Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Heftiger Konflikt zwischen Frankreich und der marokkanischen Monarchie
 

03-2014

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Folter in Marokko und das Wiederauftauchen des Falles eines spurlos „verschwundenen“ Oppositionsführers - einige französische Justizorgane bewiesen Unabhängigkeit. Zu viel in den Augen von Vertretern der marokkanischen „konstitutionellen Despotie“. Eine noch nie dagewesene Staatskrise ist die Auswirkung

Im Diplomatenjargon ist es üblich, die Dinge nur verklausuliert ausdrücken. Etwaige Konflikte werden nicht ausgesprochen, sondern nur vage angedeutet. Verlief das Gespräch etwa so ab, dass heftige Differenzen zu Tage traten und nicht überbrückt werden konnten, wird es als „offene Aussprache“ bezeichnet. Wird ein Teilnehmer als „etwas ungehalten“ bezeichnet, dann handelte es sich bereits um ein kleines Erdbeben.

Da klingt es dann schon wie ein mittelschwerer Orkan, wenn eine offizielle Quelle sich ausdrückt wie diese: „Die marokkanische Regierung bedauert zutiefst die verletzenden Worte und beleidigenden Ausdrücke, die dem französischen Botschafter zugeschrieben werden.“ Der Regierungssprecher Mustapha El Khalfi fügte hinzu, „die Gesamtheit der Marokkaner“ seien „verletzt“ worden. Er sei jedoch „überzeugt, dass Frankreich das Übel, das dadurch verursacht wurde, zu reparieren verstehe“.

Nach Ablauf der ersten Märzwoche d.J. jedenfalls war die Kluft zwischen den beiden Regierungen nicht gekittet worden. Die marokkanische Seite hatte am Mittwoch, den 26. Februar 14 sämtliche Abkommen zur justizpolitischen Kooperation zwischen beiden Ländern außer Kraft gesetzt. Dies bedeutet, dass etwa Auslieferungsbegehren der einen oder andere Seite nicht nachgekommen wird, so lange die jetzige Situation aufrecht erhalten bleibt. Aber auch verurteilte Staatsbürger des jeweils anderen Landes, die man bislang im beiderseitigem Einvernehmen ihre Haft- oder Reststrafe im jeweiligen Heimatland verbüßen ließ, können nicht zu diesem Zwecke überstellt werden. Da die Aussetzung der Zusammenarbeit aber nicht auf das Strafrecht beschränkt ist, entfällt vorläufig auch die gegenseitige Anerkennung von Eheschlüssen und –scheidungen und anderen zivilrechtlichen Akten. Der bislang für die Kooperation zuständige Beamte des marokkanischen Justizministeriums wurde aus Paris abgezogen. Anfang April dieses Jahres soll nun die französische Justizministerin Christiane Taubira in Marokkos Hauptstadt Rabat eintreffen, um zu versuchen, den Bruch wieder zu kitten. (Vgl. http://www.yabiladi.com/ ) Am 06. März 14 war allerdings bereits der sozialdemokratische Minister François Lamy – dessen Kompetenzbereich als Städtebauminister, zuständig für Frankreichs banlieues, ansonsten nichts mit den Beziehungen zu Marokko zu tun hat – dort. Anscheinend sind Verhandlungen zur Überwindung der Krise tatsächlich bereits in vollem Gange.

Diese bildet nur den vorläufigen Höhepunkt einer stürmischen Entwicklung im bilateralen Verhältnis, die seit Mitte Februar 2014 anhält. Vielleicht wollte es der Zufall, dass aus Sicht des marokkanischen Regimes zu viele Anstoß erregende Dinge in einem kurzen Zeitraum zusammenkamen.

Aktuelle Auslöser des Regimezorns

Am 18. Februar 14 führte der spanische Regisseur Javier Bardem einen Film zum Thema Westsahara – zu dem er sich seit langem engagiert – in Paris auf. Dazu gab er eine Pressekonferenz. Auf ihr fiel der inzwischen berühmt gewordene Satz, den ihm angeblich der französische Botschafter in den USA, François Delattre, im Jahr 2011 gesagt hatte: „Marokko ist wie eine alte Geliebte, mit der man sich jeden Abend bettet. Man liebt sie nicht besonders, aber man muss sie verteidigen.“ Eine Anspielung auf das Verhältnis sowohl der USA als auch Frankreichs, welche seit Jahrzehnten die hauptsächlichen Schutzmächte der marokkanischen Monarchie bilden, zu dem Regime. Es ist nicht bewiesen, dass der Satz wirklich ausgesprochen wurde. Gesichert ist hingegen, dass er das marokkanische Regime auf die Palme trieb. Und dass ein Vertreter der Polisario am folgenden Tag, dem 19. Februar, auf Einladung einer Unterkommission der französischen Nationalversammlung in Parlamentsräumen zu Gast war, dürfte seine Irritation noch gesteigert haben.

Wesentlich weniger in der überregionalen Öffentlichkeit bekannt ist eine weitere Begebenheit, die sich am selben Tag in Lille zutrug und in Wirklichkeit erhebliche politische Bedeutung aufweist.

