Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

« Islamdebatte » in Frankreich, die (ungefähr) 923.te:
,Liès et ses maîtresses’ - Eine Knöllchen-Affäre wird zur Staatsangelegenheit & Überlebensprobe für das Abendland

04/10

trend
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Um die – vor allem aus Afghanistan und Pakistan bekannte, jedoch auf französischem Boden ausgesprochen seltene – Burqa hat es in Frankreich schon seit mehreren Monaten eine Verbotsdebatte in den etablierten Parteien gegeben. (Diese wurde bei TREND bereits ausführlich behandelt. Im Zuge des Wahlkampfs, vor den französischen Regionalparlamentswahlen von Mitte/Ende März 2010, war die Polemik jedoch vorläufig abgeklungen. Doch Premierminister François Fillon hatte drei Tage vor der Wahl das – zwischenzeitlich für einige Wochen in vorübergehende Vergessenheit geratene – Vorhaben eines gesetzlichen Burqa-Verbots aus den Schubladen gezogen. Auf der Abschlussveranstaltung des Wahlkampfs der UMP in Nantes rief er vor Kameras und Mikrophonen aus, die Burqa sei in Frankreich „nicht willkommen“: „In einer Demokratie läuft man nicht maskiert herum!“

Inzwischen hat, Ende März 2010, der französische Conseil d’Etat - der oberste Verwaltungsgerichtshof - in einer Stellungnahme erklärt, ein generelles Verbot würde als rechtswidrig beanstandet werden; nur aus konkreten Gründen, etwa aufgrund der Notwendigkeit einer Identifizierung an einem Serviceschalter, könne eine solche Kleidungs(verbots)vorschrift erlassen werden. Doch prompt kündigte die Regierungspartei UMP mittlerweile an, dass sie sich darüber hinwegsetzen möchte, um zu versuchen, trotz juristischer Bedenken noch „vor dem Sommer 2010“ ein Totalverbot auf Biegen und Brechen durchzusetzen.

Am 21. April 10 erklärte nunmehr Staatspräsident Nicolas Sarkozy, er haben einen Beschluss zugunsten eines gesetzlichen Totalverbots gefällt – während Premierminister François Fillon ungefähr zeitgleich erklärte: „Wir sind bereit, juristische Risiken einzugehen.“ Am 19. o5. 2010 soll der Gesetzesentwurf dazu nun vom Ministerrat (Kabinett) verabschiedet werden, bevor er ins Parlament eingebracht wird.

Passend wie gerufen dazu kam am letzten Aprilwochenende (24./25. April) eine „Affäre“ im westfranzösischen Nantes. Dort war eine Autofahrerin, die – neben einem Kopftuch – auch einen Gesichtsschleier getragen hatte, kontrolliert und wegen „Fahrzeugführung mit beeinträchtigten Sichtmöglichkeiten“ zu einer Geldstrafe von 22 Euro verdonnert worden. So weit, so unbedenklich.

Doch die Angelegenheit wurde schnell zur politischen Affäre hochgekocht – und zwar sowohl durch die Dame selbst (die, statt die 22 Euro für die Ordnungswidrigkeit mit oder ohne Zähneknirschen zu zahlen, am 23. April eine Pressekonferenz einberief) als auch durch die Regierung. Erstere, die in Rezé, einem Vorort des französischen Nantes, wohnhaft ist, suchte sichtlich die optische und politische Provokation: Eine Pressekonferenz mit „Vollverschleierung“, das hat von der Geste her ungefähr dieselbe Symbolik, welche in der Vergangenheit auch die Pressekonferenzen von zu „Staatsfeinden“ aufgebauschten Vermummten (etwa Kapuzen tragenden korsischen Nationalisten auf ihrer legendären Pressekonferenz in Tralonca, 1996) ausstrahlten. Also eine auf Bildern beruhende vermeintliche „Herausforderung“ an ein – staatliches oder anders – Gegenüber, auch wenn das Ganze mit harmlosen, uninteressanten oder langweiligen Inhalten einhergehen mochte. Der Protzeffekt ist dabei stärker als die inhaltliche Radikalität. Aber wen juckt’s? Auch für die Regierung war die Sache ihrerseits ein äuerst gefundenes Fressen: Die Gefahr für die, wahlweise, Sicherheit oder die nationale Identität – da hockt sie vor aller Augen!

Innenminister Brice Hortefeux (welch selbiger übrigens am 16. April 10 wegen rassistischer Aussprüche vor ein Pariser Gericht zitiert worden war, das Urteil fällt Anfang Juni) posaunte in allen Medien hinaus, er habe Einwanderungs- und Identitäts-Minister Eric Besson in einem Brief aufgefordert, dem Ehemann der 31jährigen seine französische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Sein Ministerkollege Besson erklärte daraufhin, dies tatsächlich prüfen zu wollen. Grundlage des „Denunzierungsschreibens“ vom Innenminister an seinen Kabinettskollegen ist eine polizeiliche Untersuchung zur rechtlichen Situation des Ehepaars – infolge einer kleineren Ordnungswidrigkeit (die 22 Euro kostet), und sei sie von einer Pressekonferenz der Übeltäterin gefolgt, eher ungewöhnlich.

Es habe sich nämlich herausgestellt, so begründete Hortefeux seine „Denunzierung“, dass der Ehemann in Polygamie lebe (welche strikt verboten ist) und ferner „Sozialleistungen erschlichen“ habe, da nämlich „jede seiner vier Ehefrauen Kindergeld als Alleinerziehende“ für seine angeblich zwölf Kinder beantragt habe. Einer der Clous an der Sache ist jedoch, dass dies – also das Beziehen von Kindergeld als alleinerziehende Elternteile -, (sofern die Darstellung der Sache zutrifft) überhaupt nur möglich war, weil mindestens drei der Frauen eben nicht mit dem Mann verheiratet waren.

Er mag sie (eventuell von einem passend gefällten Imamspruch abgesegnet, der eine religiös legitimierte „Zeitehe“ – wie manche Varianten des Islam sie anerkennen – oder einen informellen Eheschluss anerkannte) auerhalb jeder rechtlich anerkannten Ehe geschwängert haben. Gut möglich, mag sein. Aber dies ist nun einmal nichts, was in der französischen Gesellschaft derart ungewöhnlich wäre. Frankreichs Starkoch Paul Bocuse war sein Leben lang stolz darauf, erklärtermaen permanent eine Ehefrau und zwei Geliebte unterhalten zu haben. Ansonsten gilt für den Mann in Nantes, wie die Boulevardzeitung ,Le Parisien’ oder das Internetportal ,Le Post.fr’ richtig feststellten, dass die Vorwürfe betreffend sein angebliches Privatleben „nur schwer zu beweisen sein dürften“. (Auch sonst dürften da so einige Beweisprobleme auftauchen. Die unpolitische bis rechtslastige Boulevardzeitung ,France Soir’ etwa macht an diesem Montag, den 26. April - an die erforderlichen Instinkte für eine Menschenjagd appellierend - unter dem Titel auf: „Soll man diesen Mann bestrafen?“ Unter dem Foto des Betreffenden. Im Blattinneren erfährt man, er solle „zwischen vier und sieben Frauen“ haben. Nach besonders gesicherten, und juristisch wasserdichten, Erkenntnissen klingt dies nun nicht gerade.)

Inzwischen hat auch der Betreffende selbst reagiert. Inzwischen kennt man auch seinen vollen Namen, nachdem sein Foto ohnehin schon seit drei Tagen von sämtlichen Zeitungsständern herunter prangte, während von seinem Namen nur seine Initialen „L.H.“ bekannt waren. Nun ist seine Identität bekannt: Liès Hebbadj, geboren 1975 in Algier, aber als Kleinkind nach Frankreich gekommen und dort aufgewachsen; seit 1999 französischer Staatsbürger, aufgrund seiner Heirat mit einer französischen Staatsbürgerin (der heute 31jährigen Autofahrerin „mit eingeschränkten Sichtfähigkeiten“). Er soll dem Tabligh, einer charismatisch-pietistischen Islamistenbewegung – eher ohne umstürzlerischen Anspruch – angehören. Kurz, einer sektenförmigen Glaubensrichtung, ihr Name kommt von al-tablighat (Werbung, Reklame, auch: Propaganda), die sicherlich auch das soziale Alltagsleben ihrer Mitglieder sichtbar prägt. Liès H. gilt als umstrittene Persönlichkeit in der moslemischen Bevölkerung in Nantes, wo er diversen geschäftlichen Aktivitäten zwischen dem Betreiben eines Internetcafés und Autohändlertätigkeiten nachgehen soll.

