Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
FRANKREICH DICHT VOR DEN WAHLEN
(Teil 4): „Nationale Identität“, Nationalsymbole und Autoritätsverlangen im Wahlkampf

04/07

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Wenigstens für eine Gruppe hat der französische Wahlkampf schon jetzt unmittelbare soziale Verbesserungen gebracht. Seit dem frühen Vormittag des Ostermontag hat zwischen Ärmelkanal und Pyrenäen nun die „heiße Phase“ des Wahlkampfs zu den Präsidentschaftswahlen begonnen. Mit der Eröffnung der „offiziellen“ Wahlkampagne haben nun alle zwölf Kandidatinnen und Kandidaten ein verbrieftes Recht auf gleich viel Redezeit in Fernsehen und Radio. Den Startschuss gab http://fr.news.yahoo.com/, am Montag früh um kurz vor halb sieben Uhr, die Ausstrahlung eines fünfminütigen Fernsehspots des  linkspopulistischen Kandidaten und früheren „Bauernrebellen“ José Bové http://www.unisavecbove.org/. Gleichzeitig beginnt das Aufkleben der Wahlplakate, für die an vielen Orten durchnumierte Stellschilder bereit gestellt worden sind. Die Reihenfolge ist per Losziehung ausgewählt worden, die Nummer 1 erhielt dabei Olivier Besancenot http://besancenot2007.org/, ein Kandidat der radikalen Linken, und die Nummer 12 der konservative Kandidat und Ex-Innenminister Nicolas Sarkozy http://www.sarkozy.fr/home/. Den Zuschlag für das Anbringen der eine Million Plakate erhielt das Unternehmen Clear Channel Communications, dessen Firmensitz in Texas ansässig ist. 40 bis 50 Prozent der vom französischen Staat dafür  bezahlten Summe fallen für das Unternehmen unter Reingewinn. Eine Woche vor dem Stichdatum begann im südfranzösischen Nîmes ein Streik der Beschäftigten des Kommunikationsunternehmens, der sich rasch auszubreiten drohte. Die Ausständischen forderten höhere Löhne und eine Prämie für den Riesenauftrag.

Am Freitag Abend voriger Woche konnte, in letzter Minute, eine Einigung  http://www.liberation.fr/actualite/economie/246124.FR.php erzielt werden. Damit fällt wenigstens für die rund 1.000 Plakatekleber des Unternehmens etwas von diesem Wahlkampf ab: 50 Euro Lohnerhöhung pro Monat und 250 Euro Sonderprämie.

Ansonsten lässt sich nicht behaupten, dass sozialpolitische Wohltaten im Mittelpunkt des französischen Wahlkampfs stünden. Dabei markiert der Monat März eine entscheidende Wende: Bis dahin hatten die Themenfelder „Arbeit und Soziales“ die Auseinandersetzungen der Vorwahlzeit weitgehend geprägt. In den letzten Wochen wurden sie aber spürbar durch die Diskursthemen „Innere Sicherheit“, Autorität und „nationale Identität“ verdrängt. Damit einher geht ein Aufstieg des rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen in den Umfragen, der nun offiziell, je nach Institut, bei 15 bis 16 Prozent der Wahlabsichten liegt http://www.lemonde.fr/. Die Umgebung des aussichtsreichsten Bewerbs für den Elysée-Palast, des bis vor kurzem noch als Innenminister amtierenden Nicolas Sarkozy, schätzt unterdessen, dass Le Pen am Ende rund 20 Prozent der Stimmen erhalten und damit den Christdemokraten François Bayrou –- den sie bei rund 15 Prozent sehen -– überholen werde http://hebdo.nouvelobs.com/p2213/articles/a338583.html  Derzeit ist Bayrou in den Umfragen noch Dritter, und Le Pen liegt hinter ihm auf dem vierten Platz. Aber die Erfahrung lehrt, dass Jean-Marie Le Pen von den Meinungsforschungsinstituten in der Regel unterschätzt wird, zumal sich viele seiner Wähler nicht in der Öffentlichkeit zu ihrem Votum bekennen und Journalisten grundsätzlich misstrauen. Die jüngsten Auftritte Jean-Marie Le Pens und seiner Tochter Marine in den Pariser Trabantenstädten dürften den Kandidaten des Front National (FN) überdies noch auf Kosten von Sarkozy gestärkt haben. Aber der Reihe nach. 

