Texte zu Klasse & Partei

Die Dialektik von Partei und Massen in der chinesischen Theorie

von Frederico Stame, Nicoletta Stame und Luca Meldolesi (1967)

03/2016

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Vorbemerkung:

In dieser Ausgabe veröffentlichten angeregt durch die aktuelle ML-Diskussion in und entlang der DKP einen Text von Alexander von Plato zum Verhältnis von Einheit der Klasse und ihrer Partei, der aus der Auflösungsdebatte der maoistischen KPD 1979/80 stammt.

Platos Überlegungen geht über ein Jahrzehnt der Entwicklung des politischen Maoismus in Westeuropa voraus, dessen Anfänge in der italienischen kommunistischen Bewegung  verortet werden müssen.  Der nachfolgende Textauszug ( S. 7-11) soll diesen Zusammenhang im Hinblick auf die Parteitheorie veranschaulichen. Er stammt aus dem Aufsatz "La dialettica della rivoluzione" als Editorial der Zeitschrift "Classe e Stato" (No.3, Bologna, Frühjahr 1967, die deutsche Übersetzung besorgte Barbara Lagler, sie erschien 1971 in Westberlin).

"Classe e Stato", wurde herausgegeben unter Leitung von Frederico Stame und war eine der führenden Zeitschriften der italienischen Neuen Linken. Die fünf Hefte der Zeitschrift, die zwischen Herbst 1965 und Dezember 1968 erschienen, enthalten vor allem Beiträge zur Differenz zwischen revisionistischer und revolutionärer Strategie, zum Verhältnis zwischen Imperialismus und gegenwärtigem Kapitalismus und zur soziologischen Analyse des zeitgenössischen Kapitalismus.

Nicoletta Stame und Luca Meldolesi waren zeitweilig Mitglied der "Unione dei comunisti italiani (ml)". Von dieser Organisation stammt ein Papier über das Konzept "Untersuchen Kämpfen Organisieren", das im Sommer 1969 einige SDS-Genoss*innen, darunter der heutige konservative Welt-Autor Peter Schneider, aus Italien mitbrachten und damit die Gründung von maoistischen Gruppen in Westberlin anstießen.

 

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..... Das erste wesentliche Resultat, das sich aus dem chinesischen Expe­riment ziehen läßt, betrifft die Konzeption der Partei: als Organ des bewaffneten Kampfes in der Periode des revolutionären Kampfes und als vorantreibendes Element in der darauffolgenden Phase des Aufbaus der neuen Gesellschaft. Unterstreichen wir drei Aspekte dieser Problematik, die uns von allgemeiner Gültigkeit (d.h. nicht auf die chinesische Situation oder, allgemein, auf die unterentwickelten Länder begrenzt) zu sein scheinen:

1) die Bestimmung des revolutionären Subjekts;
2)
das Verhältnis zwischen Partei und Massen, das in der Konzeption der Partei als Massen-Avantgarde aufgehoben wurde, also: die Massenlinie als roter Faden des chinesischen Ex­periments, der sich heute in der Kulturrevolution wiederfindet;

3) die institutionelle Funktion der Partei.

Im Jahre 1927, zu einem für die interne Debatte der KPCh entschei­denden Zeitpunkt zeigte Mao (in: "Untersuchungsbericht über die Bau­ernbewegung in Hunan") einige Grundlinien auf:

"Die Götterfiguren sind ja das Werk der Bauern selbst, und wenn die Zeit kommt, werden sie die Bauern mit eigenen Händen fortwerfen; es bedarf da keiner anderen Leute, die das vorzeitig an ihrer Statt tun. Die Kommunistische Partei muß diesbezüglich in ihrer Propaganda fol­gende Regel beachten: 'Den Bogen spannen, doch den Pfeil nicht abschnellen, sondern den Schuß nur markieren'. Es ist die Sache der Bauern selbst, die Götterfiguren wegzuwerfen und die Tempel, welche den Frauen geweiht sind, die ihrem Gatten bzw. Verlobten in den Tod folgten, sowie die den keuschen und pietätsvollen Wit­wen errichteten Ehrenbögen niederzureißen; es wäre falsch, wenn andere das für sie täten." (AW I, S.48)

Hier besteht bereits die Konzeption der Partei und des Verhältnisses zwischen Partei und Massen, die das gesamte chinesische Experiment kennzeichnen wird.