An diesem Montag, 26. April 10 stand Liès Hebbadj nun in der französischen Presse Rede und Antwort zu den Vorwürfen, die an ihn gerichtet waren. Und er antwortete auf durchaus nicht unintelligente Weise: Nein, er sei überhaupt nicht polygam; und er prüfe, ob er nicht Strafanzeige gegen den französischen Innenminister wegen „Diffamierung“ erstatte. Ja, er räume ja ein, dass er „Geliebte“ (des maîtresses) gehabt habe oder habe. Aber dies sei nicht verboten. Oder wolle man „allen Franzosen, die Geliebte haben, ihre Staatsbürgerschaft entziehen“? (Vgl. http://actu.orange.fr/ oder http://www.lexpress.fr/)

Bemerkenswert für einen mutmaßlichen Islamisten: Er positioniert sich auf diese Seise ausdrücklich auf dem nicht-religiösen Terrain, jenem des Pragmatismus (statt zu antworten, Allah und der Qoran erlaubten ihm nun einmal so-und-so-viele Ehefrauen, und er kacke auf das weltliche Gesetz). Und er setzt sich dabei selbst mit x-beliebigen Franzosen, ergo „Ungläubigen“ , gleich respektive stellt sich mit ihnen auf eine Stufe. Es mag ja sein, dass er unter „Seinesgleichen“ anders argumentieren – nämlich mit der göttlichen Autorität des Qoran etcétera um die Ecke kommen – würde. In diesem gesellschaftlichen Kontext jedoch argumentierte er, sozusagen, völlig säkular... – Dies nur als kleine Ironie der Geschichte, am Rande. Ansonsten ist höchst wahrscheinlich, dass der 34- oder 35-jährige französisch-algerische Doppelstaatsbürger gesellschaftlichen und „religiösen“ Vorstellungen (wohl zum Teil „Marke Eigenbau“) anhängt, mit denen Unsereins aus gutem Grund herzlich wenig zu tun haben möchte.

Die Sache löste eine Polemik aus, nachdem die sozialdemokratische Parlamentsopposition den beiden Ministern vorwarf, einen ungeklärten Einzelfall aus durchsichtigen politischen Gründen aufgebauscht zu haben. Gleichzeitig lobte der Rechtsextremenführer Jean-Marie Le Pen – jedenfalls dieses Mal – den amtierenden Innenminister Hortefeux, und sprach von einem Skandal in Gestalt von „Burqatragen, Polygamie und Missbrauch unserer französischen Sozialleistungen“. Und er fügte hinzu, falls er selbst „an der Macht wäre, dann würde ich das Bodenrecht (ius soli) abschaffen.“ Unverzüglich. Um der französischen Staatsangehörigkeit solcher Menschen wie eben Liès Hebbadj den Boden unter den Füen zu entziehen. Nur, das war echt „Thema voll verfehlt“: Monsieur L.H. ist nämlich gar nicht in Frankreich geboren, obwohl dort aufgewachsen, und daher auch gar nicht durch das „Bodenrecht“ Franzose geworden. Vielmehr verdankt er seine Staatsbürgerschaft seiner 1999 geschlossenen Ehe mit einer Französin. Eben der Dame hinter dem Steuer des Autos, und auf der Pressekonferenz – über die man ansonsten sagen kann, was sie möchte (etwa sicherlich, dass sie einer Art Sekte mit teilweise verquasten Vorstellungen angehört), aber wohl kaum, dass sie besonders unterwürfig sei.