Sozialpolitische Rezepte

Seit Jahresanfang waren zunächst die sozial- und wirtschaftspolitischen Themen dominierend gewesen. Auf der einen Seite warb der konservative Bewerber Nicolas Sarkozy für sein Prinzip „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ (Travailler plus pour gagner plus): Eine Ausdehnung der Arbeitszeiten, Vervielfachung der Überstunden – die zukünftig von Steuern und Abgaben befreit werden und dadurch „ermutigt“ sollen - und Verlängerung der Lebensarbeitszeit solle den abhängig Beschäftigten bessere Existenzbedingungen garantieren. Einziger Nachteil: Die Unternehmen würden dann auch insgesamt weniger Mitarbeiter benötigen. Das Argument lässt Sarkozy aber nicht gelten, denn seiner Auffassung nach müssten nure endlich die Ärmel wieder hochgekrempelt werden, dann werde der Motor der Wirtschaft schon brummen. Die „Abwertung der Arbeit“ durch die Ende des vorigen Jahrzehnts unter der damaligen sozialdemokratischen Regierung beschlossene Arbeitszeitverkürzung müsse aufhören; sie stehe am Ausgang einer „Sinnkrise“, aufgrund derer es der Nation und ihrer Wirtschaft schlecht gehe.

Auf der anderen Seite lockte die sozialdemokratische Bewerberin Ségolène Royal, die eine Politik ähnlich jener Tony Blairs anstrebt, mit relativ schwammigen sozialen Versprechungen: „So bald wie möglich im Laufe der Legislaturperiode“ soll der gesetzliche Mindestlohn substanziell angehoben werden, hieß es bei ihr etwa. Gleichzeitig forderte sie aber auch, die Franzosen müssten endlich „mit den Unternehmen versöhnt werden“, und sagte in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin ‚Challenges’ vom 29. März zu den Arbeitgebern: „Machen Sie Profite, bereichern Sie sich!“ (Titelschlagzeile) Weiter links wurden zwar erheblich weitergehende soziale Forderungen erhoben, fanden aber zunächst wenig Gehör, da die „kleinen“ Kandidatinnen und Kandidaten links von der Sozialistischen Partei in den Medien weniger Gehör fanden und zugleich sechs Bewerber in diesem Spektrum miteinander wetteifern. Erst in jüngster Zeit löste sich Olivier Besancenot, Vertreter einer eher undogmatischen marxistischen Linken mit 1968er Tradition, als profiliertester Kandidat in diesem Spektrum heraus, der laut der Titelschlagzeile von ‚Libération’ vom 6. April nunmehr links „aus der Menge herausragt http://www.politique.net. Er führt eine Wahlkampagne unter dem Motto „Unsere Leben sind mehr wert als ihre Profite“ und fordert eine Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer. Mit rund 5 Prozent der Stimmen dürfte er voraussichtlich Marie-Georges Buffet, die Kandidatin der Traditionskommunisten – Parteisekretärin des Parti communiste français und ehemalige Ministerin für Jugend und Sport in der letzten Linksregierung, vor 2002 – deutlich hinter sich lassen. Aber zu den unterschiedlichen Formationen der Linken werden wir demnächst noch in einem eigenständigen Artikel berichten. 

„Nationale Identität“ und „Sicherheit“ dominieren

„Identität, Sicherheit: Sarkozy setzt sich durch“ titelt die konservative Tageszeitung Le Figaro am 30. März triumphierend. Sie begrüßt die Wendung, die die Wahlkampfdebatte im Laufe des Monats genommen hatte: Die sozial- und arbeitspolitischen Themen schienen nunmehr Themen wie Nationalstolz und „Sicherheitsbedürfnis“ Platz zu machen.

Den Anfang dafür machte Nicolas Sarkozy, der aussichtsreichste unter allen Anwärtern auf den Elysée-Palast, am 8. März. Am Abend jenes Donnerstags schlug er in der Sendung ‚A vous de juger’ der Fernsehstation France2 eine neue Wortschöpfung vor, indem er für die Zeit nach seiner Wahl die Schaffung eines „Ministeriums für Einwanderung und nationale Identität“ in Aussicht stellte. Dieser Vorstoß war alsbald Gegenstand scharfer Kritiken. Die KP-Kandidatin Buffet etwa reagierte, indem sie Sarkozy aufgrund der Verkoppelung der beiden Begriffe „Zuwanderung“ und „nationale Identität“ vorwarf, „den ausländerfeindlichen und rassistischen Thesen Nahrung zu liefern“. Aber auch der christdemokratische Bewerber François Bayrou, der von Ende Februar bis Anfang April in den Umfragen einen starken Aufschwung erlebt hat – unter anderem dank unzufriedener sozialdemokratischer Wähler, die durch das schwache Erscheinungsbild der Kandidatin Royal und die Inkokärenz ihrer Vorschläge enttäuscht schienen - , distanzierte sich. Der christdemokratische Zentrumspolitiker argumentierte: „Die nationale Identität ist keine Angelegenheit für ein Ministerium. Wenn man ein paar Erinnerungen aus der französischen Geschichte hat, wenn man möchte, dass dieses Land zur Ruhe kommt, betreibt man kein Amalgam (Anm. d.A.: unzulässige Vermischung) zwischen diesen beiden Begriffen.“ Er fügte hinzu: „Das Erste, was man tun müsste, ist, die Leute nicht gegeneinander aufzuhetzen, indem man glauben macht, die Nation sei bedroht.“

