Baron von Kraushaars willige Helfer
Wie die Skandalwissenschaft
den Medienbetrieb auf Touren bringt

von Markus Mohr & Hartmut Rübner
04/06

trend
onlinezeitung
Der Politwissenschaftler Wolfgang Kraushaar versucht sich als Extremismusforscher zu profilieren. In seinem neuen Werk Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus verhandelt er den erfolglosen Anschlag der militanten Gruppe „Tupamaros West-Berlin“ auf das dortige Jüdische Gemeindehaus am 9.11.1969. Dem Autor ist gewiß zuzubilligen, in seinen Publikationen das, was er für die radikale Linke hält, mitleidlos zu bekämpfen. Das kann man sicher auch mit schlecht geschriebenen wie recherchierten Büchern tun (vgl. junge Welt vom 15./16.10.2005). Eine Binse ist aber auch, daß der politische Zeitgeist sich in den letzten vier Jahrzehnten gerade für die radikale Linke aus ein paar guten und ziemlich vielen schlechten Gründen verändert hat. Vermutlich weiß das niemand besser als der noch in jungen Jahren als später Anhänger des Sozialistischen deutschen Studentenbundes (SDS) in Erscheinung getretene Wolfgang Kraushaar, der die 68er-Bewegung inzwischen nach dem Schema der Totalitarismustheorie untersucht. Im Windschatten des umtriebigen Demokratieverteidigers aus dem Hause Reemtsma („Hamburger Institut für Sozialforschung“) folgen einige rasende Nach- bzw. Mitläufer, deren Beiträge im Folgenden dokumentiert werden.

Markt und Meinung 

Die Presseresonanz auf das Buch Wolfgang Kraushaars über den Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus war außerordentlich groß. Mindestens 30 lokale und überregionale Gazetten nahmen sich des Themas an. Um was mag es dabei den Rezensenten gegangen sein?

Gewissermaßen als Appetizer für das vor der Auslieferung stehende Produkt platzierte Kraushaar in der FAZ vom 28. Juni das letzte Kapitel als Vorabdruck. Es enthält einige bemüht wirkende Vergleiche der nichtfunktionsfähigen Bombe mit dem surrealistischen Gemälde Ceci n’est pas une pipe von René Magritte und portraitiert Kunzelmann als eine Art deutschen Charles Manson. Das solcherart beehrte Blatt läßt zwei Tage später einen entsprechenden Reißer über die 68er als „Linke Judenhasser“ (FAZ vom 30.6.2005) folgen. Damit deutet sich bereits an, daß ein vorrangig auf die Funktion Kunzelmanns als Manipulateur und Impulsgeber konzentrierter Ansatz fortan eine Nebenrolle spielen würde. In den Vordergrund rücken stattdessen die in dem Buch enthaltenen pauschalen Schuldzuweisungen. Diese an die Adresse derjenigen aus der 68er Generation, die sich in den 1960er und 1970er Jahren einem militanten Protest verschrieben. Klar scheint den Rezensenten eines zu sein: „Die Märchenstunden von ’68 nehmen ein Ende“ (Berliner Zeitung vom 30.6.2005). Die FAZ zeigt sich ob der präsentierten Enthüllungsstory zudem erkenntlich und verlinkt das Medienprodukt auf ihrer Website mit einem Onlinebüchershop. Gleiches geschieht im Tagesspiegel. Nachdem Martin Jander dort das Buch wegen des „mit kriminalistischer Akribie durchleuchteten Abgrunds der deutschen Linken“ (Der Tagesspiegel vom 25.7.2005) hochloben darf, wird es seinen Lesern in einem wenige Mouseclicks entfernten Onlinebestellservice feilgeboten. Das sowohl von der FAZ wie auch dem Tagesspiegel redaktionell so gern proklamierte journalistische Neutralitätsgebot scheint zumindest in Sachen „Kritik an der Linken“ den eigennützigen Marketinginteressen nicht entgegenzustehen. 

