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Nr. 04-04
Notausgabe
3. April 2004

9. Jahrgang online

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Algerien
Bouteflika mit 83,5 Prozent "wieder gewählt"

von Bernhard Schmid, Paris

Eigentlich hätte alles ganz anders kommen sollen. Fast alle Beobachter hatten es angekündigt: Zum ersten Mal bei einer algerischen Präsidentschaftswahl schien der Ausgang tatsächlich nicht vorab entschieden zu sein. Bei voraus gehenden Wahlen hatte es einen "offiziellen Kandidaten" gegeben, so 1995 den General Liamine Zéroual und 1999 den "Konsenskandidaten" Abdelaziz Bouteflika. Diese Ära schien zu Ende. Denn zumindest gab es bei diesem Mal zwei institutionelle Kandidaten, zu denen noch vier chancenlose Bewerber hinzukamen. Doch dann wurde das offizielle Ergebnis verkündet: 83,5 Prozent der Stimmen soll der amtierende Staatschef am 8. April angeblich erhalten haben.  

Vorher schien das Rennen noch offen. Denn einerseits wurde Präsident Bouteflika auch in diesem Jahren in vielen Kommunen, durch die offiziellen Vertreter, wie ein bereits feststehender Wahlsieger empfangen. Blindenverbände und Fußballclubs wurden ebenso als offizielle Unterstützer für seine Kandidatur eingespannt wie religiöse Brüderschaften, Koranschulen und Vertreter traditioneller Regionalkulturen. Andererseits wusste der Kandidat der früheren Staats- und Einheitspartei zwischen 1962 und 1989, des Front de libération nationale (FLN, Nationale Befreiungsfront), Ali Benflis, den größten Teil der algerischen Presse und einen Teil des Staatsapparats hinter sich. Viele Presseorgane führen eine geradezu hasserfüllte Kampagne gegen den amtierenden Präsidenten durch, während Bouteflika sich seinerseits auf neu gegründete Zeitungen wie La Dépêche de Kabylie und das Staatsfernsehen ENTV stützen kann.  

Die private Presse, die durch einen für ein arabisches und afrikanisches Land außergewöhnlich unabhängigen und sogar frechen Ton bekannt ist, widerspiegelt ­ größerenteils - unterschiedliche Flügel der algerischen Oligarchie. Letztere besteht im Wesentlichen aus Angehörigen der ehemaligen Nomenklatura während der staatssozialistischen FLN-Ära, einer aus ihr hevorgegangenen neuen Bourgeoisie sowie höheren Militärs. Doch heute ist diese Oligarchie in sich mehrfach gespalten und fraktioniert, wobei die Streitfragen insbesondere die wirtschaftliche "Öffnung" und den Platz der algerischen Elite in einer "globalisierten" Ökonomie betreffen.  

Präsident Bouteflika und sein früherer Wahlkampfleiter (1999) und Premierminister von September 2000 bis März 2003, Ali Benflis, repräsentierten beide einen Teil dieser Oligarchie. Dennoch stehen beide heute für unterschiedliche Optionen ein. Hinter Bouteflika schart sich vor allem jener Flügel der neuen Bourgeoisie und aus anderen Teilen der Oberklassen, der aus dem rücksichtslosen Ausverkauf der vormals unter einer staatssozialistischen Entwicklungsdiktatur aufgebauten Nationalökonomie Gewinn bezieht. Ihre Gewinne resultieren meist aus Vermittlungs- und Lizenzgeschäften beim Import westlicher Waren. Diese sind in Algerien ­ aufgrund des höheren Produktivitätsniveaus ­ oft konkurrenzfähiger als die Produkte der Staatsindustrie, die in den 70er Jahren aufgebaut worden war, um eine von den westlichen Industriestaaten unabhängigere Entwicklung einleiten zu können.  

Seit Jahresmitte 2001 wurde etwa ein stattliches Bauprogramm vom Staat aufgelegt; im Lande fehlen mindestens zwei Millionen Wohnungen, und in der Hauptstadt Algier bewohnen durchschnittlich sieben Personen ein Zimmer. Zuvor hatte die vorübergehende Ölpreiserhöhung des Jahres 2000 mehrere Milliarden zusätzliche Dollar in die öffentlichen Kassen gespült. Aber zugleich verzeichnete die algerische Baustoffindustrie im Jahr 2003 ein deutliches Negativwachstum - weil die Aufträge für das erforderliche Material überwiegend an Importfirmen vergeben wurden. Dabei stopfen sich viele halbmafiöse Bourgeois die Tasche bei Vermittlungsgeschäften voll. Die Wohnhäuser werden jetzt von chinesischen Firmen hochgezogen, die dabei ihre eigenen Arbeiter aus China mitbringen und unter selbst für algerische Verhältnisse unglaublichen Bedingungen ausbeuten. Im Februar fand eine Protestdemonstration der chinesischen Arbeiter in Algier statt.  