In einem Leitartikel für die linksliberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ vom 20. März erinnerte ihr Zuwanderungsexperte, Philippe Bernard, an historische Lektionen. Nachdem er feststellte, die Rede von der nationale Identität verweise allein noch keinswegs automatisch auf das Vichy-Regime, fügt er hinzu: „In Wirklichkeit hat allein Vichy administrative Strukturen entwickelt, um eine bestimmte Konzeption der ‚nationalen Identität’ zu verteidigen. Das im März 1941 Generalkommissariat für Judenfragen CGQJ entsprach, bevor es (später) zum Instrument der Vernichtungspolitik wurde, dem Ziel einer Reinigung der französischen Nation. (...) Das heutige Frankreich ist selbstverständlich nicht jenes von 1940, und die nationale Identität in der politischen Debatte von heute zu zitieren, ist nicht automatisch frevelhaft. Aber auch nicht unschuldig. Dem Staat den Umgang mit einem wandelbaren Begriff anzuvertrauen, der niemandem im Besonderen gehört (...), die Nation auf die Zuwanderungsfrage zu reduzieren (...) bedeutet, das Risiko der Ausgrenzung und Willkür einzugehen. Denn das Organ, das Ministerium der Identität, wird die Funktion hervorbringen (Anm. d. A.: unter Anspielung auf einen Ausspruch des französischen Biologen Lamarck, einen zeitgenössischen Rivalen von Charles Darwin): das Sortieren zwischen den ‚guten’ und den anderen Einwanderern.  ‚Wenn der Staat sich in die Identität einmischt, ergibt das erschreckende Resultat, die mit der Demokratie unvereinbar sind’ schätzt der Historiker Gérard Noiriel, der soeben ein Buch über Zuwanderung, Rassismus und Antisemitismus in Frankreich publiziert hat. ‚Dem Staat die Aufgabe anzuvertrauen, eine nationale Identität zu definieren, die nicht definierbar ist, bedeutet, einen gefährlichen Schritt zu unternehmen, der an Vichy erinnert’, meint die Juraprofessorin Danièle Lochak.“ Der Karikaturist der liberalen Pariser Abendzeitung, ‚Plantu’, zeichnet Nicolas Sarkozy übrigens seit Wochen regelmäbig in einem Hemd mit der Armbinde ‚IN’ (für ‚Identité nationale’), das verdächtig an jenes Braumhemd mit der Armbinde ‚FN’ erinnert, mit dem er den Chef des Front National schon vor 20 Jahren darstellte.

In Gestalt der liberalen Zentrumspolitikerin – und Auschwitz-Überlebenden - Simone Veil hat auch eine Repräsentantin des bürgerlichen Lagers, die die Kandidatur Nicolas Sarkozys zum höchsten Staatsamt unterstützt, diesen Vorschlag des Politikers kritisiert und sogar als „mehr denn unvorsichtig“ bezeichnet. Als sie am 16. März im Elysée-Palast vom scheidenden Präsidenten Jacques Chirac eine Auszeichnung entgegennahm, zeigte sie sich laut Medienberichten ziemlich verärgert über die Auslassungen Sarkozys über das von ihm geplante Ministerium. „Immerhin, ich glaube, er benutzt dieses Wort nicht mehr“, erklärte sie aus diesem Anlass, nachdem die beiden bürgerlichen Politiker –- die sich später demonstrativ miteinander versöhnten -- am Tag zuvor eine Aussprach gehabt hatten. Und sie erklärte dabei: „Einwanderung und Integration hätte mir viel besser gefallen.“ In den folgenden Tagen schlug sie Nicolas Sarkozy vor, er möge seine neue Schöpfung doch lieber auf den Titel „Ministerium für Immigration und republikanische Integration“ taufen.

28 mal „Identität“ in einer Rede

Doch nichts half. Kurz vor der Intervention von Simone Veil hatte Sarkozy zwei Reden, am 11. März in  Caen http://www.u-m-p.org und am 13. März in Besançon http://www.u-m-p.org gehalten, in denen er die bedrohte nationale Identität als Schutzwall gegen den „Zerfall des sozialen Zusammenhalts“ und gegen die Verwerfungen der „Globalisierung“ verkaufte. Derselbe Kandidat, der wie kein zweiter für eine Entfesselung der Marktkräfte auf wirtschaftlichem Gebiet und für eine extreme Annäherung an die Politik der US-Administration Bush im Sinne einer neuen Achse Washington-Paris eintritt, beschwor die Gefahren eines „seelenlosen Kapitalismus“. Derselbe Kandidat, der (als Befürworter des UN-Angriffs auf den Irak) sich nicht entblödet hatte, am 11. September 2006 in Washington D.C. lauthals zu verkünden, die Mittelmacht Frankreich habe durch ihre Ablehnung des Irakkriegs durch Chirac im Jahr 2003 die Weltmacht Nummer Eins „erniedrigt“, malte nun vor französischem Publikum die Gefahr einer „Uniformierung der Welt“ durch die „Dominanz der englischen Sprache“ in finstersten Farben aus. In seiner Rede von Besançon, in der Sarkozy sich gegen reale und imaginäre Angriffe verteidigte und sich selbst als Opfer der Political Correctness -- der an einem Tabu zu rütteln gewagt habe – präsentierte, benutzte er nicht weniger als 28 mal die Worte „Identität“, „nationale Identität“ und „identitär“.

Aber auch nachdem Veil ihm ihre Meinung gegeigt hatte, fuhr Sarkozy in seinem Unternehmen fort. Am Abend des 15. März, nach ihrer gemeinsamen Aussprach, hatte der Kandidat in seinem Redemanuskript die Formel vom „Ministerium für Einwanderung und republikanischen Identität“ stehen. Doch bei seinem Live-Auftritt legte Sarkozy bei dieser Redepassage eine melodramatische Pause ein – und sprach dann doch wieder von der „nationalen Identität“. Zwar versuchte Sarkozy, wie auch schon bei seinen vorangegangenen Auftritten, seinen Begriff der „nationalen Identität“ mit bestimmten demokratischen Inhalten und Werten zu füllen: Die französische Identität, führte er etwa aus, seien die Republik oder die Gleichberechtigung der Frau, und wer diese bedrohe, „der hat in Frankreich nichts zu suchen“. Aber diese semantische Operation konnte kaum täuschen, denn dabei handelt es sich durchaus nicht um das Spezifische einer bestimmten Nation, sondern eben weitaus eher um universelle Werte. Umgekehrt gibt es auch Franzosen, die Antidemokraten sind oder ihre Frau prügeln – und dieses Problem wird kaum durch Abschiebungen, die bei gebürtigen Franzosen rechtlich nicht möglich sind, in den Griff zu bekommen sein. 

Die sozialdemokratische Kandidatin Ségolène Royal versuchte, darauf zu antworten, indem sie ihrerseits auf demselben Terrain nachzog. Bei einem Auftritt in Marseille forderte sie in einer Rede dazu auf, jeder französische Haushalt möge zukünftig eine Trikolorefahne in seinem Haushalt haben. Bei Fußballspielen solle sie herausgeholt, und am Nationalfeiertag (14. Juli) sollten die Häuser damit beflaggt werden. Royal glaubte damit an Popularität zu gewinnen, nachdem Sarkozy nach seinen umstrittenen Reden in den Umfragen um rund 4 Prozent angestiegen war. Aber laut einer Meinungsbefragung lehnte 85 Prozent der Interviewten ihrer Vorschlag ab, der dem Publikum offenkundig eher als Kitsch eingestuft wurde. Zugleich ließ Royal nun am Ende ihrer Veranstaltungen oft die Marseillaise, die Nationalhymne, gleich zwei mal hintereinander absingen und den Text ihrer Strophen auf ihre Wahlkampf-Homepage (www.desirsdavenir.org) stellen. Daraufhin zog sie sich jedoch eher Kritik von links zu, als dass sie an Terrain gewonnen hätte. José Bové warf ihr „Nationalismus“ vor, Olivier Besancenot betonte seinerseits seinen Internationalismus und hielt der Kandidatin entgegen: „Wir haben Nicolas Sarkozy, der hinter Le Pen herläuft. Wenn jetzt die Linke hinter Nicolas Sarkozy herläuft, dann lasse ich Euch raten, wer daraus Profit schlägt.“

Sicher, Ségolène Royal hat dabei immer wieder betont, sie sehe Frankreich als eine Schicksalsgemeinschaft, in der „man nicht fragt, woher jemand kommt, sondern wohin man (zusammen) geht“. Aber auch Nicolas Sarkozy erklärte in seinen Reden, Frankreich sei „keine Rasse und keine Ethnie“. Auch er betont die Idee der Nation als Schicksalsgemeinschaft, der man sich auch als Einwanderer oder Nachfahre von Immigranten anschlieben könne (Sarkozys eigener Vater kam aus Ungarn), deren Gesamtgeschichte man dabei aber akzeptieren und integrieren müsse. Bezüglich dieser Geschichte zitierte Sarkozy dabei in seinen Reden Jeanne d’Arc -– die im 15. Jahrhundert gegen die Engländer kämpfende „Jungfrau von Orléans“ wurden vor 150 Jahren durch die französischen Nationalisten wiederentdeckt, und dient heute der extremen Rechten als „Nationalheilige“ --  ebenso wie die Résistance, in Caen berief er sich auf die normannischen Eroberer und auf Charles de Gaulle. Und er zitierte mehrfach in seinen Reden den konterrevolutionären Schriftsteller Rivarol, der 1810 im Berliner Exil starb und nach dem die extreme Rechte eine ihrer traditionsreichsten Publikationen benannt hat, eine seit 1951 erscheinende pro-faschistische Wochenzeitung. Rivarol taucht etwa in Sarkozys Rede von Besançon als Zeuge für die Bedeutung der französischen Sprache für den nationalen Zusammenhalt auf. Damit will Sarkozy die Inhalte eines Jean-Marie Le Pen zugleich teilweise integrieren und sich auch wieder von ihm abgrenzen, indem er betont, die Nation sei „keine festgefrorene Einheit, sondern ein dynamisches Ganzes“. Diese Idee hat aber inzwischen sogar ein Le Pen in seinen Diskurs aufgenommen, der sich mit seiner Rede von Valmy (dem Schauplatz der Schlacht vom 20. September 1792, die zur Begründung der ersten Republik führte) erstmals positiv auf die Republik bezogen hat, da auch diese Bestandteil der Nationalgeschichte sei. In derselben Rede von Valmy appellierte Le Pen zum ersten Mal in einem Wahlkampf auch an die französischen Staatsbürger ausländischer Herkunft, sich ebenfalls als Teil der nationalen Gemeinschaft zu begreifen und ihn zu unterstützen. Das ist Bestandteil der „Entdiabolisierungsstragie“, die seine Tochter Marine Le Pen zur „Modernisierung“ der rechtsextremen Partei entworfen hat. Dieses Gesamtbild sorgt aber dafür, dass bei der Anrufung der nationalen Identität die politischen Grenzen immer stärker verwischen. 

Kopfloses Gegensteuern 

In den letzten 14 Tagen versuchte Ségolène Royal nun hektisch gegenzusteuern, und die sozial- und wirtschaftspolitischen Themen wieder stärker nach vorne zu rücken. Aber dieser eilige Versuch steigerte die Konfusion nur noch. (Vgl. dazu nebenstehenden Artikel zum Thema: „Sozialdemokratische Neuauflage des CPE?“)

Die linksliberale Tageszeitung ‚Libération’ vom Mittwoch, 11. April 07 stellt auf ihrer Titelseite fest: „Während sie immer noch hinter Nicolas Sarkozy in den Umfragen zurückliegt, hat die sozialistische Kandidaten Mühe, den Wahlkampf auf soziale Fragen auszurichten.“ Auch vor dem Hintergrund dieser reichlich chaotischen Versuche der Umgebung Royals, die Rede wieder stärker auf sozial- und arbeitspolitische Themen zu bringen, konnte die politische Rechte auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik und des Nationalstolzes in der Offensive bleiben und ihre Wahlchancen zugleich merklich aufbessern.    

Le Pen in den Banlieues, Sarkozy traut sich nicht 

Den letzten Akt in der „Sicherheits“debatte lieferten nun die Versuche der Kandidaten auf der politischen Rechten, die Banlieue (Trabantenstadtzone) als Kulisse für ihren Wahlkampf zu benutzen. 