Die Hochleistungsentsorgung linker Vergangenheiten 

Auch dem Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau schwant angesichts der „Bombe im Bewusstsein“ nichts Gutes für eben jene „Koalition von Wohlfühl-Linken, die seit einiger Zeit die Umbenennung der Berliner Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße und damit ihre eigene Selbsthistorisierung betreiben“ (FR vom 29.6.2005). Das Buch empfiehlt der Rezensent seiner Leserschaft einstweilen als „materialreiches Kompendium“ und – frei nach Micha Brumlik – als spannenden „Doku-Krimi“. Diesem anschwellenden Beifallssturm steht Jan Sternberg nicht nach und bewundert den „großen Coup des Investigativ-Wissenschaftlers Kraushaar“ (Märkische Allgemeine Zeitung vom 2.7.2005). Den fiktiven Faden einer Crimestory hatte tags zuvor bereits Stefan Reinicke aufgenommen, indem er außer der von Linksradikalen „nachinszenierten Reichskristallnacht“ auch ein 1970 auf ein israelitisches Altersheim verübtes Attentat, bei dem sieben Menschen zu Tode kamen, unbekannt gebliebenen Angehörigen der Szene zuschreibt (Taz vom 1.7.2005). Auch das rechtsradikale Lager läßt die Gelegenheit einer nachträglichen Entsorgung von Altlasten nicht ungenutzt verstreichen. Die „Beschmierung jüdischer Gedenkstätten ginge demnach nicht etwa auf das Konto ‚rechtsradikaler Antisemiten’“, sondern auf das der „linksradikalen, ‚antifaschistischen’ Szene“, weiß am 8. Juli die National-Zeitung zu berichten (vgl. auch Deutsche Wochenzeitung vom 8.7.2005).

Derweil fallen Volker Breidecker Arbeitsanweisungen für die künftige Forschungsausrichtung des Landes ein. In Anbetracht der Kraushaarschen Befunde gelte es „die Kultur- und Mentalitätsgeschichte der alten BRD nun ganz neu“ zu schreiben (Süddeutsche Zeitung vom 30.6.2005). Aus welcher Quelle die Erkenntnis stammt, daß „fast alle namhaften Faschismustheoretiker der Neuen Linken bei Ernst Nolte in die Schule gegangen“ sind, bleibt allerdings dessen dunkles Geheimnis. Sollte damit etwa der derzeit populäre, als „Historiker“ verkleidete Politikwissenschaftler Götz Aly gemeint sein? Der, der damals „an der Freien Universität Berlin dazugehörte“, bekennt sich heute dazu, den seinerzeit in der linksradikalen Publizistik durchaus kontrovers diskutierten Anschlag irgendwie „verdrängt“ zu haben (Die Welt vom 16.7.2005 sowie in einer gekürzten Zweitverwertung in der Berliner Morgenpost vom 23.7.2005) – ein Problem, das er mit vielen der Altvorderen hierzulande teilt. Auf diesen Umstand verweist jedenfalls Alys aktuelle Untersuchung über Hitlers Volksstaat. In seiner Bewertung der vermeintlich linken Protestbewegung kommt er zu bemerkenswerten Einsichten, wenn er diese in die Nachfolge der in der Tat auf dem Weg zur Herrschaft erfolgreicheren NS-Bewegung setzt: „Auch der Nazi-Protest der ‚Kampfzeit’ bezog seine Kraft aus der antibürgerlichen Agitation, aus der Lockerung der Sexualsitten, aus dem Versprechen der sozialen Emanzipation bis dahin unterprivilegierter Deutscher und aus den Propagandabildern von ‚plutokratischen’, ‚parasitären’, insgesamt ausbeuterischen und kriegstreiberischen ‚Weltfeinden’.“ Dank einer wohl in den turbulenten frühen 1970er Jahren eingeübten dialektischen Wendung vermag der geschulte Alt-Maoist Aly letzten Endes doch die positiven Wirkungen des linken Protestes zu entdecken: „Wenn es langfristig überhaupt positive Auswirkungen des Achtundsechziger-Protests gegeben haben sollte, dann nur deshalb, weil es den Gegenkräften gelang, diese zutiefst intolerante und antidemokratische Bewegung mit Hilfe der Staatsgewalt und einer entschlossenen Publizistik zu stoppen.“ Von daher sei Kraushaars Buch „eine Rose, die mit großer Verspätung“ auf das Grab von Mathias Walden zu legen sei. Gegen solche unerwarteten Avancen kann sich das 1984 verblichene Schlachtroß aus dem Hause Springer natürlich nicht mehr wehren. Dennoch ist der Laudator zu fragen, warum er 36 lange Jahre dafür brauchte, um zu dem zu gelangen, was Walden schon immer wußte. Denn denkt man Alys couragierte Überlegungen weiter, dann muß doch einiges bei ihm in dieser Zeitspanne schief gelaufen sein. Das ist einerseits schlimm, zeigt aber anderseits, welch verschlungene Wege ein Menschenschicksal zu gehen vermag!

