Schmeißt die Verfolgten des Naziregimes auf den freien Pflegemarkt, wenn sie nicht spuren!

von Antonín Dick

04/11

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Am 14. März 2011 musste meine Mutter Dora Dick, eine anerkannte Verfolgte des Naziregimes, wegen einer lebensbedrohlichen Austrocknung und eines Infektes in ein Krankenhaus eingewiesen werden. Der Grund für Austrocknung und Infekt: schwere Versäumnisse des Berliner Pflegedienstes vita: bless in der Krankheitsbeobachtung sowie in der Versorgung mit ausreichender Flüssigkeit.

Statt der von der Hausärztin verordneten 1.500 ml Flüssigkeit erhielt meine Mutter über Wochen lediglich 500 ml. Der Grund dafür: Zeitersparnis in der pflegerischen Arbeit! Profitorientiertheit! Keine ordentlichen Trinkprotokolle! Keine Pflegevisiten! Keine Kontrollen! Mit einer solchen Unterversorgung an Getränken wird aber ein hilfebedürftiger Mensch unweigerlich in Richtung Austrocknung gepflegt. „Das ist Körperverletzung!“, sagte und schrieb ich dem Pflegedienst. Der Pflegedienstleiter Matthias Schubach, ein Mann aus der DDR, der ganz offensichtlich alle Ideale des Humanismus und Sozialismus zugunsten einer Diktatur des Geldes längst über Bord geworfen hat, bestreitet jegliche Verantwortung.

 Beträchtliche Energien seines Handelns verwendet er darauf, die Spuren seiner schweren Vernachlässigung gegenüber einer Schutzbefohlenen zu verwischen. Ich erarbeite wissenschaftlich überprüfbare, faktengestützte Analysen, die das dramatische Geschehen wahrheitsgetreu darstellen. Ich ersuche Schubach um eine rasche Aussprache, um das Überleben meiner gesundheitlich schwer geschädigten Mutter nach der Krankenhausentlassung sicherzustellen. Die Aussprache wird höhnisch abgeschmettert. „Pflegen Sie doch Ihre Mutter selber!“, höhnt es mir entgegen. Schubach versucht, den Pflegefall Dora Dick schnellstmöglich loszuwerden, um sich der Verantwortung zu entziehen. Versuch eins: Überführung meiner Mutter in eine Tagespflegestätte. Dieser Versuch wird kraft meines Widerstandes abgeschmettert. Versuch zwei: Entledigung der Verantwortung für das Versagen mittels Kündigung des Pflegevertrages. Diese wurde mit Schreiben vom 24. 03. 2011 ausgesprochen, und wir, meine Mutter und ich, haben keine Möglichkeit des rechtlichen Einspruchs, da hierzulande ein reparaturbedürftiges Auto, das in die Reparaturwerkstatt gebracht wird, mehr Rechte per Reparaturvertrag hat als ein pflegebedürftiger Mensch per Pflegevertrag.


Natürlich hat Schubach auch schon vorsorglich an den ökonomischen Verlust gedacht, der im Falle der Abschiebung dieses lästigen Pflegefalls auszugleichen wäre, denn die Pflege meiner Mutter führt dem Pflegedienst immerhin eine respektable Summe von fast 6.000. – EURO aus öffentlicher Hand zu, das sind 200. – EURO pro Tag mit einer verschwindend geringen Gesamtarbeitszeit von 4, 6 Stunden. Schubach zieht zur Kompensation dieses herben Verlustes einen anderen profitablen Pflegefall an Land, den er routiniert aus einer Tagespflegestätte fischt.

