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Die "Nelkenrevolution" in Portugal

Die antifaschistisch-demokratische Revolution vom 25. April 1974
aus:   Arno Münster, Portugal, Jahr 1 der Revolution, Eine analytische Reportage, Westberlin 1975, S.32ff
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Der 24. April ging für die meisten Einwohner Lissabons wie jeder andere normale Arbeitstag zu Ende. Nichts deutete darauf hin, daß der folgende Tag zum längsten und dramatischsten in der Geschichte der jungen, nach dem Sturz der Monarchie Manuels II. 1910 gegründeten Republik werden sollte. Auch war kaum einem Einwohner Lissabons, keinem der passioniert zeitunglesenden Passanten der Cafes auf dem Praza Rossio eine kleine, etwas ungewöhnliche Notiz in der Abendzeitung »A Republica« aufgefallen, in der auf ein besonders interessantes Abendprogramm im Rundfunk hingewiesen wurde.

In zahlreichen Kasernen des Landes, in Santarem, Figueiras u. a. Orten, saß man derweil gespannt am Radio. Gegen 0 Uhr 30 strahlte der vom portugiesischen Episkopat betriebene Sender »Radio Renescanca« das verbotene volkstümliche Lied des Sängers Jose Afonso »Grandola vila Morena...« aus: für ein Land, in dem seit Jahrzehnten eine unerbittliche reaktionäre Zensur herrschte, ein unglaubliches Phänomen. Es war die Erkennungsmelodie, das Signal für die »Bewegung der Streitkräfte« und die von den Kapitänen geleitete Widerstandsbewegung, mit ihren militärischen Operationen zum Sturz des Caetano-Regimes zu beginnen. Von nun ab überstürzten sich die Ereignisse:

Um 0 Uhr 40 rücken mehrere Kolonnen des 2. in Santarem (30 km nördlich von Lissabon) stationierten Panzerregiments aus mit dem Ziel auf die Hauptstadt. In den folgenden Stunden schließen sich ihnen die Einheiten des 7. Kavallerieregiments und des 5. Jägerbataillons in Lissabon, sowie andere rebellische Einheiten der Städte Mafra, Tomar, Figueira da Foz, Lamego, Estramoz, Vendas Novas, Viseu und anderer an. Sie treffen bei ihrem schnellen - auf der letzten geheimen Konferenz der »Bewegung der Kapitäne« Anfang April geplanten, und in allen Einzelheiten durchgespielten - Vormarsch auf Lissabon auf keinen nennenswerten Widerstand.

3 Uhr: Alle wichtigen strategischen Punkte der Hauptstadt, die öffentlichen Plätze (Praza do Comercio, Praza Rossio, Avenida da Libertade), »Radio Clube Portugues« und die Gebäude des staatlichen Fernsehens RTP werden nahezu gleichzeitig von den von Leutnant Maia befehligten Truppen besetzt. Die Einnahme des privaten »Radio Clube Portugues« durch Einheiten der Luftwaffe und des 5. Jägerregiments unter dem Kommando von Major Costa Ne-ves vollzieht sich ohne Blutvergießen. Bei der Besetzung der Studios des staatlichen Fernsehens leisten einige Mitglieder der Politischen Polizei Widerstand, sie werden jedoch binnen kurzer Zeit entwaffnet.

4 Uhr: Der im Norden der Stadt liegende Flugplatz wird besetzt und für den zivilen Flugverkehr geschlossen. Der staatliche Rundfunksender »Emisora Nacional« und der private »Radio Marconi« werden widerstandslos eingenommen und der »Bewegung der Streitkräfte« unterstellt.

4 Uhr 30: Die »Bewegung der Streitkräfte« (Movimento das Forcas Armadas) verliest über »Radio Clube Portugues« ein erstes Kommunique, in dem die Bevölkerung aufgefordert wird, Ruhe zu bewahren, um Blutvergießen zu verhindern. Gleichzeitig ergeht über Funk ein Appell an die noch immer regierungstreuen Einheiten der Polizei, der Republikanischen Nationalgarde (GNR) sowie an die faschistischen Milizen »Legiäo Portuguesa« (Portugiesische Legion) und »Guarda Fiscal«, in ihren Kasernen zu bleiben und sich den laufenden militärischen-Operationen nicht zu widersetzen. Diesem Appell wird nur teilweise Folge geleistet.

5 Uhr: Das Hauptquartier der berüchtigten »Portugiesischen Legion« in Penha de Franca nahe Lissabon wird von den progressiven Militärs unter dem Kommando von Major Neves besetzt.

6 Uhr: »Radio Clube Portugues« sendet Militärmusik, unterbrochen von Kommuniques der »Bewegung der Streitkräfte«, die die Bevölkerung aufrufen, zu Hause zu bleiben und Ruhe zu bewahren. Ferner werden Lieder populärer, linksengagierter Sänger, wie die von Jose Afonso, ausgestrahlt.

6 Uhr 30: Kampfflugzeuge der Luftwaffe überfliegen im Tiefflug das Zentrum von Lissabon. Gleichzeitig werden starke Verbände im Regierungsviertel zusammengezogen, das vollständig abgeriegelt und umstellt wird.

8 Uhr 30: Der seit 3 Uhr morgens verstummte staatliche Rundfunksender »Emisora Nacional« beginnt seine Sendungen mit der Verbreitung eines Kommuniques der »Bewegung der Streitkräfte«, in dem unterstrichen wird, daß die hinter dem Putsch stehenden Kräfte die Lage im Lande vollständig kontrollieren. Gleichzeitig wird über »Radio Clube Portugues« ein Kommunique verlesen:

»Die Streitkräfte begannen heute in den frühen Morgenstunden mit einer Reihe von Aktionen, die die Befreiung des Landes von dem alten, längst überfälligen Regime zum Ziel hat... Im Bewußtsein, die wirklichen Gefühle der Nation zu kennen und zu vertreten, wird die >Bewegung der Streitkräfte< ihre Befreiungsaktion fortsetzen. Sie ruft die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren und die Wohnungen nicht zu verlassen. Es lebe Portugal!«

8 Uhr 40: In dem kurz darauf folgenden, ebenfalls von »Radio Clube« verbreiteten Kommunique heißt es:

»Die portugiesischen Streitkräfte fordern alle Einwohner der Stadt Lissabon auf, zu Hause zu bleiben und Ruhe zu bewahren. Wir hoffen, daß der Ernst der Stunde, die wir erleben, nicht durch Zwischenfälle gestört wird... Solche Zwischenfälle bzw. Zusammenstöße mit den Streitkräften könnten ein Präjudiz für weitere kämpferische Auseinandersetzungen unter den Portugiesen sein, die um jeden Preis vermieden werden müssen. Die >Bewegung der Streit-kräfte< rät allen paramilitärischen Kräften und der Polizei, größte Vorsicht walten zu lassen, um gefährliche Zusammenstöße zu verhindern. Sie will kein Blutvergießen, aber im Falle von Provokationen könnte es dazu kommen. Wir rufen diese Kräfte auf, in ihre Kasernen zurückzukehren und die Befehle der >Bewegung der Streitkräfte< abzuwarten... Die Nichtbefolgung dieses Befehls würde nur unnötiges Blutvergießen verursachen, für das die Betreffenden die volle Verantwortung tragen. Diejenigen Befehlshaber von Armee- und Polizeieinheiten, die ihre Untergebenen zum bewaffneten Kampf aufrufen, werden schwer bestraft werden.«

Gleichzeitig richtet der Rundfunksender einen Appell an alle Ärzte der Hauptstadt, ihre Pflicht zu tun und sich in den Krankenhäusern für eventuelle Notdienste bereitzuhalten. (Dieses Kommunique enthüllte, daß die »Bewegung der Streitkräfte« nicht vollständig Herr der Lage war und daß mit Widerstand von selten der Polizei und der paramilitärischen faschistischen Milizen gerechnet wurde.)