Benflis ist der Chef der früheren Staatspartei FLN, die seit den Parlamentswahlen von 2002 wieder die stärkste Parlamentsfraktion stellt und bis vor elf Monaten an der Regierung teilnahm. Jetzt, repräsentiert er jenen Flügel der algerischen Führungsschichten, denen dieser "Ausverkauf" zu schnell und zu weit geht. Dass Bouteflikas Umgebung in den Jahren 2002 und 03 Anstalten machte, nunmehr auch noch private ­ vor allem US-amerikanische ­ Konzerne in die algerische Erdölindustrie einsteigen zu lassen, deren Nationalisierung 1971 die Grundlage des gesamten Entwicklungsmodells darstellte, sorgte für Abwehrreaktionen. Auch in Teilen des nationalen Unternehmerverbands, des "Forum des chefs d¹entreprise", hätte man gern etwas mehr Schutz für die vorhandene nationale Produktion gesehen.  

Doch dann entschieden sich, im Februar, sowohl der Unternehmerverband als auch der frühere Staats- und Einheits-Gewerkschaftsverband UGTA zu einer offiziellen Unterstützung für Bouteflika. Ein größerer Teil der Oligarchie, zu der auch der UGTA-Funktionärsapparat zu zählen ist ­ letztere bildete in der Vergangenheit eher eine "Massenorganisation" der Staatspartei, denn eine echte Interessenvertretung der Arbeiter ­ schien von einem Wahlsieg Bouteflikas auszugehen.  

Das schien insofern plausibel, als tatsächlich objektive Faktoren zu einer gewissen, fast erstaunlichen Popularität des Präsidenten in der Bevölkerung beitragen. Vor allem der starke Anstieg der Erdölpreise zu Anfang dieses Jahrzehnts: Das Barrel kostete beim Amtsantritt Bouteflikas weniger als 10 Dollar; in den Jahren 2000/01 kletterte der Preis bis auf 35, ja 40 Dollar. Zunächst wurden die Deviseneinnahmen in Staatsrücklagen gebunden, was auch einer Forderung des IWF entsprach, der darin eine Garantie für die Bezahlung algerischer Schulden erblickte. Fast 35 Milliarden Dollar liegen so derzeit auf der hohen Kante. Jetzt aber, im Wahlkampf, konnte Bouteflika durch die Kommunen ziehen und Schecks verteilen. In der Saharastadt Ouargla, wo der Präsident seinen offiziellen Wahlkampf Ende Februar eröffnete, ließ er umgerechnet 60 Millionen Euro liegen.  

In Ouargla war es auch, wo der Präsident handfest mit der Wut des sozial perspektivlosen Teils der Bevölkerung konfrontiert wurde: Anlässlich seines Besuchs kam es zu einem Riot von Jugendlichen und Arbeitslosen, die eine Polizeistation und andere öffentliche Gebäude abfackelten. In der Nachbarstadt Touggourt flogen gar Steine auf die letzten Autos im Präsidentenkonvoi. Soziale Friedhofsruhe herrscht nicht in Algerien, und ähnliche émeutes ­ oftmals Brotrevolten ­ hat es in den letzten zwei Jahren vielerorts gegeben. Dennoch erhofft der größte Teil der Bevölkerung sich nichts von der Perspektive einer politischen Veränderung. Denn sehr tief sitzen die Enttäuschungen nach den Erfahrungen mit dem "Sozialismus" des FLN, aber auch mit der reaktionären Utopie der Islamisten. Letztere waren vor einem Jahrzehnt zuerst als Rächer der Armen empfangen worden, versuchten dann aber ­ etwa in den "befreiten Zonen", jenen Armenvierteln, die durch die Staatsmacht vorläufig bewaffneten Islamisten überlassen wurden ­ ihre ideologischen Diktate der Bevölkerung aufzuzwingen. Die radikalsten Gruppen verübten am Ende, in einer Art Flucht nach vorne, sogar Massaker an der Bevölkerung, die ihre Unterstützung zunehmend zurückzog.  

Seit 1999 ist der Bürgerkrieg jedoch in den meisten Landesteilen zu Ende, abgesehen von isolierten ländlichen Zonen, wo bewaffnete Gruppen nach wie vor die Bevölkerung terrorisieren ­ auch weil sie von dem leben, was sie den Leuten abpressen und was diese längst nicht mehr freiwillig hergeben. Auch dieser relative Friedenszustand wird Bouteflika von vielen Leuten in Algerien zugute gehalten, auch wenn er real nicht viel dafür kann; denn der Bürgerkrieg ging 1998/99 zu Ende, weil die bewaffneten Fundamentalisten ihn verloren hatten und kaum noch Unterstützung genossen. Die radikal-islamistische Bewegung wiederum ist seitdem zerfasert. Ein Teil von ihr rief nunmehr zur Unterstützung von Präsident Bouteflika bei der Wahl auf; bei einigen Vertretern geschah dies aus eindeutig materiellen Gründen. Denn Bouteflika hat nicht nur seit 1999 jene bewaffneten Islamisten, die ihr Kriegsgerät niederlegten, amnestiert, sondern ihnen auch stattliche "Eingliederungshilfen" auszahlen lassen, die oftmals erhebliche Privilegien gegenüber der restlichen Bevölkerung darstellen. Der ehemalige Chef des bewaffneten Arms der "Islamischen Rettungsfront" FIS, Madani Mezrag, der von solchen Zahlungen profitiert hat, rief etwa zur Wahl Bouteflikas auf. Aber auch der frühere Auslandsvorsitzende der Islamistenpartei, der in Bonn lebende Rabah Kebir - dem andere FIS-Sprecher allerdings jedes Recht absprachen, im Namen der verbotenen Partei zu sprechen.  

Gestiegener Erdölpreis, Rückkehr zu halbwegs friedlichen Zuständen in weiten Landesteilen, Fehlen einer kollektiven Veränderungsperspektive oder der Hoffnung darauf: Die allgemeine Situation schien günstig für eine Wiederwahl Bouteflikas zu stehen. Dass er aber 83,5 Prozent der Stimmen erhalten soll, muss als ausgesprochen unglaubwürdig gelten.  

Wahrscheinlicher ist ein anderes Szenario: Der Kandidat Abdelaziz Bouteflika lag zwar im ersten Wahlgang in Führung, verfügte aber über keine absolute Mehrheit. So lautete auch ­ implizit ­ die Information, die drei der Gegenkandidaten Bouteflikas in der Wahlnacht abgaben, auf der Grundlage der Informationen, die ihnen von den Beobachtern in den Wahlbüros zugingen. Gemeinsam traten Ali Benflis sowie der Kandidat aus der berbersprachigen Minderheit Said Sadi, und der "moderate" Islamist Abdallah Djaballah vor die Presse. Ihnen zufolge hätte es einen zweiten Wahlgang, der offiziell bereits aufden 22. April angesetzt war, gegen Bouteflika geben müssen.  

Doch der Amtsinhaber musste befürchten, dass sich dann alle anderen politischen Kräfte gegen ihn zusammengeschlossen hätten, und aus diversen politischen Lagern Stimmen seinem Gegenkandidaten Benflis zugeflossen wären. Das deutete sich bereits mit dem gemeinsamen Auftritt der sonst so unterschiedlichen Präsidentschaftsbewerber an. Deswegen wohl ließ Bouteflikas Administration dann das Wahlergebnis doch noch "frisieren". Dafür spricht, dass die Zahlen erst am folgenden Tag gegen Mittag bekannt gegeben wurden, obwohl die Wahllokale spätestens um 20 Uhr schlossen. Dabei konnte der Wahlbetrug nicht in den Stimmbüros selbst erfolgen, denn dort waren dieses Mal zahlreiche nationale und internationale Wahlbeobachter präsent ­ die keine größeren Unregelmäßigkeiten beanstandeten -, sondern beim Zusammenrechnen der zahlreichen Einzelergebnisse im Innenministerium. Bei einem solchen Prozedere lässt sich eine objektiv vorhandene Tendenz verstärken - indem man etwa dem in Führung liegenden Kandidaten überhöhte Stimmenanteile zuschreibt -, allerdings nicht völlig umkehren.  

Warum aber 83,5 Prozent? Wären 52 oder 55 Prozent nicht glaubwürdiger erschienen? Es handelt sich wohl um eine Machtdemonstration: Bei einem niedriger ausfallenden Wahlsieg wären die Stimmen, die von unechten Ergebnissen gesprochen hätten, wohl lauter ausgefallen. So aber handelt es sich um eine klare Einschüchterung, denn das Signal lautet: Wir haben die Macht, auch ein eher grotesk wirkendes Ergebnis zu verkünden und daran festzuhalten.  

Ob Bouteflika tatsächlich die uneingeschränkte Macht besitzen wird, muss sich erst noch erweisen. Denn vor dem Hintergrund des Flügelkampfs in der Oligarchie zeigt sich auch die Armee gespalten. Generalstabschef Mohammed Lamari sprach sich in Interviews, etwa in der Militärzeitschrift El-Dscheisch (Die Armee), in kaum verhüllten Worten gegen Bouteflika aus. Dagegen fungierte ein anderer hoher Militär, Larbi Belkheir, als Präsidentenberater. Nicht geheuer ist vielen hohen Militärs etwa Bouteflikas Vorhaben, mehr persönliche Macht beim Staatspräsidenten zu konzentrieren. So will Abdelaziz Bouteflika in der Zukunft ein Referendum abhalten lassen, um eine Verfassungsänderung durchzusetzen: Das Amt des Premierministers soll abgeschafft, und die Führung sämtlicher Regierungsgeschäfte direkt beim Präsidenten angesiedelt werden. Nicht alle Teile der Oligarchie dürften eine übertriebene persönliche Mächtfülle Bouteflikas uneingeschränkt gut finden.  

 

Editorische Anmerkungen
Bernhard Schmid ist Journalist und Jurist in Paris. Von ihm erscheint im Frühsommer 2004 im Unrast Verlag (Münster) das Buch: "Algerien ­ Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land."
Der Autor schickte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung am 12.4.2004 mit der Bitte um Veröffentlichung.

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