Doch was zunächst kaum jemandem auffiel: Am untauglichsten ist dieser „Skandal“ dann, wenn es darum gehen soll, im Kontext der Debatte um den Platz „des Islam“ und um die „nationale Identität“ eine Grenze zwischen „Uns“ und „Ihnen“, zwischen dem „Eigenen“ und den „Fremden“ zu ziehen. Die werte Dame von Nantes ist nämlich, wie ungefähr die Hälfte der (wenigen) Burqaträgerinnen, eine im Erwachsenenalter zum Islam konvertierte weiße „Herkunftsfranzösin“. Ihr Mann hingegen ist ein im Kindesalter nach Frankreich gekommener und dort aufgewachsener Algerier. Jedenfalls der Ehefrau als „Herkunfts-Französin“ – die wohl keine zweite Nationalität zusätzlich besitzt –kann man folglich die Staatsbürgerschaft auch nicht entziehen.

Ein Gutteil der Ganzkörperverhüllung tragenden Frauen im Land sind gleichfalls Konvertitinnen und „Abstammungsfranzösinnen“ – handelt es sich doch eher um ein Sektenphänomen, und es ist allgemein bekannt, dass frisch Konvertierte oft die extremsten oder verrücktesten Anhänger/innen ihres jeweiligen neuen Glaubens abgeben. Als die Polizisten die Dame am Steuer ihres Autos kontrollierten, hielten sie die Fahrerin mit den Worten auf: „Das (ihr Kleidungsstück) ist bei uns nicht willkommen.“ Woraufhin sie – in der Sache durchaus richtig - erwiderte, „bei uns“, das sei auch bei ihr zu Hause.

Alle Probleme um den, oft auch dezidiert anti-emanzipatorischen, Gehalt von „Glaubensvorschriften“ und –inhalten sind dadurch sicherlich nicht gelöst. Aber fest steht jedenfalls so viel: Die Versuche des rechten Regierungslagers ebenso wie der extremen Rechten, die „Islamfrage“ (festgemacht an einem Kleidungsstück, das ohnehin quasi nur in Sektenkreisen angetroffen wird) zu benutzen, um auf die Frage nach „unserer“ Identität zu antworten – und eine Grenze zwischen „Uns“ und „Ihnen“ zu konstruieren – sind ebenso unsinnig wie politisch gefährlich.

Post scriptum: Jenseits des teilweise amüsant wirkenden Ablaufs der jüngsten „Affäre“ rund um die Tabligh-Heinis ist – einmal mehr – ein Stigmatisierungseffekt gegenüber Einwanderern und den „Stinknormalen“ unter den Moslems zu verzeichnen, der noch gefährliche Auswirkungen haben könnte. Nachdem das Klima bereits durch die viermonatige „Debatte um die nationale Identität“ von Oktober 2009 bis Februar 2010 und durch die jüngsten neuerlichen Wahlerfolge des rechtsextremen Front National aufgeheizt wurde, waren einige Rassisten wieder einmal nur auf „das Signal“ oder die Gelegenheit zum Zuschlagen. Wieder einmal fühlten sie sich dazu quasi von höchster Stelle autorisiert.

An diesem Montag, 26. April wurde bekannt, dass Unbekannte am Wochenende Schüsse auf eine moslemische Metzgerei in Marseille – im 15. Bezirk der Stadt, also einem der proletarischen Nordbezirke – sowie eine Moschee im südfranzösischen Istres abgegeben hatten. Auf der Fassade Moschee im provençalischen Istres wurden 23 Einschusslöcher verzeichnet. Auf die ,Halal’-Metzgerei in Marseille (die zu dem Zeitpunkt geschlossen war) wurden am Sonntag Abend gegen 22 Uhr rund zwanzig Schüsse abgegeben. Zwar waren bereits während des Winters 2009/10 mehrere Moscheen, u.a. im südwestfranzösischen Castres oder in Crépy-en-Valois nördlich von Paris, mit Hakenkreuzen, ,White Power’-Parolen und rassistischen Sprüchen verschmiert worden. Attacken unter Einsatz von Schusswaffen weisen jedoch eine neue Qualität auf. Auch wenn dabei in diesen Fällen niemand verletzt wurde.

Editorische Anmerkungen

Wir  erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.