Ebenfalls am 18. Februar 14 fand dort, in Lille, der Prozess gegen den mittlerweile betagten Rechtsanwalt Maurice Buttin statt. Er vertritt seit fünfzig Jahren die Familie von Mehdi Ben Barka, eines marokkanischen Oppositionsführers und Linksnationalisten, der im Oktober 1965 mitten in Paris entführt wurde. Seine Leiche tauchte nie auf und wurde mutmaßlich in Säure aufgelöst. Daran waren aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl französische als auch marokkanische Geheimdienste beteiligt. Jahrzehnte lang passierte im Ermittlungsverfahren dazu nichts – bis 2007 ein beherzter Untersuchungsrichter, Patrick Ramaël, die Sache an sich zog. Er holte die Akten aus der Schublade und stellte Haftbefehle gegen fünf führende marokkanische Geheimdienstkader aus, einige von ihnen waren noch aktiv und andere in Rente. Die französische Behörden wollten sich jedoch das Verhältnis zur marokkanischen Despotie nicht verderben lassen - und „versäumten“ es schlicht, die Haftbefehle auch weiterzureichen, wozu sie verpflichtet waren.

Anwalt Buttin plauderte dies nun in der Öffentlichkeit aus. Darum wurde ihm nun der Prozess wegen „Verletzung des Untersuchungsgeheimnisses“ gemacht, zu dem auf regionaler Ebene zahlreiche Bürgerrechtsorganisationen mobilisierten. 72 Vereinigungen und Verbände sowie über 400 Einzelpersonen unterzeichneten eine Petition zur Solidarität mit ihm. Nach fünfstündiger, an historischen Details reicher Verhandlung forderte die Staatsanwaltschaft den Freispruch. Das Urteil fällt am 15. April 2014, und würde Buttin je verurteilt, wäre dies der erste Schuldspruch überhaupt in dieser hochbrisanten politischen Mordaffäre – aber gegen die Opferseite. In marokkanischen Staatskreisen verfolgt man dieses Dossier sicherlich mit Luchsaugen. Eine Verurteilung scheint jedoch unwahrscheinlich.

Vorladung für den Häuptling der Folterer

Und damit war es der Ungemach noch nicht genug. Am 20. Februar 14 hielt sich der Chef des marokkanischen Inlandsgeheimdiensts DGST, Abdellaftif Hammouchi, zusammen mit Innenminister Mohammed Hassad in Paris auf. Diese Gelegenheit nutzte die französische Untersuchungsrichterin Sabine Kheris, um ihm einen Vernehmungswunsch mitteilen zu lassen. Sieben Polizisten klingelten also an der Residenz des marokkanischen Botschafters in Paris und überbrachten höflich die Vorladung. Hammouchi hielt es für angeraten, ihr nicht Folge zu leisten und schnell wieder auszureisen.

Die Untersuchungsrichterin war seit Ende 2013 mit einer Folterklage eines französisch-marokkanischen Doppelstaatsbürgers namens Adil Lamtalsi gegen den marokkanischen DGST-Chef befasst worden. Bei Foltervorwürfen kann die französische Justiz laut einer internationalen Konvention ausnahmsweise auch gegen Täter auf ausländischem Boden ermitteln. Lamtalsi wirft Hammouchi vor, persönlich Folterverhören im DGST-Gefängnis in Témara südlich von Rabat beigewohnt zu haben. Dabei seien ihm falsche Geständnisse wegen angeblichen Cannabishandels abgepresst worden. Seine Klage wird durch die von progressiven Christen gebildete Nichtregierungsorganisation ACAT (Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter), die normalerweise ihre Dossiers und Beweiselemente sorgfältig auswählt, betreut. Inzwischen sind seit Ende Februar 2014 nun gleich drei Folterklagen gegen Hammouchi in Frankreich anhängig. Zwei betreffen Doppelstaatsbürger, die in Marokko wegen Straftaten ohne politischen Hintergrund angeklagt wurde - die dritte jedoch einen Westsahara-Aktivisten, En-Naama Asfari, der beim spektakulären Schauprozess gegen zahlreiche Polisiario-Sympathisanten von Gdim Izik Anfang 2013 zu dreißig Jahren Haft verurteilt wurde. Ihm wurde die Beteiligung an Unruhen im Jahr 2010 vorgeworfen. Asfari zufolge wurden alle Geständnisse zu einzelnen Fakten in tagelanger Folter von ihm erpresst.

Das marokkanische Regime geriet nunmehr in echte Rage und empörte sich über die angebliche Verletzung diplomatischer Regeln – was jedoch dem Blogger und Juristen „Ibnkafka“ zufolge (vgl. http://www.yabiladi.com/ ) unzutreffend ist, sofern französische Polizisten nicht versucht haben, Hammouchi gewaltsam festzunehmen. Staatspräsident François Hollande rief König Mohammed VI am Montag, den 24. Februar d.J. persönlich am Telefon an, und Außenminister Laurent Fabius distanzierte sich eilfertig von dem „bedauerlichen Zwischenfall“, der „lückenlos aufgeklärt“ werden müsse – was wiederum zu einer erzürnten Reaktion der ACAT führte, die darin eine offene Verletzung der Gewaltenteilung sieht.

In marokkanischen Medien wird zwar, sofern sie nicht dezidiert unabhängig sind, die künstliche Empörung geteilt. Der Journalist Fahd Yata bezeichnete etwa in La Nouvelle Tribune die ACAT als „obskure NGO“, hinter der angeblich „die Polarisio und der algerische Geheimdienst“ stünden, was man getrost als puren Unfug einstufen darf. Nirgendwo lässt sich jedoch irgendein Medium herab, zu behaupten, die Existenz von Folter in Marokko sei überhaupt in Frage zu stellen. Dass es diese grundsätzlich gibt, wird überall stillschweigend vorausgesetzt, ob nun die konkreten Vorwürfe an Hammouchi in der Berichterstellung lediglich referiert oder vorgeblich entkräftet werden.

Hintergründe

Das marokkanische Machtsystem im Hintergrund beruht auf einer Art Doppelherrschaft. In ihm stehen das monarchische Herrscherhaus, ein traditioneller despotischer und auf feudalen Prinzipien basierender Apparat – genannt Makhzen – und parlamentarische Institutionen nebeneinander. Die Entscheidungen über Landbesitz, die Aufteilung wichtiger Pfründe in der Ökonomie (Importlizenzen) und viele „hoheitliche“ Fragen bleiben dem ersten Sektor überlassen: Keine parlamentarisch gewählte Regierung würden also bestimmte Besitzstände antasten, oder etwa sich trauen, an der Besetzung der Westsahara als „hoheitlicher“ Grundposition der Monarchie zu rütteln.

Die derzeitige stärkste Koalitionspartei der amtierenden „zivilen“ Regierung (vgl. Rolle rückwärts -
Marokko vor Regierungsumbildung
), die islamistische Partei PJD, gehört klar zum zweitgenannten und nicht zum erstgenannten Sektor. Der Thronsphäre und dem „Makhzen“ geben die PDJ-Kader zwar immer wieder die geforderten Loyalitätsgarantien ab, um nicht in den Geruch bzw. Verdacht zu geraten, an der Aufteilung zwischen den beiden Sphären rütteln zu wollen. Aber sie haben letztendlich keinen Machthebel, denn die Islamisten des PJD (als Partei der reaktionären Mittelklassen, z.T. mit Wählerschaft bis in die sozialen Unterklassen hinein) haben im monarchisch-feudalen Sektor nichts zu sagen. Im aktuellen Konflikt führen sie die Politik der marokkanischen Monarchie in der vorübergehenden Staatskrise mit Frankreich allerdings mit durch; bei ihrer Umsetzung führend beteiligt, qua Amt, ist der aus den Reihen des PJD kommende Justizminister Mustapha Ramid (vgl. Näheres über ihn: Neue Regierung im Amt, unter Anführung einer „moderat-islamistischen“ Partei).

Augenblicklich muss die PJD-geführte Regierung, vielleicht auch wegen ihrer sichtbaren Einflusslosigkeit in entscheidenden Fragen, mit einem starken Anwachsen ihrer Unpopularität kämpfen. Das „Vertrauen“ in Regierungschef ‘Abdelilah Benkirane (vom PJD) fiel laut einer Umfrage binnen einen halben Jahres um fünfzehn Prozentpunkte – von zuvor 68 % auf noch 53 % -, und die „Zufriedenheit“ mit seiner Politik sank von 53 % auf 43 %. (Vgl. http://www.aufaitmaroc.com) Nur das ebenfalls geringe Vertrauen in die organisierte Opposition bewahrt die PJD-geführte Regierung vor einem noch stärkeren Absturz. Die bürgerlich-nationalistische Oppositionspartei (und vormals mitregierende Formation) Istiqlal verspottet Benkirane unterdessen als Erfüllungsgehilfen, der sich „vor dem IWF verneigt“ (vgl. http://www.aufaitmaroc.com/); mit dem König würde er sich hingegen nicht so umzuspringen trauen…

Trotz einer relativen Lockerung des früheren Absolutismus durch die neue Verfassung vom Juli 2011, der monatelang Massenproteste – nach Tunesien auch in Marokko – vorausgingen, bleibt das Regime grundlegend undemokratisch. Folter gehört nach wie vor zur üblichen Praxis, zumal weite Teile des Polizeiapparats schlicht keine andere Methode der Beweiserhebung zu kennen scheinen. Allerdings sieht die neue Verfassung erstmals konkrete Entschädigungsmechanismen für Folteropfer vor.

Hinzu kommt, dass Marokko seit 1975 die frühere spanische Kolonie Westsahara besetzt hält. Dagegen kämpfen die Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario, aber auch das hinter ihr stehende Nachbarland Algerien – aus durchaus eigennützigen Gründen, in Algier hätte man gerne einen Zugang zum Atlantik. Teile der Strukturen der Polisario sind offenkundig längst tief in den algerischen Staatsapparaten integriert.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe