Staatskontrolle, Volkskontrolle, Wurzeltrolle
aus der
Zeitschrift "Der Anti-Berliner" 4/5-2011 (Printausgabe)
Am 9. Mai 2011
starten die Befragungen für eine bisher nicht gekannte
Katalogisierung der Menschen in der BRD. Grundlage für diesen
Zensus ist eine Anordnung der EU, nach der alle Mitgliedsländer
zur Zählung verpflichtet wurden. Allerdings geht die
Datensammelwut hierzulande weit darüber hinaus.
Ziel des Zensus ist
die Errichtung einer neuen, umfassenden Anschrift- und
Gebäudedatenbank, in der eine Vielzahl persönlicher Daten neu
erfasst und vor allem auch aus bestehenden Datenbanken von
Behörden wie den Arbeits- oder Meldeämtern zusammengeführt, und
so zentral gespeichert werden. Nach der Abschaffung des
Bankgeheimnisses ist dies ein weiterer Schritt auf dem Weg zum
»gläsernen Bürger«. Hier geht es also um die Zentralisierung
bereits vorhandener Daten aller Einwohnerinnen. Zusätzlich
werden Informationen in mehreren Schritten erhoben: Alle
Eigentümerinnen von Wohnungen und Gebäuden sind zur
Berichterstattung über die Art der Wohnungen, Ausstattung und
auch über die Bewohner_innen verpflichtet. Weiterhin sollen 10%
aller Einwohner_innen Deutschlands per Zufallsgenerator
ausgesucht werden, die dann verpflichtet sind, persönliche
Fragebögen auszufüllen. So genannte »Erhebungsbeauftragte«
werden mit der Eintreibung der Informationen beauftragt, die
bspw. Migrationshintergründe oder Religionszugehörigkeit
umfassen. Es besteht dabei per Gesetz Auskunftspflicht:
Verweigerung kann mit Geldstrafe geahndet werden, außerdem
können Nachbar_innen und Vermieterinnen befragt und auch
Wohnungen »begangen« werden. Der repressive Charakter dieses
Gesetzes verdeutlicht von vornherein, dass der mit dem
»Allgemeinwohl« begründete Zensus auch mit den Mitteln
staatlicher Repression gegen den Willen großer Teile der
Bevölkerung durchgeführt werden soll.
In definierten
»Sonderbereichen« wird zudem eine 100%ige Befragung
durchgeführt. Dies betrifft bspw. Gefängnisse, Psychiatrien und
Kliniken, aber auch Alters- und Studierendenwohnheime. Neben der
allgemeinen Kritik, die sich an die Verfügbarmachung sensibler
Daten für politisch fragwürdige Projekte im Rahmen
kapitalistischer Verwertungslogik richtet, gibt es in diesem
Fall eine Reihe weiterer Problematiken: Die Daten werden nicht
anonym verarbeitet, sondern lassen sich anhand von
»Ordnungsnummern« noch bis zu vier Jahre zurückverfolgen, wobei
auf verlässliches Löschen von Daten wohl sowieso niemand mehr
vertrauen dürfte. Weiterhin werden bisher zu ganz anderen
Zwecken angegebene Daten bei Behörden nun auch offiziell
zweckentfremdet. Der Kritik an der Ausdehnung staatlicher
Machtbefugnisse wird somit einfach eine weitere Ausdehnung
entgegengesetzt. Nicht allein die Öffentlich gewordenen
Da-tenskandale privater Unternehmen zeigen, welche Gefahren die
Ansammlung scheinbar unscheinbarer Daten in sich birgt. Ein
Blick in die Geschichte zeigt, wie weitreichend die Folgen im
Extremfall waren: Während des NS bildeten die Daten die
Grundlage für die Deportationen und letztlich den Holocaust.
1983 sah sich die
Bundesregierung bei dem Versuch der letzten Zählung mit einer
breiten Protestwelle konfrontiert. Das Bundesverfassungsgericht
stoppte die Erhebung und erst 1987 konnte sie in stark
veränderter Form dann durchgeführt werden. Doch obwohl eine
breite Aufklärung der Bevölkerung über die Maßnahmen vom Gericht
eingefordert wurde, ist von staatlicher Seite bislang so gut wie
keine Information erfolgt. Wer sich von staatlicher Seite
generell nie bedroht fühlt, könnte sich zumindest fragen, zu
welchem Zweck die NPD ihre Mitglieder auffordert, sich
massenhaft als freiwillige »Volkszähler« zu melden. Aus ändern
Ländern gibt es Beispiele für kreativen Umgang mit den
Befragungen: Im englischsprachigen Raum entwickelte sich das
Phänomen der »Jedi-Reli-gion«: Durch Angabe »Jedi« oder »Jedi-Ritter«
bei der Frage nach der Religionszugehörigkeit erreichte der »Jedismus«
dort teilweise den Status der viertgrößten Religionsgruppe.
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