Der geschäftsführende Gesellschafter des Pflegedienstes vita: bless Achim Germar, auch ein DDR-Mann mit Amnesie, erhält namens meiner Mutter am 30. 03. 2011 ein Entgegnungsschreiben auf die von ihm verfügte Kündigung. Darin heißt es:

„Sie erhalten monatlich für die Pflege und Versorgung meiner Mutter ein Pflegebudget in Höhe von fast 6.000. – EURO. Dieses außergewöhnliche hohe Budget ist der Tatsache zu verdanken, dass meine Mutter Überlebende des Holocaust ist. Es müsste Ihnen eigentlich eine Ehre sein, eine große und verpflichtende Ehre, ein Opfer des Hitlerfaschismus im Alter zu pflegen und zu begleiten, und zwar in optimaler Art und Weise und nach den modernsten medizinischen und pflegerischen Kenntnissen. Das Gegenteil davon ist leider zu verzeichnen: Das Opfer des Hitlerfaschismus wird im hohen Alter Opfer einer schweren Vernachlässigung. Die zuständige Hausärztin und eine externe Pflegefachkraft intervenieren helfend, das Sozialamt interveniert helfend, indem es zusätzliche Mittel für die Überwindung der Folgen der Vernachlässigung bereitstellt, ich interveniere helfend, indem ich das vom Pflegedienstleiter bereitete pflegerische Desaster in all seinen Details aufarbeite, also Qualitätsmanagement betreibe – und Sie, der geschäftsführende Gesellschafter des Pflegedienstes, haben nichts anderes zu tun, als dieses Opfer des Hitlerfaschismus, das unter den Auswirkungen der schweren Verfolgung nach wie vor massiv zu leiden hat, auf den freien Pflegemarkt zu werfen, nicht ohne zu verabsäumen, dem Opfer des Hitlerfaschismus dabei ein langes Leben zu wünschen.“

Ich hätte in meiner Entgegnung noch hinzufügen müssen:

 „Aus meiner erzwungenen Mitwisserschaft bezüglich eines verantwortungslosen Umgangs Ihres Pflegedienstes mit einem hilfebedürftigen Menschen folgt keineswegs eine Komplizenschaft im Verwischen der Verantwortung Ihres Pflegedienstes für diesen lebensgefährlichen Umgang mit einem hilfebedürftigen Menschen. Sie umschreiben in Ihrem Kündigungsschreiben diese Komplizenschaft als ein ‚unabdingbares Vertrauensverhältnis‘. Nein, keine Komplizenschaft! Nein, kein unabdingbares Verkettungsverhältnis! Diese Verweigerung der Komplizenschaft und nichts anderes ist der wahre Grund für Ihre Kündigung!“

Meine Mutter hat am 5. Februar 2011 das stolze Alter von einhundert Jahren erreicht. Die Einladung an die Pflegedienstleitung zur Geburtstagsfeier, an der der Sozialstadtrat des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf von Berlin Norbert Schmidt, der Vorsitzende der Berliner Leitung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Dr. Hans Coppi sowie der SPD-Chef des Bezirkes Michael Karnetzki teilgenommen haben, wurde ausgeschlagen. Ein paar Wochen später folgt die Abschiebung meiner Mutter! Darf man sich diese Pflegehölle gefallen lassen? Nein! Soll man sich diese Pflegehölle gefallen lassen? Nein. Uns bleibt zunächst die lebensrettende Aufgabe, einen zuverlässigen Pflegedienst, der bereit ist, für 6.000. – EURO Pflegebudget auch tatsächlich eine Pflege im Wert von 6.000. – EURO zu leisten, ausfindig zu machen.

Meine Mutter hat den hohen Preis für dieses verantwortungslose, weil profitorientierte Handeln des jetzigen Pflegedienstes zu tragen: erstens die Überwindung der schweren gesundheitlichen Schäden, die ihr durch die Austrocknung entstanden sind, und zwar im Zuge eines langwierigen medizinischen Rehabilitierungsprozesses, dessen glückliches Ende überhaupt noch nicht als gesichert gelten kann! Zweitens die Bewältigung der enormen psychischen Belastungen, die ihr wegen der Umstellung auf völlig unbekannte Pflegekräfte aufgebürdet werden!
 

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Bericht vom Autor für diese Ausgabe. Leider mussten wir schon früher über unmenschliche Repressionen gegen die Antifaschistin Dora Dick berichten:

Und hier ein Rückblick in Dora Dick kämpferisches Leben: