Editorial
Über praktische Politik und theoretische Einsichten

von Miriam Verleger

04/06

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Im Wintersemester 1969/70 zählte die Rote Zelle an der Pädagogischen Hochschule (RotZeph) Westberlin rund 120 Mitglieder. Dies bedeutete, dass dort in etwa jede/r zehnte Lehrerstudent/in linksradikal organisiert war. Diejenigen, die kurz vor ihrem Abschluss standen, bildeten mit LehrerInnen aus Neuköllner Schulen die so genannte Berufspraxisgruppe. Da sich zeitgleich dazu die Organisationsfrage zum Hauptthema der revolutionären Kräfte in Westberlin herausgebildet hatte, beschloss mensch in der Roten Zelle der PH durch Flugblattaktionen vor Westberliner Schulen sowie Plakaten und Parolen an den Schulwänden die Bildung von "Roten Schulvorposten" als Keimzellen einer revolutionären Jugendorganisation zu propagieren. Die LehrerInnen sollten von "innen heraus" diese Aktionen unterstützen und die SchülerInnen motivieren, den "Schulkampf" aufzunehmen. Die Schule, die sich die RotZeph-GenossInnen damals aussuchten, hieß RÜTLI-SCHULE. Mehrere dieser PH-AbsolventInnen nahmen 1970 ihren Schuldienst an der Neuköllner Rütli-Schule auf. Und damit wären wir schon fast wieder in der Gegenwart angekommen. Doch zuvor einige unverzichtbare Hinweise über die vergangenen 30 Jahre.

Anfang der 80er Jahre übernahm eine LehrerIn aus dem Kreis der ehemaligen RotZeph-GenossInnen die Schulleitung der Rütli-Schule. Wenngleich die alten revolutionären Pläne in der Zwischenzeit beiseite gelegt worden waren, so blieben doch linke Ansprüche an den Beruf, die schablonenhaft als reformpädagogisch bezeichnet werden können. Damit entwickelte sich unter ihrer Federführung die Rütli-Schule im so genannten Brennpunktbezirk Neukölln zu einer Schule mit sozialintegrativen und innovativen Profil.

In den letzten Jahren veränderte sich die Zusammensetzung des Lehrerkollegiums erheblich. Gegen ihren Willen versetzte Lehrer aus dem Ostteil der Stadt übernahmen die Meinungshoheit an der Rütli-Schule. Bisherige diskursive Formen der Konfliktbewältigung wurden ersetzt durch eine rigide und zugleich hilflose Befehlskultur. Unter den LehrerInnen entstand ein Klima des Mobbings. Schließlich verabschiedete sich im Sommer 2005 die bisherige Schulleiterin in die Krankheit, nachdem sie von ihren KollegInnen bei der Schulaufsicht angeschwärzt worden war.

Seit Ende März 2006 ergießt sich nun eine wahre Flut an rassistischer Hetze über die SchülerInnen der Rütli-Schule.
  • "Was sich hier gewaltsam Bahn bricht, ist eine Folge wildwüchsiger Migration und mangelnder sozialer Integration." und weiter:

    "Die Minderheitenkultur des Landes wird im Kleinen zur Mehrheit und diktiert sogar noch die Sprache. Ein Klima der Angst und der Intoleranz macht sich breit; das einzige Fach, das gelernt wird, ist die kriminelle Karriere, was sonst."
    (Lothar Marold am 31.3.06)
     
  • Noch einmal der unsägliche Marold am 1.4.06: "Dass kulturelle Prägung aber nichts mit alledem zu tun hat, was in Neukölln geschieht, das ist ein Märchen aus 1001 Nacht." )
Überblick über Hetzartikel aus der bürgerlichen Presse

Die hatte ihren Ausgangspunkt beim Berliner Tagesspiegel, dem ein Brief des Kollegiums der Rütli-Schule an den Schulsenator Böger zugespielt worden war. Hierin hetzten die LehrerInnen über ihre SchülerInnen und wünschten sich diese vom Halse, was im Klartext bedeutete, die Schule zu schließen. Diese Hetze fiel auf einen vorbereiteten Boden. Seit Monaten hatten sich Politik und Medien auf Neukölln eingeschossen, um aktuelle soziale und Klassenkonflikte in einen Kampf der Kulturen umzumünzen. mittlerweile gibt es sogar eine Wikipedia-Seite über die Rütli-Schule, die scheinbar ganz neutral über den Schulkonflikt berichtet.

Wenn dies auch alles nicht überrascht, so ist es dagegen doch mehr als befremdlich, dass aus dem linken und radikalen Spektrum bisher kaum Sichtbares unternommen wurde, um den Rassismus und Fremdenhass, wie er sich gegen die Rütli-SchülerInnen stellvertretend  entlädt, zu bekämpfen und sich mit ihnen zu solidarisieren.

Liegt es etwa daran, dass es beim Thema "multikulturelle Gesellschaft" mehr offene Fragen als feste Antworten auf Seiten der Linken gibt?  (Vgl. dazu die diesbezüglichen Irrungen und Wirrungen bei Indymedia, völlig drunter und drüber geht es in dieser Frage bei Telepolis.).

Die MLPD  reagierte zwar sehr schnell, aber eben in den ausgetretenen ideologischen Bahnen des politischen Marxismus, der undialektisch alles auf die materiellen Verhältnisse herunter bricht, um die Betroffenen dann in seinen Reihen zu organisieren: "Die richtige Perspektive für die Schüler und Jugendlichen nicht nur in Neukölln ist, sich im Jugendverband REBELL zu organisieren und zu lernen, gemeinsam zu kämpfen!"

"Multikulti" ist mittlerweile ein Kampfbegriff, mit dem sich mittelständischer Fremdenhass larviert, um Ausgrenzungen durch soziale Verwerfungen plausibel zu machen. Wir haben daher aufgrund der aktuellen Ereignisse einen alten "Müllertext" zum Thema Multikulturelle Gesellschaft  in diese Ausgabe hinein genommen, um sozusagen am Gegenstand zu zeigen, was es  ideologisch zu berücksichtigen gilt, wenn mensch in diese Auseinandersetzungen (hoffentlich bald auf Seiten der SchülerInnen) eingreift.

Überhaupt ist praktische Politik immer mit theoretischen Einsichten zu verbinden. Daher gibt es ab April auch wieder die  Nachtgespräche, von den ich mir wünsche, dass sie ähnlich erfolgreich verlaufen, wie die "alten" Nachtgespräche des Partisan.net.

Von besonderer Bedeutung in dieser Ausgabe sind die vorzüglichen Texte von Bernhard Schmid über die Klassenkämpfe in Frankreich.

Wenn immer die Wertkritik wegen ihrer Verdrehungen der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie angegriffen wird, freut uns dies und wir spiegeln gerne entsprechende Texte. Ob der Text von Karl Reitter Das Kapital wieder lesen. hält, was er verspricht, das mögen unsere LeserInnen nachprüfen.

Schließlich haben wir noch einen "Klassiker"text zur Verbreitung erhalten:  Gesellschaftlicher Reproduktionsprozeß und Stadtstrukturen von Dieter Läpple. Seine Bedeutung sehen wir in Bezug auf des Wahlprogramm der WASG Berlin. Deren politischer Reformismus ist unbestreitbar, warum dieser aber auch polit-ökonomisch betrachtet einer ist und von daher so überflüssig wie ein Kropf, das ist eben bei Läpple nachzulesen.

Kurz und gut. Wir wünschen unseren LeserInnen für diese Ausgabe Lesegenuss und Erkenntnisgewinn.