was sie durchaus gewußt haben, was sich im Briefwechsel untereinander nachlesen läßt!) oder wo sie vom Standpunkt einer sich herausbildenden Arbeiterbewegung und tatsächlicher Kämpfe und Auseinandersetzungen im Zuge der Durchsetzung des Imperialismus sich zu dem falschen Optimismus hinreißen ließen, der im Prozeß der Herausbildung objektiver und subjektiver Bedingungen für die proletarische Revolution auch schon ihre Chance und Beförderung sehen will. So begleiteten sie, vor allem als Vertreter der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) Konflikte und Kriege, die der Herstellung moderner Nationalstaatlichkeit galten und dadurch das Kapitalverhältnis durchsetzten, mit solidarischen Grußadressen, weil sie darin auch die Schaffung des Proletariats als einer gesellschaftlichen Macht bemerkten und ihm die Hoffnung mit auf den Weg gaben, es möge wenn es schon da ist, gar noch kämpft - sich auf seine wirklichen Interessen besinnen und kommunistisch werden. Dabei lag Marx und Engels nichts ferner als die Manier moderner Verfechter "internationaler Solidarität", überall, wo sich überhaupt etwas rührt, eine "Haupttendenz Revolution" auf der Welt am Wirken zu wähnen, eindeutig borniert-nationalistischen Bewegungen die eigenen Intentionen mit der Begründung "objektiv" fortschrittlich unterzujubeln und im Namen der "Solidarität aller Fortschritts-" (oder aktuell "Friedens-")"kräfte" sich jeglicher Kritik an ihnen zu enthalten. Selbst die überschwenglichsten Grußadressen sind noch vom Willen getragen, sich einznmischen für den Kommunismus. Deshalb trägt auch das "Manifest", in dem die angeführten Fehler kämpferischoptimistisch zusammengefaßt worden sind, immer noch den Titel "kommunistisch" und nicht einen der - bei revisionistischen Flachköpfen und ihren "Massen"organisationen vorzufindenden - Tarnnamen, mit denen die idiotischsten Interessen dieser Gesellschaft gleich affirmiert werden, weil sie für den Kommunismus gar nicht benutzt werden können.

Von dem begeisterten, aber falschen Schluß her, daß die Existenz der revolutionären Klasse auch der Garant der Revolution sei, geraten Marx und Engels die Beurteilungen von Kriegen und Aufständen zur Einschätzung, zur Frage also: Ist diese Auseinandersetzung eine günstige Bedingung für den Erfolg des Proletariats? So feiert Marx gegen besseres Wissen den amerikanischen Bürgerkrieg nicht nur als Kampf gegen die Sklaverei, sondern als Verbesserung der Kampfbedingungen der Arbeiter:

"Die Arbeiter Europas sind von der Überzeugung durchdrungen, daß, wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg eine neue Epoche der Machtentfaltung für die Mittelklasse einweihte, so der amerikanische Krieg gegen die Sklaverei eine neue Epoche der Machtentfaltung für die Arbeiterklasse einweihen wird." (MEW 16, S. 19)

Das ökonomische Wissen um den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital ist hier getrübt von einer historischen Betrachtungsweise, mittels derer er das Faktum der allgemeinen Durchsetzung der Lohnarbeit in den USA zum Fanal des Aufstandes der Arbeiterklasse machen möchte. Während er zur gleichen Zeit im "Kapital" die ökonomische Unvereinbarkeit der Sklavenarbeit mit dem Kapitalverhältnis analysiert, die vielfach behauptete "humane" Unverträglichkeit als Kapitalistenideologie kennzeichnet und zwischen - dem Elend von Lohn- und Sklavenarbeiter keinen Unterschied gelten lassen will (vgl. MEW 23, S. 210 f. und 270), verfaßt er "An Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika" als Sekretär der Internationale einen Brief, in dem er ihn feiert als

"starksinnigen, eisernen Sohn der Arbeiterklasse, (dem) das Los zugefallen ist, sein Vaterland durch den beispiellosea Kampf für die Erlösung der geknechteten Race und für die Umgestaltung der sozialen Welt hindurchzuführen." (MEW 16, S. 19)

Ausgerechnet solche Stellen müssen auch heute noch herhalten, um zu "beweisen", daß Marx in "Tageskämpfen" Partei ergriffen habe auch für Kämpfe, die mit kommunistischen eingestandenermaßen nichts zu zu tun haben. Dabei hat sich zumindest Marx bei der Abfassung solcher "Adressen", wo er in der eben erst gegründeten IAA taktische Rücksichten nahm auf Mitglieder, die er selbst dem bürgerlichen Lager zuordnete, nichts vorgemacht, von den abfälligen Befnerkungen über die Person Lincolns im Briefwechsel mit Engels mal ganz abgesehen:

