Editorial
Chronist*innenpflicht

von Karl-Heinz Schubert

03/2017

trend
onlinezeitung

 

"Befreien wir uns also von der Chronistenpflicht, die die Zeitung von morgen flugs zur Zeitung von gestern macht, wählen stärker aus, welche Geschichten aus Politik, Kultur, Gesellschaft und Alltag uns wirklich wichtig sind, und überlegen, wie wir sie erzählen wollen."  
Aus: Die neue "taz.am wochenende"

In der letzten Ausgabe begannen wir mit der Text- und Materialsammlung  zu "100 Jahre Oktoberrevolution" und formulierten als Anspruch an uns selbst: "Wir werden hier Texte zur Oktoberrevolution veröffentlichen, wodurch diese als erster Kulminationspunkt im Prozess der globalen Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise untersucht werden kann." Das erweist sich zunehmend als ein nicht so einfaches Vorhaben.

Im Netz existiert z.B. die Dokumentensammlung "100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917-1991)" unter Federführung bürgerlicher Wissenschaftler erstellt. Dort wird jedem Dokument eine einführende Zusammenfassung vorangestellt, worin ihr Geschichtsbild als adäquates  Interpretationsschema vorgeben wird. Ob die von der jungen Sowjetmacht für das  Proletariat und für die armen Bauernmassen geschaffenen antikapitalistisch-rätedemokratischen Rechtsverhältnisse wie z.B. die "Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" oder "Das Grundgesetz der Rußländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik" heute noch Vorbildfunktion haben könnten, kann durch die Leser*innen nicht untersucht werden, da sie zwar erwähnt, aber nicht dokumentiert sind. Solche Texte virtuell zugänglich zu machen, steht daher für uns im Vordergrund. Dabei taucht die Schwierigkeit auf, dass z.B. etliche Dekrete in Lenins Werken 26 und 27 (dt. Ausgabe) enthalten sind, da sie aus seiner Feder stammten, diese aber textlich und damit punktuell auch inhaltlich von der Übersetzung abweichen, wie sie in der  "Illustrierten Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1928" vorliegt. Wir haben uns übrigens für letztere Quelle entschieden, nämlich um eine Vergleichsmöglichkeit zu Lenins Werken zu schaffen.

Unsere Text- und Materialsammlung ist, wie diese Bezeichnung nahelegt, von einem Doppelcharakter gesprägt. Zum einen sortieren wir dokumentarisches Material in chronologischer Reihenfolge - zum andern stellen wir wir diesem eine Auswahl von interpretierenden Texte zur Seite. Damit möchten wir erreichen, dass mittels jener thematischen Kombination durch die Leser*innen selber herausgearbeitet werden kann, wie sich die jeweiligen Klasseninteressen im historischen Prozess Geltung verschafften.

Also ganz im Gegensatz zu dem eingangs zitierten journalistischen Selbstverständnis der TAZ, wo die Chronologie von Ereignissen gezielt ignoriert wird, um Geschichte(n) nach dem postfaktischen Motto zu erfinden, "Wess' Brot ich fress', dess' Lied ich sing'.", wollen wir eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Daher greifen wir zu einer Darstellungsweise von Geschichte, worin nicht nur die tatsächlichen (Klassen-)Verhältnisse vorkommen, sondern wo auch die Bedingungen und die Perspektive der Aufhebung dieser Verhältnisse sichtbar werden.

Kurzum: Wir können und wollen uns nicht aus der Chronist*innenpflicht entlassen.

Das in diesem Sinne 2017 bei TREND entstehende Archiv der Oktoberrevolution soll sich aber nicht nur auf den revolutionären Prozess bis zum Ende des Kriegskommunismus beschränken - obgleich das der Schwerpunkt sein wird, sondern das Resultat des Scheiterns des Sozialismus, das sich (von heute aus betrachtet) mit dem Ende der NEP andeutete, im Blick behaltend, werden für dieses Thema zu den bereits seit 2000 veröffenlichten TREND-Texten weitere Texte hinzukommen.

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Dass, wenn es um politisches Handeln geht, immer Klasseninteressen im Spiel sind, ist zwar eine Binsenwahrheit, aber die Darstellung dieses Zusammenhangs anhand konkreter Ereignisse setzt eben die Analyse nicht nur der Ereignisse, sondern auch der ihnen zugrundeliegenden Bedingungen voraus. Das muss nicht unbedingt expressis verbis in der Darstellung geschehen, oft reicht auch eine Darstellung, die diesen Zusammenhang als Subtext transportiert. Von dieser Qualität finden wir in dieser Ausgabe gleich mehrere Artikel. So z.B. der von Antonín Dick, worin über das schäbige Verhalten der rot-rot-grünen Berliner Regierung und vom knechtischen Bewußtsein von Kommunalpolitiker*innen berichtet wird. Oder Bernard Schmids Bericht vom Wahlkampf des  Front National.

Wenn es um die Durchsetzung von Klasseninteressen geht, und das geschieht in der BRD zumeist von oben, dann folgt aus der Berichterstattung nicht notwendigerweise, dass holzschnittartig Widerstands- und/ oder Aufhebungsperspektiven mitgeliefert werden. Auf so etwas können Leser*innen auch selber kommen. Praktisch folgenlos bleiben hingegen theoretische Bemühungen, wenn z.B. Autor*innen, wie in dieser Ausgabe die "Gruppen gegen Kapital und Nation", zwar eine eloquente Deskription der AFD liefern - aber nur zu dem Zweck, um damit schlussendlich zu erklären, "wie die Menschen in eine kapitalistischen Staatenwelt eingebaut sind".

Quasi das ideologische Kontrastprogramm dazu kommt in dieser Ausgabe von den . Sie schlussfolgern aus ihrer Beschäftigung mit den "Arbeitskämpfen" bei Amazon:  "Wir sollten den Übergang von der Orwell'schen Kontrollmoderne hin zur subtiler lenkenden Postmoderne begreifen und angreifen.

Diese resumierende Umschreibung vergangener und gegenwärtiger kapitalistischer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse muss mensch nicht teilen, aber ihre Forderung "begreifen und angreifen" stellt die lobenswerte Absage an folgenlose Kontemplationen dar. Wer sich mehr für den Theorie/Praxis-Zusammenhang interessiert, sollte mal in der Rubrik Philosophie in dieser Ausgabe nachschauen. Dort findet sich dazu passend ein alter Text von Mihailo Marković.

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Zum Schluss noch ein interessantes Ranking vom 28.2.2017.
Ca. 92% der Zugriffe bei Infopartisan entfallen auf TREND