Nicolas Sarkozy schleppt seit Wochen den Ruf mit sich herum, er traue sich nicht mehr, in den Sozialghettos der Trabantenstädte aufzutreten. Seit seinem spektakulären Auftritt in der Pariser Vorstadt Argentueil in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober 2005, bei dem er jugendliche Aufrührer als ‚Racaille’ (Gesocks, Gesindel) bezeichnete und der – zusammen mit dem Tod zweier Jugendlicher in Clichy-sous-Bois am übernächsten Abend – zum Auslöser für die Unruhen des Herbsts 2005 wurde, schlägt Sarkozy dort ein heftiger Hass entgegen. In ihm werden die Verantwortung für eine Politik, die nur den Leuten in den „besseren Vierteln“ diene, und für die alltägliche erdrückende Polizeipräsenz in hohem Mabe personifiziert. 1,8 Millionen bisherige Nichtwähler haben sich vor Ablauf des Stichdatums am 31. Dezember vorigen Jahres, nach entsprechenden Aufrufen von Bürgerrechtsvereinigungen, neu in die Wählerlisten eingetragen. In den Banlieues mehr als andernorts, denn frankreichweit beträgt die Zunahme an eingetragenen Wählern rund 4 Prozent, im Département Seine-Saint-Denis (das die nördlichen und östlichen Pariser Vorstädte umfasst) aber über 8 Prozent. Es wird vermutet, dass es sehr vielen von ihnen speziell darum gehe, gegen Sarkozy zu stimmen. 

Im Januar hatte Sarkozy hinaus posaunt, er werde im Laufe des Wahlkampfs an dieselbe Stelle in der Hochhaussiedlung Val d’Argent Argentueil zurückkehren, wo er seine berühmten ‚Racaille’-Ausspruch tat. Vor laufenden Kameras traf er sich mit den Angehörigen von „Bleu Blanc Rouge Argentueil“, einer vorwiegend aus Einwandererjugendlichen bestehenden Bürgerinitiative, die aus seinem Lager im Namen der Integrationsförderung mit viel Geld unterstützt worden ist. Aber irgendwie bekam Nicolas Sarkozy dann doch kalte Füße. Jedenfalls wurde es still um den geplanten Auftritt, der nie stattfand. Am 16. Februar verkündete Sarkozy dann –- entgegen seinen bisherigen Äußerungen zum Thema --, er finde das keine besonders gute Idee, denn er wolle nicht zu Wahlkampfzwecken „die Banlieue instrumentalisieren“. Dabei ist es dann geblieben. 

Am Donnerstag vorletzter Woche (dem 5. April) wollte Sarkozy dann doch noch Bilder nicht aus einer Banlieue, aber zumindest aus einem Unterklassenviertel einfangen. Während seines Besuchs in Lyon war ein Abstecher im Kleine-Leute-Stadtteil Croix Rousse angekündigt, wo er eine Schokoladenfabrik aufsuchen sollte. Dort sammelten sich alsbald junge Demonstranten, die auf Schildern verkündeten: „Vous n’êtes pas le bienvenu, Monsieur Sarkozy!“ (Sie sind nicht willkommen, Herr Sarkozy!) Und Nicolas Sarkozy kam nicht. Am selben Tag hieß es zunächst noch, „aufgrund einer Verspätung seines Flugzeugs“ habe er sich den Abstecher leider verkneifen müssen. Aber am Wochenende lautete die Version dann anders: Der Ex-Minister habe nicht „in eine von den Sozialisten aufgestellte Falle“ tappen wollen, denn sozialdemokratische Parteifunktionäre seien dabei beobachtet worden, wie sie Jugendliche zu Protestaktionen aufgestachelt hätten. Was durch Beobachter von vor Ort dementiert wird.  