Der bestimmende Gesichtspunkt der maoistischen Theorie der revolu­tionären Partei (und deren ideelle Weiterentwicklung auf interna­tionalistischer Ebene Lin Biaos "Es lebe der Sieg im Volkskrieg" sein wird) ist die Unterscheidung zwischen dem Subjekt der Revolution (den gesellschaftlichen Kräften) und dem Instrument des Kampfes (der Partei). Maos Position ist marxi­stisch, weil sie das westliche Modell der proletarischen Klassenpar­tei akzeptiert. Die KPCh ist keine Bauernpartei, ihre theoretische Voraussetzung ist nicht populistisch, aber das revolutionäre Subjekt sind die Bauern. Es geht um die revolutionäre und Klassenorganisa­tion, die vermittels der Anwendung eines Modells (der proletarischen Arbeiterpartei) auf eine unterschiedliche historische Situation durch­gesetzt wird; der Grund dafür ist einfach (und zugleich äußerst kom­plex): die Klassenanalyse führte dazu, das revolutionäre Potential in den bäuerlichen Massen zu erkennen.

In diesem Sinne hat die Position Maos (die zeitweise großen Schwie­rigkeiten ausgesetzt war; Mao befand sich in diesem Punkte in der Minderheit in der KPCh) zwei entgegengesetzte Gefahren vermie­den: das Umschlagen der Bauernrevolution in Populismus und das Gegenteil, die Unterordnung des revolutionären Prozesses im bäu­erlichen und "semi-feudalen" China, unter die zerbrechliche und zahlenmäßig schwache Organisation des städtischen Proletariats.

Die Lösung Maos war zugleich antidogmatisch (insofern sie die mechanische Anwendung eines in anderen Situationen kon­zipierten revolutionären Modells auf die chinesische Situation ver­meiden konnte) und dialektisch, insofern das Verhältnis zwischen revolutionärem Subjekt und Kampfinstrument nicht eines der Identität ist. Die Revolution machen die Revolutionäre: das ist das Resultat einer politischen (und nicht mechanisch soziologi­schen) Bestimmung der Entwicklung des revolutionären Prozesses und seiner subjektiven Komponenten.

Eine solche Lösung birgt objektiv eine Gefahr: zum Vehikel einer Trennung zwischen Partei und Massen zu werden. Ihr Durchsetzungs­vermögen gegenüber Phänomenen der Bürokratisierung wurde durch die Konzeption der Partei als Massenavantgarde und durch eine politische Praxis gewährleistet, in der die Avantgarde-Funktion der revolutionären Massen die Bildung und Entwicklung des Klassenbewußtseins und der revolutionären Theorie als einen Prozeß innerhalb der Partei selbst ermöglicht hat. Der Unterschied zum leninistischen Modell wird hier evident: in "Was tun?" wird das Klassenbewußtsein von außen in die Arbei­terklasse hineingetragen. Die marxistische Lehre entsteht als "Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozia­listischen Intelligenz". Die revolutionäre Partei geht so aus der Verschmelzung von zwei Faktoren hervor, die historisch konver­gieren: dem Erwachen der Arbeiterklasse und der Entstehung des wissenschaftlichen Sozialismus. Aber ohne die von der Partei ge­lieferte "externe" Theorie können Klassendasein und Klassenaktion den "Tradeunionismus", ihr unmittelbares Sein, nicht überschrei­ten, denn sie sind keine hinreichende Bedingung für die revolu­tionäre Organisation. Die leninistische Erfahrung stellt gewiß im Vergleich zur klassischen sozialdemokratischen Tradition einen entscheidenden Fortschritt dar, und die Situation des zaristischen Rußland liefert viele Argumente für die Analysen Lenins, - indes­sen besteht kein Zweifel, daß eine solche Konzeption der Partei von vornherein die Möglichkeit eines Bruchs der Kommunikations­und Legitimitätsbeziehungen zwischen Avantgarde (Intellektuellen und Berufsrevolutionären) und Massen enthält. Es ist nicht zu leug­nen, daß sehr starke historische Faktoren (mangelhafte Verankerung der Partei in den Bauernmassen, Dezimierung der revolutionären Ka­der während des Bürgerkriegs, usw.) die zukünftige Entwicklung der bolschewistischen Partei bedingt haben. Aber man muß in den Cha-rakteristika der leninistischen revolutionären Partei den Keim der sukzessiven bürokratischen Degenerierung in der Stalin-Ära sehen.