Es mögen „solche versimpelten Weltbilder, durchsichtigen Immunisierungsstrategien und holzschnittartigen Pauschalisierungen“ gewesen sein, die Rudolf Walther dazu bewogen haben, Kraushaars „ebenso seriöses wie in mehrfacher Hinsicht wichtiges Buch“ gegen erwähnte Rezensenten in Schutz zu nehmen (Taz vom 25.7.2005). Den Widersachern in Gestalt der Polizei steht Walther indessen kritischer gegenüber. Was die Polizei aus „unklaren Gründen“ nicht geschafft habe, sei Kraushaar aber gelungen (Die Zeit vom 7.7.2005). Das Buch jedenfalls bietet ihm „präzise historische Forschung und kluge politische Analysen“. Diese sind offenbar zur Entstehung bislang ungeahnter Assoziationsketten geeignet. Dem lokalen Allroundkommentator der Frankfurter Rundschau für alle Lebenslagen, Micha Brumlik, stellen sich im Zusammenhang des Anschlags vor allem zwei Fragen. Die erste, nämlich ob die gesamte Linke seit dem 19. Jahrhundert antisemitisch war, weiß er überraschend schnell zu beantworten. Die deutschen und französischen Frühsozialisten, einschließlich des frühen und späten Marx, sowie, nicht zu vergessen, „viele russische Anarchisten“ waren demnach diejenigen, die sich schon vor langer Zeit als „glühende Judenhasser“ gerierten (FR vom 22.7.2005). Dieser Befund stellt den bisherigen Forschungsstand über die Ideengeschichte des Frühsozialismus, Marxismus und Anarchismus schlichtweg auf den Kopf. Kündigt der alerte Pädagogikprofessor hier vielleicht mit entsprechend originellen Thesen ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an? Auch die zweite Frage, ob die linksradikale studentische Jugend Westdeutschlands von „einem unbewussten Judenhass zerfressen war“, wird von Brumlik – man ahnt es bereits – bejaht. Im Abstand von mehr als 30 Jahren trete „ein den einzelnen Akteuren vermutlich unbewusster Gesamtzusammenhang hervor“, der sich in dem „Aufbegehren gegen die Generation nationalsozialistischer Eltern als widersprüchlicher Identifikationsprozess mit ihnen und ihrem Judenhass“ offenbare. Das ist in der Tat eine ziemlich komplizierte Trivialpsychologie. Brumlik möchte uns wohl damit sagen, daß die linksradikalen Kinder die antisemitischen Werteeinstellungen ihrer eigentlich bekämpften Eltern wohl unbewußt verinnerlicht haben. Das Buch Kraushaars will der Rezensent im übrigen „klinisch“ gelesen haben. Eine kritische Lektüre hätte gereicht!

Ein Beispiel für die angesprochenen Verdrängungsleistungen ist der auf die „Urszenen des deutschen Terrorismus“ spezialisierte Gerd Koenen. Der beklagt den „mörderischen Drive, den dieser linke Antizionismus als Teil eines zunehmenden totalitären Weltbildes gewinnen konnte“ (FR vom 19.7.2005). „Die Wirrsale einer politischen Generation und ihrer narzisstischen Bindung an die Verbrechensgeschichte des Dritten Reiches“ erscheinen ihm retrospektiv wohl zutiefst suspekt. Wer möchte dem widersprechen, steht doch ein ausreichendes Maß an Selbstreflexion der Verfestigung von Lebenslügen entgegen. Andererseits fällt es uns nicht ganz leicht, den sicher gut gemeinten Belehrungen Koenens zu folgen, der sich doch in den Jahren 1978 bis 1980 in maßgebender Funktion ganz der Solidaritätskampagne des Kommunistischen Bunds Westdeutschland mit dem weisen Staatspräsidenten Pol Pot aus Kambodscha verschrieb. Wenn nicht Koenen in seiner eigenen Biographie selbst „Teil eines latent totalitären Weltbildes [war], in dem es von ‚Schweinen’ jeder Art – Kapitalistenschweinen, Nazischweinen, Amischweinen, Zionistenschweinen – wimmelte“ (Berliner Zeitung vom 6.7.2005), wer dann? 

In Projektionsgewittern

Die bei Kraushaar ausgebreitete bunte Mischung aus Geheimdienstverschwörung, Drogenrausch, linkem Antisemitismus, palästinensischen Hintermännern und dem auch noch häßlich aussehenden „halbunzurechnungsfähigen“ Oberanarchisten Kunzelmann erwecken bei anderen „Terrorismusforschern“ rege Assoziationen. Der Nachwuchshistoriker Aribert Reimann diagnostiziert nichts weniger als ein „avantgardistisches Cross-Over“. War doch der jugendliche Kunzelmann im Bamberger Film-Club dem Einfluß von „insgesamt 163 Filmen des zeitgenössischen, aber auch des klassischen Avantgarde-Kinos“ ausgesetzt. Und dies anscheinend so lange, bis er seine „cineastischen Inspirationen“ auszuleben begann – eine eindrucksvolle kulturhistorische Komponente (FR vom 28.7.2005).

Im Anschluß an diese bislang unterbelichteten Details aus der situationistischen Frühphase des Antihelden wundert sich der von der Frankfurter Rundschau als Juniorprofessor empfohlene Christian Geulen, weshalb das Schwarzbuch des Kommunismus unlängst keine „Debatte über den linken Totalitarismus“ auslöste, wohl aber „die Dokumentation über eine Bombe, die nie explodiert ist“ (FR vom 6.8.2005). Ganz im Sinne der Totalitarismusforschung als angewendetem Verfassungsschutz keilt der Juniorprofessor reflexartig nach allen Seiten: „Linke wie rechte, religiöse wie atheistische Weltverbesserer“ seien für den eliminatorischen Antisemitismus verantwortlich. Irgendwie gewalttätig sei aber auch der junge Joschka Fischer gewesen; nicht zu vergessen die „gegenwärtigen linken Globalisierungsgegner um Attac“. Selten war „des Pudels Kern“ – eine von Geulen seinem Text vorangestellte filigrane Begriffsbildung – einfacher zu finden.

Was andere zuvor nur insinuierten, nämlich die Bedeutung eines generationsübergreifenden Antisemitismus von der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft bis zur APO, wird bei Jörg Später zur Gewissheit. Die APO sei es demnach gewesen, die den Antisemitismus eigentlich erst wieder „gesellschaftsfähig gemacht“ habe (Badische Zeitung vom 10.8.2005). Wen kann es da noch verwundern, daß hierzulande wieder 52% diesbezügliche Ressentiments offen zum Ausdruck bringen. In allen ihren emanzipatorischen Zielsetzungen gescheitert, wird die APO – nunmehr gewissermaßen zur GestAPO gewandelt – ein verspäteter Erfolg zuteil. Gut, daß dessen ungeachtet die meisten Bundesbürger den Massenterror der APO-Zeit irgendwie doch noch überlebt haben.

Daß die Bedeutung der West-Berliner Revolte in diesem politisch umgekehrten Sinne ins Unermeßliche gesteigert werden kann, läßt sich auch durch eine eingestreute Bemerkung der Taz-Journalisten Stefan Reinicke und Philipp Gessler im Interview mit dem Bruder des Attentäters, Tilmann Fichter, illustrieren. In unbefangener Weise richten sie an diesen die Frage: „Manche Sozialpsychologen lesen sogar die Straßenschlachten 1968 als Versuch der Kinder, die Gewalterfahrung der Eltern nachzuinszenieren?“ Die West-Berliner Straßenschlachten des Jahres 1968 als nachempfundenes Stalingrad? Wenn darin etwas Wahres liegt, dann muß noch einmal über die Rolle jenes tapferen Polizeiobermeisters Karl-Heinz Kurras nachgedacht werden, der den Studenten Benno Ohnesorg in den Abendstunden des 2. Juni 1967 vorsorglich in den Hinterkopf schoß (Taz vom 25.10.2005).

In der als „links“ geltenden Presse wird Kraushaars Buch ebenfalls registriert. Ein Beitrag in der vormals unter der Bezeichnung Arbeiterkampf u. a. auch antizionistisch engagierten, heute Analyse und Kritik genannten Zeitschrift, bewertet das Kraushaarsche Textkonvolut trotz einiger Einwände als ein „insgesamt solide recherchiertes Buch“ (a+k vom 19.8.2005). Im Neuen Deutschland vom 1.7.2005 hält man hingegen das „Rätselraten um die Hintergründe nun möglicherweise“ für beendet. In Anbetracht der offenen Fragen allerdings „nicht die ganze Geschichte also, aber doch ein ganzes Buch“. Dies trifft den Punkt. Joachim Feldmann beläßt es im Freitag vom 22.7.2005 in einem durchaus positiven Sinne bei einer ganz auf den Inhalt bezogenen Reflektion. Fragen über den Stellenwert des Antisemitismus in der damaligen Linken ergeben sich im Hinblick auf Kraushaars Buch für die Jungle World vom 6.7.2005. Der in diesem Artikel bereits aufscheinende Zwiespalt zwischen Zustimmung und Kritik an Kraushaars „Mission“ sollte nur kurz darauf, am 27.7.2005, den in dieser Zeitung wirkenden Antideutschen vom Dienst auf den Plan rufen. In einer denkbar einfachen Begriffsumdrehung stimuliert das Kraushaar-Buch Thomas Käpernick dazu, von einem „deutschen Diskurs“ zu sprechen, in dem „die deutsche Schuld endlich abgeschüttelt werden sollte“. Wenig verwunderlich dann, daß demzufolge „der linke Antizionismus“ nicht nur „etwas zutiefst Deutsches an sich“, sondern auch noch für „eine überraschend hohe Akzeptanz des Postfaschismus“ gesorgt habe. Bestand das Geheimnis des vehementen APO-Protestes gegen NSDAP-Kiesinger darin, doch für einen besseren Faschismus einzutreten? Man merkt hier: Der Antideutsche nimmt das Deutsche ziemlich genau – wie auch umgekehrt – in Augenschein. Ganz so einfach wollte es sich Stefan Ripplinger in seiner einige Wochen später publizierten Besprechung dann doch nicht machen. Zwar sei Kraushaar „mit bürokratischer Gründlichkeit“ vorgegangen, doch wolle der Verfasser angeblich „kaschieren, dass die Kommunarden, als sie Bomben in jüdischen und israelischen Einrichtungen legten, der Gesellschaft, aus der er sie exorzieren will, näher standen, als ihm lieb sein kann.“ Die These Ripplingers, „die Drop-Outs kehrten in die verachtete Gesellschaft zurück, indem sie einen antisemitischen Anschlag versuchten“ (Jungle World vom 24.8.2004), ist eine interessante Gedankenkonstruktion, die allerdings einer empirischen Überprüfung bedarf. Für Tjark Kunstreich indessen ist der vermeintliche Philosemitismus, „den die Attentäter der Gesellschaft austreiben wollten, in Wirklichkeit die Projektion ihres eigenen Philosemitismus“ – „eine Reaktionsbildung gegen den Antisemitismus der Eltern, der überflüssig wurde, als man (in den Palästinensern) eine andere Projektionsfläche fand“ (Konkret 8/2005). Kraushaar geht es – so das Argument – um die „Rettung der antiautoritären Revolte“, da er den Antisemitismus der Gesamtlinken in einer exklusiven Fraktion isoliert und dadurch gleichsam aus der Geschichte der 68er entfernt. Uns drängt sich nach der Lektüre des Buches ein gegensätzlicher Eindruck auf.

Das Verhängnisvolle an all diesen Projektionen ist der Umstand, daß den Subjekten diese psychologischen Mechanismen nicht bewußt sind. Als Objekte derartiger Übertragungsphänomene werden alle samt und sonders zu Opfern und Mitwirkenden eines allgegenwärtigen gesellschaftlichen Antisemitismus.

Grob zu unterscheiden sind in den hier vorgestellten Beiträgen mindestens drei verschiedene Gruppen von Rezensenten: die Generalisierer, die – in unterschiedlichen Abstufungen – entweder die Linke oder die bundesdeutsche Gesamtgesellschaft mit einem universalen Antisemitismusverdikt belegen die Projektionisten, die komplexe sozialpsychologische bzw. transgenerationelle Übertragungsphänomene am Werk sehen und die Dramatisierer, bei denen aus den „Höllenmaschinen“ der Tupamaros eliminatorische Massenvernichtungswaffen werden.

Nun: Die Tatsachen sind weniger spektakulär. Sofern die „Linken“ als relevante Gruppierung Teil der sie umgebenden Gesellschaft waren, blieben erstere nicht immun gegenüber diesbezüglichen Einstellungsmustern der letzteren. Und dies betrifft leider nicht nur den sich als Antizionismus drapierenden Antisemitismus.

Zuweilen drängt sich uns der Eindruck auf, als bezögen die Rezensenten ihre Schlußfolgerungen nicht aus ein- und demselben Buch. Es ist ganz offenkundig, daß es nicht wenigen Rezensenten in den Besprechungen um Größeres geht, als eben darum, ihre kostbare Zeit mit der Lektüre der Kraushaarschen Ausführungen zu verschwenden. Daß dabei die historisch gewordene radikale Linke Westdeutschlands, für die auch Kunzelmann neben vielen anderen exemplarisch steht, weder von dem bürgerlichen, noch vom antideutschen Feuilleton Gerechtigkeit zu erwarten hat, versteht sich von selbst.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erschien in  Gegner Nr. 17 (März 2006), S. 62-65 und wurde uns von den Autoren am 1.4.2006 zur Onlineveröffentlichung gegeben.

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