Die Show gestohlen hatten Nicolas Sarkozy unterdessen Le Pen, Vater und Tochter. Zunächst war die 38jährige Marine Le Pen am Donnerstag, parallel zu Sarkozys verkorstem Lyonbesuch, auf einem Wochenmarkt in der nördlichen Pariser Vorstadt Aulnay-sous-Bois aufgetaucht. Dort schüttelte sie eifrig Hände, auch die von Immigranten und EInwandererkindern, denen sie versicherte, wer die französische Staatsbürgerschaft habe, werde durch den Front National ebenfalls als Teil der nationalen Gemeinschaft behandelt. Das ist zwar nicht völlig richtig, da die Partei in den neunziger Jahren in ihrem damaligen Programm noch die (inzwischen verschwundene) Ankündigung tätigte, sie werde alle nach dem Anwerbestopp für Arbeitsimmigranten von 1974 getätigten Einbürgerungen überprüfen und eventuell annullieren. Womit sie den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft durch „nicht Gebürtige“ auch zwanzig Jahre danach noch in Frage stellte. Jahrzehnte lang hat die rechtsextreme Partei auch französische Staatsbürger, deren Eltern oder Großeltern im Ausland geboren sind, in der Öffentlichkeit als ‚Français de papier’ (Franzosen nur dem Papier nach) bezeichnet. Im neuen Diskurs der Partei, mit dem Marine Le Pen die Ecken und Kanten abzuschleifen und die Partei auf der politischen Bühne zu „entdiabolisieren“ versucht, sind diese Spitzen nun freilich verschwunden. 10 bis 20 junge Mitglieder eines antifaschistischen Kollektivs, die spontan gegen ihren Besuch in Aulnay-sous-Bois protestierten, wurden durch Polizeikräfte vom Wochenmarkt abgedrängt. Ansonsten verlief ihr Auftritt in der multikulturell geprägten Stadt aber ohne gröbere Zwischenfälle. 

Am folgenden Tag passierte dann die kleine Sensation, die gut vorbereitet worden war: Jean-Marie Le Pen tauchte am Freitag, den 6. April im Val d’Argent in Argentueil auf, an jenem Ort, an den Nicolas Sarkozy sich offenkundig nicht hintraut. Gut, sein Auftritt war vorher nicht angekündigt worden: Selbst der Busfahrer war im letzten Moment vom Bestimmungsort der Reise informiert worden, und die mitfahrenden Polizisten und Journalisten wussten nicht, wohin es ging. Er dauerte auch nur eine halbe Stunde, und das zu einer Tageszeit, wo die Mehrzahl der Bewohner ihrer Erwerbstätigkeit nachgeht. Dennoch war das Symbol geschaffen, die Medien stürzten sich auf die Neuigkeit. Die Boulevardzeitung ‚France Soir’ machte am Samstag ihre Titelseite mit einem Foto von Jean-Marie Le Pen zwischen Kopftuch tragenden Frauen auf. Der Chef des Front National beugte argumentativ dem Vorwurf vor, er befinde sich (laut seiner eigenen Formulierung) auf einer „politisch-medialen Safari“: Dies treffe nicht zu, vielmehr gelte, „dass es für die nationale Rechte keine rechtsfreien Zonen gibt“. Den Bewohnern vor Ort versicherte Le Pen, sofern sie französische Staatsbürger seien – was nur auf einen Teil der Einwanderer, wohl aber für ihre auf französischem Boden geborenen Kinder zutrifft – fielen auch sie unter das Prinzip der ‚Préférence nationale’. Diese, vom Front National propagierte, „Inländerbevorzugung“ bedeutet den systematischen Vorzug für die Inhaber eines französischen Passes beim Zugang zu Sozialleistungen, Kindergeld, Arbeitsplätzen und Wohnungen. Und damit einen Bruch mit dem republikanischen Gleichheitsprinzip bei den sozialen Rechten. Aber Le Pen umarmte die Einwandererkinder im Val d’Argent symbolisch, indem er ihnen zurief: „Während bestimmte Leute Euch mit dem (Hochdruckreiniger) Kärcher säubern wollen“, unter Anspielung auf einen weiteren berüchtigten Ausspruch Sarkozys vom Juni 2005, „um Euch auszugrenzen, wollen wir Euch dagegen helfen, aus den Ghettos herauszukommen, in die Euch die französischen Politiker gesperrt haben, um Euch danach als ‚Racaille’ zu beschimpfen.“ Sein Besuch wurde durchaus unterschiedlich aufgenommen. Einige Jugendliche aus Einwandererfamilien behandelten den unerwarteten Besucher vor allem als Kuriosum, mit dem sie Fotos auf ihren Handys aufnahmen. Manche Eltern hießen ihn sogar willkommen. ‚Le Monde’ zitiert ferner aber auch einen arabischstämmigen Mann, der vor Ort war, aber Le Pen „wegen seiner Aussprüche über den Zweiten Weltkrieg und die Verbrennungsöfen“ verurteilt. Letzteres spielt auf Le Pens berüchtigtes Wortspiel „Durafour-crématoire“ (1988) an: Durafour war damals der Name eines jüdischstämmigen liberalen Ministers, und „four-crématoire“ bedeutet so viel wie Verbrennungsofen.  

Protest konnte sich nicht formieren, dafür blieb auch gar keine Zeit. Hinterher kommentierte Le Pen: „Ich habe einen schönen Brocken in den Vorgarten Sarkozys geworfen.“ Der Minister kommentierte unterdessen am Freitag, dass er keine Neigung verspüre, in die Siedlung Val d’Argent zu fahren: „Frankreich ist nicht bloß Argenteuil. Ich muss überall hinfahren!“ (Am vorigen Freitag, den 13. April hatte Nicolas Sarkozy dann doch noch, kurzzeitig, das Vergnügen: Er hielt sich eine Stunde lang in einer Hochhaussiedlung in Meaux oft, ohne dass es zu ernsthaften Zwischenfällen kam. Diese Stadt, 20 Zugminuten nordöstlich von Paris, wird vom langjährigen Regierungssprecher François Copé als Bürgermeister regiert. Aber den PR-Effekt hatte bis dahin längst Le Pen erzielt.)

Jean-Marie Le Pen hat unterdessen eine doppelte Botschaft erfolgreich abgeliefert: Einerseits, dass auch er nun zur Integration der Einwandererkinder in die nationale Gemeinschaft bereit sei, vor allem aber, dass er für diese in geringerem Maße eine Hassfigur darstelle wie Nicolas Sarkozy. Was im übrigen sogar zweifelsohne zutrifft, denn der frühere Innenminister bündelt sehr viel Abneigung in seiner Person als der unmittelbare Verantwortliche für die Polizeigewalt in den Banlieues und den Umgang der Ordnungshüter mit den Jugendlichen dort. Hingegen erscheint Le Pen vielen der dortigen Bewohner eher als ein Greis, der bloß redet, und das auch schon seit Jahrzehnten, und das bisher ohne sichtbare Folgen (auch wenn er natürlich sehr real das politische Klima beeinflusst. 

Aber gleichzeitig vollzog Le Pen auch einen Autoritätsbeweis in den Augen der rechten Wählerschaft: Er traut sich dort hin, wo der personifizierte Repräsentant der Staatsautorität ängstlich einknickt und kneift. Le Pen sprach von seinem Abstecher ironisch als einer „Safari“ (um sogleich die Idee zu dementieren, es habe sich um eine solche gehandelt). Immerhin hatte er noch im vorigen Jahr einen Witz gerissen, demzufolge sein erster Auslandsaufenthalt, würde er zum Präsidenten gewählt, in der Pariser Banlieue (der FN-Chef nannte konkret die Stadt Montfermeil) stattfinden würde. Die rechtsextreme Wochenzeitung Minute titelt dazu in ihrer letzten Ausgabe zu Le Pen und Sarkozy: „Ist Mut genetisch angelegt? Der eine hat was in der Hose, der andere nicht.“ Der Ausdruck „genetisch“ bezieht sich dabei ironisch auf Sarkozys Auslassungen im Philosophie Magazine vom April, wo er unter anderem – im Sinne konservativ-reaktionärer Kriminalitätstheorien – behaupteten, Tendenzen wie Suizidneigung und Pädophilie seien „angeboren“ und lägen in den Chromosomen. Während die linke und liberale Öffentlichkeit sich empörten, hatte Le Pen leichtes Spiel, sich zu distanzieren, indem er Sarkozys „Äuberungen zu den Genen“ als „absurd“ qualifizierte, ohne inhaltlich näher darauf einzugehen.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 15.4. vom Verfasser.

Teil 1
Sans papiers in Wahlkampfzeiten
Teil 2
‚François Bayrou, der Christdemokrat mit dem revolutionären Zungenschlag
Teil 3
Polemik über das „Projekt eines sozialdemokratischen CPE“

Wahlen in Frankreich
Eine AK-Veranstaltung mit dem Bernard Schmid

Am 22. April beginnen die französischen Präsidentschaftswahlen, 14 Tage später folgt der zweite Wahlgang, die Stichwahl zwischen den beiden führenden KandidatInnen. Im Juni wird es dann Parlamentswahlen geben. Der langjährige ak-Korrespondent Bernhard Schmid wird am 26. April in Hamburg nicht nur über den aktuellen Stand der Dinge berichten, sondern auch die Politik der linken Opposition und die Entwicklungen im rechten Lager behandeln. Letzteres ist auch das Thema seines dieser Tage im Pahl-Rugenstein-Verlag erscheinenden neuen Buches "Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus und modernisierter Konservatismus".

Hamburg-Altona, Donnerstag, 26.4.2007 20 Uhr, Motte, Eulenstraße 43, Seminarraum 1: Sarkozy, Bayrou, Royal, Le Pen - Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Vortrag und Diskussion