Das chinesische Experiment bestätigt erneut die Avantgarde-Funktion der Partei, mit dem Unterschied allerdings, daß der Entstehungspro­zeß der Avantgarde ein anderer ist. Vor allem ist sie nicht Ausdruck einer sozialen Gruppe außerhalb der revolutionären Massen, und es gibt keinen grundlegenden sozialen Unterschied zwischen Avantgar­de und Massen. Ihr Verhältnis wird zudem durch die Ablehnung des Begriffs "Berufsrevolutionärs" gesichert und gestützt; der revolutio­näre Kader definiert sich politisch, nicht beruflich. Man kann sagen, daß Lenin für die Partei unbewußt das Prinzip der Ra­tionalisierung und Spezialisierung der Funktionen akzeptierte, wie er, übrigens, das Theorie-Praxis-Verhältnis nicht mit derselben Klar­heit wie Mao erfaßt hat. Für Lenin ist die Bildung der revolutionären Theorie eine Entwicklung des Denkens; für Mao ist sie das Resultat der gesellschaftlichen Praxis, die ihrerseits durch die Theorie be­dingt ist.

Die Massenlinie in der Partei bedeutet folgendes: Kampf gegen die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit, konstan­ter Einsatz der Parteikader in der Produktion, Intensivierung der politischen Erziehung der Massen, Wechselbeziehung zwischen Par­tei, Armee und Massen, eine entschieden politische Bestimmung der militärischen Strategie und der Organisation der Ar­mee (d.h. die Ablehnung ihrer "Autonomie", was auch für alle an­deren technischen und spezialistischen Funktionen gilt). Diese praxisbezogenen Lösungen bezeugen, daß die chinesischen Kommu­nisten, was die Zukunft der Revolution anbetrifft, sich der Gefahr, die in der Trennung von Partei und Massen liegt, bewußt sind. Die "Massenlinie" beinhaltet also die Ablehnung einer permanenten Delegierung an die Partei; und die "Rektifikations"-Kampagnen sind das Mittel,um solche politischen Entscheidungen in die Tat umzusetzen. Heute verstehen wir, daß das Einschlagen "des kapi­talistischen Weges" nichts anderes bedeutet, als die Ideologie der Trennung und der Autonomie der Führer im Verhältnis zu den Mas­sen zu akzeptieren.

Die chinesischen Genossen haben während der Zeit des revolutio­nären Krieges lange Jahre hindurch die Gelegenheit gehabt, ori­ginäre Formen sozialistischer Demokratie in den Feldzügen und den militärischen Partisanenorganisationen zu erproben; sie hatten die Möglichkeit (die anderen historischen Experimenten, wie z.B. der sowjetischen Revolution, verwehrt blieb), die Kontinuität zwischen dem Prozeß der revolutionären Zerstörung und dem Prozeß des sozialistischen Aufbaus zu wahren, indem sie diesen in jener erprobten und verwirklichten. Es geht jedoch nicht nur um günstige historische Bedingungen: wenn heute - gegen die Ge­fahren der "Restauration des Kapitalismus" - der Rekurs auf die Massen möglich ist, dann nur, weil sie die wahren Protagonisten der chinesischen Revolution gewesen sind.

Die Formel "Einheit-Kritik-Einheit" ist die Anwendung der Mas­senlinie in der Partei: das Verhältnis zwischen Partei und Massen wird aufrechterhalten und verstärkt durch die permanente Organi­sierung von Techniken, die darauf abzielen, die Institutionalisie­rung der Trennung zwischen den Massen und der Führungsgruppe zu verhindern. Dieser Einsatz von Mitteln der Korrektion und der "Rektifikation" innerhalb der revolutionären Institutionen und un­ter den Massen ist das Ergebnis einer bemerkenswerten Sensibi­lität für Praxis; sie kann aber nicht ohne eine gleichzeitige strenge theoretische Bestimmung des widersprüchlichen Charakters des sozialen Prozesses erklärt werden.

Was die Partei anbetrifft, haben die chinesischen Genossen eine Reihe von für uns völlig neuartigen Praktiken entwickelt, die der Lösung und Uberwindung der inneren Konflikte dienen. Der Sta­linismus hat uns an die physische Eliminierung der Gegner ge­wöhnt; in der westlichen Arbeiterbewegung beschränkt man sich auf die politische Eliminierung. Die Chinesen praktizieren die politische Rückgewinnung der besiegten Gegner: "Die Krank­heit bekämpfen, um den Patienten zu retten". Respekt vor dem Menschen oder kluge Erhaltung aller für die Revolution notwen­digen Kräfte? Beides ist mit einer revolutionären Konzeption der gesellschaftlichen Praxis zu vereinbaren. Gewiß, man kann kei­nen besiegten Gegner ohne das Bewußtsein vom widersprüchlichen Charakter der Gesellschaft, d.h. von der dialektischen Natur und Funktion des Irrtums, zurückgewinnen; während es der linearen Konzeption der Entwicklung eigen ist, Gegner und Feind zu identifizieren. "Die Minderheit soll geschützt werden, denn manchmal liegt bei ihr die Wahrheit." (16 Punkte, Absatz 6)