"Das Schlimme bei solcher Agitation ist, daß man sehr geplagt wird, sobald man sich daran beteiligt. Z.B. jetzt galt es wieder Adresse an Lincoln, und ich hatte das Zeug wieder aufzusetzen (was viel schwerer als eine inhaltliche Arbeit) - damit die Phraseologie, auf die sich solche Sorte Schreiberei beschränkt, wenigstens sich distinguiert von der demokratischen Vulgärphraseologie" (MEW 31, S. 33)

Zur Rechtfertigung der Parteinahme für "nationale Befreiungskämpfe" heutzutage müssen vor allem auch die Stellungnahmen zur irischen, polnischen, italienischen und deutschen "Frage" herhalten, zumindest solange sich die entsprechende Befreiungsbewegung nicht durch allzu offensichtliche Anbiederung an den Imperialismus desavouiert hat.

Der Kampf von Nationen gegen eine Fremdherrschaft, die ihnen die Alternative Tod oder Aufstand aufmachte, und um die Installation einer ganz eigenen - polnischen, ungarischen, irischen - Herrschaft wird von den Klassikern nicht nur als unterstützenswertes Anliegen behandelt.

Weil solche Erhebungen sich gegen die Herrschaft einer kapitalistischen Nation richten, beurteilten sie diese vom Standpunkt des revolutionären Weltproletariats und machten sie zum Gegenstand internationaler Solidarität - auch wenn sich der Inhalt dei Kämpfe gar nicht gegen den kapitalistischen Staat wandte, sondern um die Einrichtung einer eigenen nationalen Herrschaft ging. Die staatliche Selbständigkeit Irlands ist ihnen selbstredend identisch mit dem Schaden Englands, dem Schädiger der Iren, ergo deren Nutzen.

Neben Bemerkungen von Marx in der Korrespondenz mit Engels, in denen er sein theoretisches Bauchgrimmen bei der Abfassung der diversen Resolutionen und Adressen für die europäischen Befreiungskämpfe bekundet -

"Soweit in der Adresse International Politics vorkommt, spreche ich von countries, nicht von nationalities... Nun wurde ich verpflichtet, in das Preamble... zwei duty und right Phrasen, ditto truth, morality and justice aufzunehmen, was aber so placiert ist, daß es einen Schaden nicht tun kann." (MEW 31, S. 15) -,

gibt es leider von Engels keineswegs privat dahingeplauderte, sondern in theoretischer Absicht veröffentlichte Auslassungen zum Kampf der Iren oder über die Querelen auf dem Balkan, die solchen Auseinandersetzungen höhere natürliche und historische "Interpretationen" zukommen lassen:

"Und selbst tagelanger Regen, wie er im Spätherbst vorkommt, hat nicht den chronischen Anstrich wie in England. Das Wetter, wie die Bewohner, hat einen akuteren Charakter, es bewegt sich in schärferen unvermittelteren Gegensätzen; der Himmel ist wie ein irisches Frauengesicht. Regen und Sonnenschein folgen sich auch da plötzlich und unerwartet; aber für die graue englische Langeweile ist kein Platz... Nur mit den Irländern sind die Engländer nicht fertig geworden. Die enorme Elastizität der irischen Race ist schuld daran." (MEW 16, S. 475 und 499)

"Unter allen den Nationen und Natiönchen Östreichs sind nur drei, die die Träger des Fortschritts waren, die aktiv in die Geschichte eingegriffen haben, die noch jetzt lebensfähig sind - die Deutschen, die Polen, die Magyaren. Daher (!) sind sie jetzt revolutionär. Alle andern großen und kleinen Stämme und Völker haben zunächst die Mission (!), im revolutionarem Weltsturm unterzugehen. Daher (!) sind sie jetzt konterrevolutionär." (MEW 6., S. 168)

Während aber Engels ansonsten sehr heftig gegen nationale Vereinnahmungen protestierte -

"Einen Gefallen müssen Sie mir aber tun, und mir im Blatt nicht immer den ‚Genossen' an den Kopf werfen. Erstens ist mir die sämtliche Titelwirtschaft verhaßt... Dann aber sind wir hier auch keine ‚Genossen' im engeren Sinn. Wir gehören der deutschen Partei kaum mehr an als der französischen und amerikanischen oder russischen und können uns ebensowenig durch das deutsche Programm gebunden halten wie durch das Programm-Minimum. Auf diese unsere Sonderstellung als Vertreter des internationalen Sozialismus halten wir etwas. Sie verbietet uns aber auch, einer besonderen nationalen Partei anzugehören..." (Engels an Bernstein, MEW 35, S. 442) -,

fällt den Herausgebern der MEW zu Engels Völkercharakterologie auf, daß seine historische Prognose über den Untergang "verkommener Völker" oder des "Völkerabfalls" nicht eingetroffen ist, er sich in der "Lebenskraft" einiger Balkannationen "getäuscht" habe!

Mit dem, was Nationalismus heute ausmacht, hatten es die Klassiker sowieso nicht zu tun. Daß gerade voll entwickelte kapitalistische Staaten mit ihrer rechtsstaatlichen Verwaltung des Klassengegensatzes sich auf die staatsbürgerliche Reife ihres Proletariats verlassen können, so daß sie ihm mit dessen demokratischer Zustimmung die Produkte seiner Arbeit als Machtmittel gegen die anderen Staaten zum Einsatz bringen können - das haben die Klassiker sich 1848 nicht vorstellen können: "Die Arbeiter haben kein Vaterland." (MEW 4, S. 479) Darum entwickelten sie, lange bevor der Imperialismus existierte, die falsche Vorstellung, ausgerechnet die Herstellung des Weltmarkts werde die nationalen Gegensätze zurückdrängen:

"Die nationelen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse."

"Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen. Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung. In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander." (MEW 4, S. 479)

Allerdings läßt sich daraus nie und nimmer die Theorie drechseln, der nationale Kampf sei, in welcher Form, Stufe oder was auch immer, ein Beitrag zum Klassenkampf, oder gar der Klassenkampf selbst. Der letzte Satz betont den Klassenkampf als Mittel der Beseitigung der nationalen Gegensätze.

Völker, hört die Signale

Für die Zitatenfledderer der Arbeiterbewegung allerdings sind derlei Aussagen ein gefundenes Fressen. Die Nationalisten der Arbeiterbewegung haben die Form gegen den Inhalt ausgespielt, und von Engels' - mehr vom Hegelschen Welt- und Volksgeist inspirierten, als von der Kritik der politischen Ökonomie getragenen - Einteilung der Welt in "fort- oder rückschrittliche" Nationen bezog der Revisionismus schon früh seine Belegstellen, obwohl dem alten "Genießer von Militaria" mit Sicherheit nichts mehr zuwider gewesen wäre, als sich die Welt in "objektiv revolutionär" und "subjektiv reaktionär" einzuteilen, mit der sich die späteren Mitglieder und Freunde des "sozialistischen Lagers" noch jede nationalistische Borniertheit als förderungswürdigen Beitrag zur internationalen Solidarität zurechtgemacht haben.

Das historisch b:erühmteste Beispiel lieferte die deutsche Sozialdemokratie: "Gegen den aggressiven und reaktionären Zarismus" hat die SPD 1914 dem eigenen Staat die Kriegskredite bewilligt und den "Burgfrieden" (Einstellung der Lohnkämpfe mit dem Klassenfeind) geschlossen und so - ebenso wie die übrigen europäischen Arbeiterparteien - ihren Segen erteilt, daß die Proletarier aller Länder aufeinander geschossen haben - im Auftrag und für ihr nationales Kapital.

Die Fehler von Marx und Engels sind jedoch nicht der Grund für diese Entwicklung, die weder ein "Schwenk", noch ein "Verrat" gewesen ist, sondern die notwendige Konsequenz einer Partei, die seit ihrem Bestehen all ihre staatsfeindlichen Aktivitäten darauf richtete, ihr Gothaer Ideal vom arbeiternützlichen Staat einzuklagen. Nun galt es diesen Staat in der "Stunde der Gefahr" zu verteidigen, das "Blut des eigenen Volkes" dafür zu vergießen:

"Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei. (Lebhaftes allseitiges ‚Bravo!' und Händeklatschen)... Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute des eigenen Volkes befleckt hat (Lebhafte Rufe ‚Sehr wahr!' bei den Sozialdemokraten), viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. (Erneute Zustimmung) Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. (‚Bravo!') Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. (Lebhaftes ‚Bravo!') Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jeden Volkes auf nationale Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat..." (Erklärung der SPD-Fraktion, 4.8.1914)

Nicht mit der Herstellung von Nationalstaaten, sondern mit dem Kampf ausgewachsener kapitalistischer Staaten um den Ausschluß der anderen von der Benutzung des Globus und einer Arbeiterbewegung, die ihre alten internationalistischen Parolen in leicht verwandelter Form in die kritische Solidarität mit den imperialistischen Zwecken ihres Staates einbrachte, hatte Lenin es zu tun. Außer den Bolschewiki hatten sich alle betroffenen Arbeiterparteien der zweiten Internationale für die "Vaterlandsverteidigung" entschlossen und tatkräftig den "gerechten Verteidigungskrieg" propagiert. Dagegen ‚hat Lenin an "ein paar einfachen Wahrheiten des Marxismus" festgehalten, wenngleich seine Erklärung dafür, warum der "Renegat Kautsky" die proletarische Revolution verraten habe, Zeugnis davon ablegt, daß er nicht gewußt hat, was Nationalismus wirklich ist und warum deshalb aus Führern der Arbeiterbewegung "Opportunisten" und "Sozialchauvinisten" geworden sind:

"Wenn ein Deutscher unter Wilhelm oder ein Franzose unter Clemenceau sagt: Ich als Sozialist habe das Recht und die Pflicht, meine Heimat zu verteidigen, falls der Feind in mein Land eingedrungen ist, so ist das nicht die Argumentation eines Sozialisten, eines Internationalisten, eines revolutionären Proletariers, sondern die eines kleinbürgerlichen Nationalisten. Denn in dieser Argumentation verschwindet der revolutionäre Klassenkampf des Arbeiters gegen das Kapital, verschwindet die Einschätzung des gesamten Kriegs als Ganzes vom Standpunkt der Weltbourgeoisie und des Weltproletariats, d.h. es verschwindet der Internationalismus, und was übrig bleibt, ist ein armseliger, verknöcherter Nationalismus." (Lenin, Ausgewählte Werke in 6 Bänden - LAW -, Bd. IV, S. 611 f.)

Insofern Lenin die Wertschätzung der parlamentarischen Demokratie durch die Sozialdemokraten kritisiert, Illusionen über die Beförderung der Sache des Proletariats innerhalb jeder Form des bürgerlichen Staates, auch der Demokratie, bekämpft; insofern er daraus folgert, daß alle Varianten und Begründungen der Vaterlandsverteidigung den Klassengegensatz negieren und die Herrschaft des Kapitals zementieren, traf seine Polemik ins Schwarze und trifft ganz aktuell heute auf "linke" Bürger des Deutschlands der beiden Helmuts, des Frankreichs eines Mitterrands und Thatchers Großbritannien zu. Daß Lenin aber nie den Nationalismus überhaupt und sans phrase kritisiert, sondem ihn immer durch Adjektiva ("kleinbürgerlich", "armselig", "verknöchert" usw.) denunziert, belegt, daß er den Nationalismus für eine von der Bourgeoisie erfundene Ideologie hielt, seine Grundlage in Staat und Ökonomie nicht kannte, deshalb die ihm anhängenden Arbeitermassen als "verführt" oder von ihren Führern "verraten" falsch erklärte und den "Kautskys und Scheidemännern" nur ein "Abweichen" von früher gemeinsam vertretenen Idealen vorzuwerfen vermochte:

"Sowohl Kautskys theoretische Analyse des Imperialismus wie auch seine ökonomische und politische Kritik des Imperialismus sind völlig von einem mit dem Marxismus absolut nicht zu vereinbarenden Geist der Vertuschung und Verwischung der grundlegenden Gegensätze durchdrungen, von dem Bestreben, die zerfallende Einheit mit dem Opportunismus in der europäischen Arbeiterbewegung um jeden Preis aufrechtzuerhalten." (LAW, Bd. II, S. 764)

Weil Lenin an den prinzipiellen Aussagen der II. Internationale und ihres Theoretikers Kautsky wenig auszusetzen hat - teilte er sie doch im wesentlichen -, verurteilt er die Taten der deutschen Sozialdemokratie als im Gegensatz dazu stehend, wirft ihren Wortführern böswillige "Vertuschung und Verwischung" vor und kann sich deren theoretisch begründete und praktisch vollzogene Prokriegslinie nur so erklären, daß sie von der Bourgeoisie bestochen worden sind. Dabei leistet ihm seine eigene falsche Imperialismustheorie (vgl. MSZ Nr. 3/1981: Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus: Ein aktueller, aber falscher Klassiker) gute Dienste:

"Worin besteht das ökonomische Wesen der ‚Vaterlandsverteidigung' im Kriege des Jahres 1914/15? Die Bourgeoisie aller Großmächte führt den Krieg wegen der Aufteilung und Ausbeutung der Welt, wegen der Unterjochung der Völker. Einem kleinen Kreis der Arbeiterbürokratie, Arbeiteraristokratie und kleinbürgerlicher Mitläufer können Brocken von den großen Profiten der Bourgeoisie zufallen. Die Klassengrundlage des Sozialchauvinismus und des Opportunismus ist dieselbe: das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit ‚ihrer' nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse. Der politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist derselb e: Verzicht auf die Diktatur des Proletariats, Verzicht auf die revolutionäre Aktion, rücksichtslose Anerkennung der bürgerlichen Legalitat, Mißtrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber. Der Sozialchauvi nismus ist die direkte Weiterführung und Vollendung der englischen liberalen Arbeiterpolitik, des Millerandismus und Bernsteinismus." (LAW, Bd. II, S. 632 f.)

So ist auch Lenins langanhaltende Hoffnung zu erklären, das europäische Arbeitervolk möge seine bestochenen Führer zum Teufel jagen und der russischen Revolution zur Seite stehen.

Was Lenin (und Stalin) unter dem Stichwort "Nationale Frage" behandelt haben, hat mit dem Nationalismus kapitalistischer Staaten nichts zu tun:

"Das nationale Programm der Arbeiterdemokratie; absolut keine Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; Lösung der Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen, d.h. ihrer staatlichen Lostrennung, auf völlig freiem, demokratischem Wege; Erlaß eines für den ganzen Staat geltenden Gesetzes, kraft dessen jede beliebige Maßnahme, die in irgendeiner Hinsicht einer der Nationen ein Privileg gewährt und die Gleichberechtigung der Nationen oder die Rechte einer nationalen Minderheit verletzt, für ungesetzlich und ungültig erklärt wird...

Dem nationalen Gezänk der verschicdenen bürgerlichen Parteien wegen der Sprachenfrage usw. stellt die Arbeiterdemokratie die Forderune entgegen: unbedingte Einheit und restlose Verschmelzung der Arbeiter aler Nationaiitäten... Nur bei einer solchen Einheit, einer solchen Verschmelzung kann die Demokratie behauptet werden, können die Interessen der Arbeiter gegen das Kapital - das bereits international ist und es immer mehr wird - behauptet, können die Interessen der Entwicklung der Menschheit zu einer neuen Lebensform, der jedes Privileg und jede Ausbeutung fremd sind, behauptet werden." (LAW, Bd. II, S. 358 f.)

Der Haß gegen die großrussischen Privilegien innerhalb des Zarenreichs erscheint ihnen als Chance und Schranke zugleich: Chance, weil Haß gegen den Zarismus - Schranke, weil Hindernis für einheitliche proletarische Aktion.

Lenin wollte diesen Nationalismus fürs erste dadurch loswerden, daß er ihm seine Forderungen erfüllte. Das aus gutem Grunde: Die Sowjetmacht hatte angesichts ihrer noch nicht einmal in Rußland erfolgten Konsolidierung andere Sorgen, als sich um die Beseitigung reaktionären Brauchtums. in Usbekistan zu kümmern. Auch hier erscheint der Mangel des Leninschen Nationalismusbegriffs darin, daß er die Stellung der nichtrussischen Völkerschaften zur Sowjetmacht als "Nationalitätenfrage" diskutiert, die ihren Grund in so läppischen "Zänkereien" wie der Sprachenfrage haben soll, anstatt zu bemerken, daß "kulturelle Eigenheiten" nur das Material sind, mit dem sich ein Gegensatz zur zentralen Staatsgewalt aufmachen oder die Unterwerfung unter sie vollziehen läßt. Dem stellte bereits Lenin das Ideal der Einheit des Volkes der Werktätigen in, einem Staat gegenüber, der alle Besonderheiten sich von selbst aufheben läßt ("Verschmelzung"), was Stalin bis zu der verrückten Vorstellung ausbaute, im Kommunismus sei es ein heißes Problem, ob alle eine der bestehenden Sprachen sprächen oder "etwas ganz Neues" entstehen würde.

Weil die Bolschewiki in einem Volke agitierten, das unter der Zarenherrschaft keinerlei Voraussetzungen hatte sich unter Formen demokratischer Herrschaft mit "seinem" Staat zu identifizieren, und gerade Lenin es war, der nach der Februarrevolution sich mit seiner Auffassung durchsetzte, ohne ein "Übergangsstadium" der demokratischen Republik zur proletarischen Revolution fortzuschreiten, kämpften sie gegen jeden Vorschlag, das vom Zaren befreite Vaterland im Krieg gegen Deutschland zu verteidigen und Lenin unterlief den Vorwurf mangelnden Patriotismus (für ihn muß es anscheinend einer gewesen sein!) mit dem Hinweis darauf, was für einen Bolschewik allein verteidigungswürdig ist:

"Ist uns großrussischen klassenbewußten Proletariern das Gefühl des nationalen Stolzes fremd? Gewiß nicht! Wir lieben unsere Sprache und unsere Heimat, wir wirken am meisten dafür, daß ihre werktätigen Massen (d.h. neun Zehntel ihrer Bevölkerung) zum bewußten Leben erhoben werden, daß sie Demokraten und Sozialisten werden. - Wir sind erfüllt vom Gefühl des nationalen Stolzes, und gerade deshalb hassen wir ganz besonders unsere sklavische Vergangenheit (in der adlige Gutsbesitzer die Bauern in den Krieg führten, um die Freiheit Ungarns, Polens, Persiens und Chinas zu meucheln) und unsere sklavische Gegenwart, in der dieselben Gutsbesitzer Krieg führen, um Polen und die Ukraine zu erdrosseln, um die demokratische Bewegung in Persien und China zu ersticken und um die Bande der Romanow, Bobrinski und Purischkewitsch zu stärken, die unsere nationale Würde schänden." (LAW, Bd. II, S. 534/35)

Während Lenin hier "Nationalstolz" ausgerechnet mit der Sowjetmacht und dem Sozialismus legitimiert und dessen Sieg zum Grund für jenen erklärt, hat Stalin mit seinem "Großen Vaterländischen Krieg" die Sache genau umgedreht: Die Sowjet menschen sollten gegen die Hitlerarmee nicht die "sozialistischen Errungenschaften" verteidigen, sondern als Russen das Vaterland, auch wenn sie mit dem Sozialismus in ihm nicht einverstanden waren.

Mit der Existenz des ersten sozialistischen Staates - statt der erhofften Revolutionen in den imperialistischen Staaten hatten sich die Bolschewiki mit Konterrevolutionären, Interventionstruppen und imperialistischer Erpressung herumzuschlagen - stellte sich Lenin das Problem der Selbstbehauptung in einer Welt, die dem ersten Arbeiter- und Bauernstaat lieber heute als morgen den Garaus gemacht hätte:

"Angesichts einer solchen Sachlage ist eine reale - nicht papierene - Friedensgarantie für uns ausschließlich die Zwietracht zwischen den imperialistischen Mächten." (LAW, Bd. IV, S. 329 f.)

Daß sich aber mit "Garantie" nichts schiebt, konnte Lenin an den Interventionskriegen merken, wo alle kapitalistischen Staaten, Sieger wie Verlierer, kräftig mitmischten (vgl. MSZ Nr. 6/1982). So vermengte sich bei Lenin die Hoffnung, die imperialistischen Staaten zum Frieden zu bewegen, mit dem Wissen, daß das nicht geht - ein Wissen, dem jedoch die Gründe fehlten: daher der Versuch, mit dem taktischen Konzept eines pazifistischen Programms den Völkerbund zu "spalten". Mit der Ausarbeitung und den Verhandlungen in Genua beauftragt wurde der Volkskommissar für Außenbeziehungen Tschitscherin, der sich in Briefen an Lenin bitter beklagte:

"Wie wir mit dem ‚umfassenden Programm' fertig werden sollen, weiß ich nicht. Zeit meines Lebens habe ich die kleinbürgerlichen Illusionen bekämpft, und jetzt zwingt mich das Politbüro auf meine alten Tage, kleinbürgerliche Illusionen zu erfinden, wir wissen nicht einmal auf welche Quellen man sich stützen soll. Können Sie keine ausführlichen Anweisungen geben?"

Tschitscherin hat es hingekriegt und damit den ersten Schritt des Sowjetstaates auf dem diplomatischen Parkett getan, den Grundstein für "sozialistische, Außenpolitik" gelegt. Auf der Konferenz in Genua trug er den Vertretern der kapitalistischen Staaten ein Konzept vor, in dem er die sowjetische Bereitschaft bekundete, einvernehmlich mit den Feinden des ersten sozialistischen Staates die kapitalistische Weltwirtschaft zu ordnen und die von den imperialistischen Staaten in die Welt gesetzte Kriegsgefahr zu "bannen". Er entwickelte ein Konzept des "friedlichen Zusammenlebens der Völker", das heute ernstgemeinte und praktizierte Politik der "Weltfriedensmacht" ist, und gleichzeitig, daß die Sowjetmacht sich über die Unmöglichkeit eines solchen Plans keiner Täuschung hingebe:

"Ich halte es für notwendig, nochmals zu betonen, daß wir Kommunisten natürlich keine Illusionen über die Möglichkeit der wirklichen Beseitigung der Kriegsursachen und der Wirtschaftskrisen unter den gegenwärtigen Bedingungen hegen, dennnch sind wir bereit, an der allgemeinen Arbeit ins Interesse Rußlands wie auch ganz Europas und der Millionen Menschen teilzunehmen, die durch die heutige Wirtschaftsanarchie unmenschlichen Entbehrungen und Leiden ausgesetzt sind; wir sind bereit, alle Versuche einer noch so geringfügigen Verbesserung der Weltwirtschaft und der Bannung der Kriegsgefahr zu unterstützen. Wir sind bereit, alle progressiven Vorschläge anderer Länder zu unterstützen, die in diese Richtung weisen..."

Daß die Bolschewiki damit an einem vorzüglichen Instrument der imperialistischen Intervention bastelten, haben sie geahnt, was noch alle Versuche, Sicherungen dagegen einzubauen, erkennen lassen. Die Beteiligung der Kolonien und "die Einbeziehung der Arbeiterorganisationen zur Teilnahme in Stärke von einem Drittel" am "Weltkongreß" genügten ihnen nicht,

"denn die Spitzen der kolonialen Völker können sich ebenso wie verräterische Arbeiterführer leicht als Marionetten erweisen... Folglich ist es notwendig, noch das Prinzip der Nichteinmischung der internationalen Konferenzen oder Kongresse in die inneren Angelegenheiten der einzelnen Völker einzuführen."

Obwohl sie sich ihres negativen Ausgangspunkts bewußt waren, entwickelten sie damit gleichzeitig die Hoffnung auf die positive Ausnutzung des Völkergegensatzes, die so zum Prinzip der III. Internationale erhoben wird:

"Was ist der wichtigste, der grundlegende Gedanke unserer Thesen? Die Unterscheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Nationen... Wir stritten darüber, ob es prinzipiell und theoretisch richtig sei zu erklären, daß die Kommunistische Internationale und die kommunistischen Parteien die demokratische Bewegung in den zurückgebliebenen Ländern unterstützen müssen. Das Ergebnis dieser Diskussion war, das wir einstimmig beschlossen, anstatt von der ‚bürgerlich-demokratischen Bewegung' von der national-revolutionären Bewegung zu sprechen." (LAW, Bd. V, S. 661 f.)

Bei alledem war aber die Hauptaufgabe der Komintern Lenins die Beförderung und Koordination des Klassenkampfes in den kapitalistischen Staaten; und auch in "national-revolutionären Bewegungen " verlängte er "planmäßige Propaganda für den Kommunismus", und daß "die Sowjetregierungen ihnen mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe" kommen.

Vaterland aller Werktätigen

Lenins Umtaufaktion ("national-revolutionär" statt "bürgerlich-demokratisch") hatte schon den Inhalt der Befreiungsbewegung als Kriterium der Unterstützung für gleichgültig erklärt, Ziel der Unterstützung blieb, das Moment des "Kämpferischen" dazu zu nutzen, aus der "national-revolutionären" eine "proletarisch-revolutionäre " zu machen. Wird das Kriterium bloß noch als Instrument sozialistischer Außenpolitik behandelt, dann wird der Inhalt kolonialer Kämpfe absolut gleichgültig angesichts der Frage, inwiefern Ereignisse auf dem Globus der Position des sozialistischen Staates dienlich sind:

"Der revolutionäre Charakter einer nationalen Bewegung unter den Verhältnissen der imperialistischen Unterdrückung setzt keinesfalls voraus, daß an der Bewegung unbedingt proletarische Momente teilnehmen müssen, daß die Bewegung, ein revolutionäres beziehungsweise republikanisches Programm, eine demokratische Grundlage haben muß. Der Kampf des Emirs von Afghanistan für die Unabhängigkeit Afghanistans ist objektiv ein revolutionärer Kampf, trotz der monarchistischen Anschauungen des Emirs und seiner Kampfgefährten, denn dieser Kampf schwächt, zersetzt; unterhöhlt den Imperialismus..." (Stalin, Werke, Bd. 6, S. 126)

Aus der Zwangslage, - den "Sozialismus in einem Lande" aufbauen zu müssen, der Lenin noch durch die weltweite Unterstützung der Revolution abhelfen wollte, macht Stalin ein positives Konzept und funktionalisiert die Bewegungen in aller Welt, auch die proletarischen für den Sowjetstaat, angefangen von der Unterwerfung der kommunistischen Parteien unter das außenpolitische Konzept der SU bis hin zur Opferung der Komintern für die Zusammenarbeit mit den Alliierten im Zweiten Weltkrieg, dem "Großen Vaterländischen Krieg".

Auch nach innen wird klar gemacht, daß Arbeiter nun endlich ein Vaterland haben, für das die Opfer sich lohnen: "Die Verteidigung der Heimat ist das höchste Gut des Lebens." (Prawda, 9.6.1934)

Die Stärkung des Sowjetstaates wird nun zur obersten Aufgabe des Sowjetvolks. Die Förderung seiner politischen Konkurrenzfähigkeit verlangt ihm immer neue Leistungen ab, die sich nicht in der Verbesserung seiner Lage, sondern in der Vermehrung des Stolzes auf die Leistungen des Staates, der sich zur Weltmacht.Nr. 2 gemausert hat, niederschlagen.

Kommunistische Nationen und nationale Kommunisten

sind das heute zu besichtigende praktische Ergebnis, das in einer theoretischen Debatte reflektiert, die von der Feststellung über die nationalen Schranken des Proletariats bis zu der Ideologie fortgeschritten ist, die heute zum Schatzkästlein des "Marxismus-Leninismus" gehört:

"Der proletarische Internationalismus ist die Grundlage des Kampfes der Arbeiterklasse für die Interessen der Nation... Die geschichtliche Entwicklung übertrug der Arbeiterklasse die Aufgabe, die Geschicke der Nation zu lenken" (Autorenkollektiv der Parteihochschule Karl Marx beim ZK der SED, Politisches Grundwissen, Berlin 1970, S. 380 und 399)

Der proletarische Internationalismus, mit dem sich die Arbeiterklasse über den Zwangszusammenhalt Nation hinwegsetzen sollte, wird zur "Grundlage" des Kampfes für die Nation: Interproletarischer Nationalismus! Der Sieg des revolutionären Proletariats ist nicht das Ende der Nation, sondern das Beste für ihre "Geschick": Weltproletarische Nationalrevolution! Ideologien, an die sich in der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung gehalten wird:

  • Die "erste sozialistische Nation" hat sich zum "Vaterland aller Werktätigen" proklamiert und die von ihm angeführten Sozialisten für die Außenpolitik der Sowjetunion instrumentalisiert. Dies impliziert, daß sie bisweilen ein Kampfverbot gegen die eigene Herrschaft verpaßt kriegen, weil das nationale Interesse der SU mit dieser "freundschaftliche Beziehungen" eingegangen ist und dies implizierte auch schon, daß die Kommunisten fremder Staaten dem Bündnis mit ihren Staatsmännern zum Opfer gebracht wurden (Ägypten, Irak, Syrien e.g.)
  • Zwischen den sozialistischen Nationen gibt es Verträge und Bündnisse, in denen die wechselseitige Unterstützung beim "Aufbau des Sozialismus" an nationalen Interessen gemessen wird und deren Erfolg oder Mißerfolg das "Sozialistische Lager" zusammenhält oder es brüchig werden läßt (China, Rumänien, Polen e.g.).
  • Wenn die SU ihre Beziehungen zu den Bruderparteien in den imperialistischen Staaten dem Maßstab ihrer nationalen Politik unterwirft, dann werden eben diese Beziehungen zum Hindernis für den nationalen Erfolg solcher Parteien. National- und Eurokommunisten überprüfen ihr Verhältnis zur "Partei Lenins" und zum "Land der Oktoberrevolution" an ihren (Wahl-)Chancen im eigenen Staat, gehen auf Distanz und suchen ihren politischen Erfolg in der permanenten Kritik an der sowjetischen Politik (Italien, Frankreich, Spanien e.g.)
  • Eine Partei wie die DKP, der KPdSU immer noch "brüderlich verbunden", kämpft ideologisch gegen den Vorwurf der "Sowjethörigkeit", statt eine Offensive daraus zu machen; weil sie auf das nationale Interesse Rücksicht nimmt, deutsche und kommunistische Partei sein will. Das sieht aktuell so aus, daß gegen die NATO-Aufrüstungspläne damit agitiert wird, daß dadurch die deutsche Nation zum Ziel sowjetischer Raketen wird.

Führt also der Revisionismus zum Nationalismus, oder ist es nicht vielmehr so, daß moderne Sozialisten Revisionisten sind, weil sie nie aufgehört haben, Nationalisten zu sein?

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