9.00 Uhr: Panzer und Armeelastwagen errichten Straßensperren an allen wichtigen Kreuzungen der Hauptstadt. Die per Schiff von Lisnave, dem anderen Ufer Lissabons (am Praza de Comercio) ankommenden Bewohner werden gebeten, wieder nach Hause zurückzukehren.
Im Regierungsviertel Terreiro do Paco ist die Lage unübersichtlich und gespannt. Die in der »Carmo«-Kaserne im Zentrum Lissabons verbarrikadierten höchsten Repräsentanten des faschistischen Regimes, Ministerpräsident Caetano und Staatspräsident Americo Thomas, der nach dem Tode Salazars zum Staatschef ernannt worden war, weigern sich zunächst, freiwillig abzutreten und vor der »Bewegung der Streitkräfte« zu kapitulieren. Es beginnen ziemlich langwierige Verhandlungen zwischen Kapitän Maia, dem Kommandierenden der Kavallerieschule von Santarem, der an der Spitze der Erhebung steht, und den noch zur Verteidung der »Carmo«-Kaserne entschlossenen regierungsloyalen Truppen unter Führung des Brigadiers Reis. Die Forderung der »Bewegung der Streitkräfte« ist kurz und unumstößlich: sie lautet auf sofortige Ergebung und Kapitulation.

9 Uhr 20: Die von Brigadier Reis befehligten Einheiten weigern sich zu kapitulieren. Der Caetano-treue Militär droht sogar damit, auf die Unterhändler schießen zu lassen. Währenddessen gelingt es einem Teil der Mitarbeiter der faschistischen Regierung, durch die hinteren Ausgänge des Ministeriums zu fliehen. Der Nervenkrieg auf der Basis eines immer prekärer werdenden Waffenstillstands geht weiter. Beide Seiten verharren auf ihren Positionen.

10 Uhr: Major Anseimo von den regierungstreuen Truppen ergibt sich. Caetanos Verteidigungs-, Innen- und Marineminister versuchen zu fliehen, werden jedoch bei ihrem Fluchtversuch aus der »Carmo«-Kaserne von wachsamen Soldaten ertappt und gefangengenommen.

Caetano und Americo Thomas weigern sich weiterhin zurückzutreten.

10 Uhr 30: Nahezu alle Geschäfte in Lissabon-, auch die Banken und Versicherungen, sind jetzt geschlossen. Die Bevölkerung folgt dem Appell der Militärs und meidet die Straßen, auf denen Panzer und Jeeps der rebellischen Armee-Einheiten patroullieren. Die territoriale Kontrolle des Landes durch die »Bewegung der Streitkräfte« wird immer größer.

11 Uhr 45: »Radio Clube« und »Emisora Nacional« verbreiten ein weiteres Kommunique der »Bewegung der Streitkräfte«, in dem es heißt:

»Aufgrund der in den frühen Morgenstunden ausgelösten Aktionen mit dem Ziel des Sturzes des Regimes, das seit langem das Land unterdrückt, teilen die Streitkräfte mit, daß sie die Lage im ganzen Land fest im Griff haben und daß bald die Stunde der Befreiung schlagen wird.«

12 Uhr: Die führenden Mitglieder der Regierung werden nach wie vor in der von schwerbewaffneten Einheiten der Nationalgarde auf dem Carmo-Hügel verteidigten Kaserne belagert. Den belagernden Truppen der »Bewegung der Kapitäne«, die nach der Kapitulation der meisten Ministerien im Terreiro do Paco ihren eisernen Belagerungsring rund um die »Carmo«-Kaserne verstärkten, schließen sich um die Mittagsstunde Hunderte, dann Tausende von Menschen aus der Bevölkerung an, die sich trotz der Aufforderung des Rundfunks, ihre Häuser nicht zu verlassen, auf die Straße gewagt haben, um die Aktion der »Bewegung der Streitkräfte« zu unterstützen. Unter Akklamation und ermunternden Rufen der Bevölkerung erreichen die Panzerkolonnen des Kapitäns Maia schließlich die »Carmo«-Kaserne, in der die faschistischen Nationalgarden Anstalten treffen, bewaffneten Widerstand zu leisten.

13 Uhr: Die »Bewegung der Streikräfte« stellt den Okkupanten der »Carmo«-Kaserne, Caetano, Thomas und ihren engsten Mitarbeitern ein auf 17 Uhr befristetes Ultimatum, sich zu ergeben. Andernfalls werde die Kaserne gestürmt.

14 Uhr: Einzelne Elemente der Geheimpolizei PIDE/DGS, der faschistischen »Legiäo Portuguesa« und der Republikanischen Nationalgarde leisten in der Nähe des PIDE-Hauptquartiers an der Rua Cardosa sporadisch Widerstand.

14 Uhr 30: In einem über alle Rundfunksender verbreiteten Kommunique wird erneut betont, daß die »Bewegung der Streitkräfte« die Situation kontrolliere und alle strategisch wichtigen Punkte des Landes, die Rundfunkstationen, die Kasernen, die Ministerien und die Hauptquartiere der Militärregionen Nord (Porto) und Süd (Lissabon) fest in ihrer Gewalt habe. Regierungschef Caetano und Staatschef Americo Thomas werden abermals aufgefordert, sich bis 17 Uhr zu ergeben. Wiederholt werden auch die Appelle an die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren, und an die Geschäftsleute, die Läden geschlossen zu halten.

15 Uhr: Angesichts der Weigerung der Regierung, zurückzutreten, riegeln die Belagerer des »Carmo« dieses Viertel noch stärker ab und verstärken ihren militärischen Druck auf die letzten Bastionen der Faschisten. Gegen 15 Uhr wird die erste Maschinengewehrsalve gegen die Verteidiger des harten Kerns des Caetano-Regimes abgefeuert.

16 Uhr: Über die Person des Pressebeauftragten des Staatsekretariats von Caetano, Feytor Pinto, wird ein Kontakt zwischen der »Bewegung der Streitkräfte« und dem im Carmo verbarrikadierten Regierungschef und General Spinola hergestellt. Caetano läßt Spinola über Pinto eine Botschaft überbringen, in der er seine Bereitschaft erklärt, »zu Spinolas Gunsten zurückzutreten, um zu verhindern, daß die Macht im Lande in die Hände der Straße fällt«. Spinola erscheine ihm als der einzige Mann, der in der Lage sei, dies zu verhindern. Spinola zeigt sich geneigt, auf dieses Angebot einzugehen, besteht jedoch darauf, daß ihm dies schriftlich überreicht wird. Da die Zeit jedoch drängt, verzichtet Spinola schließlich auf diese Forderung und setzt sich telefonisch mit Caetano in Verbindung. Dieser akzeptiert seinen Rücktritt unter der Bedingung, daß Spinola seine Nachfolge übernimmt. Nach einer erneuten Kontaktaufnahme Spinolas mit der »Bewegung der Streitkräfte« wird schließlich diese Lösung von den antifaschistischen Militärs akzeptiert, »um weiteres Blutvergießen zu vermeiden«.

18 Uhr: General Antonio de Spinola trifft in Begleitung von Kapitän Maia, dem Befehlshaber der rebellischen Streitkräfte, im »Carmo« ein, wo die Schlußverhandlungen mit Caetano beginnen.

19 Uhr 30: Caetano tritt endgültig zurück und verzichtet auf alle Staatsämter zugunsten Spinolas. Er verläßt unter Beschimpfungen des Volkes zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern in einem gepanzerten Fahrzeug die »Carmo«-Kaserne, nachdem er vorher in die bedingungslose Kapitulation vor der »Bewegung der Streitkräfte« eingewilligt hatte. (Er wurde zusammen mit seinem Innen-und Außenminister inhaftiert und wenige Tage später unter starker militärischer Bewachung auf die Atlantikinsel Madeira gebracht und dort unter Hausarrest gestellt.)
In einem kurz nach 19 Uhr 30 veröffentlichten Kommunique spricht die »Bewegung der Streitkräfte« der Bevölkerung für ihre mutige Unterstützung, ihren Bürgersinn und ihre Entschlossenheit ihrer Dank aus. Das Kommunique schließt mit den Worten: »Wir hoffen. daß sich das Leben morgen wieder normalisiert, damit wir morger vereint eine bessere Zukunft für unser Land aufbauen können. «Es lebe Portugal!«

Auf diese Nachricht kommt es zu spontanen Freudendemonstrationen der Bevölkerung, die die ganze Nacht über anhalten. Untei Sprechchören wie »A baixo o fascismo!« (Nieder mit dem Faschismus) und »Viva a libertade!« (Es lebe die Freiheit) zieht eine unübersehbare Menschenmenge stundenlang durch die Straßen von Lissabon, wobei immer wieder Ovationen auf die am Straßenrand stehenden Militärs ausgebracht werden. In der unübersehbarer Menschenflut fraternisieren, singen und jubeln Arbeiter, Studenten Angestellte, Professoren, Intellektuelle, Soldaten.

Als in der Nacht vom 25. auf den 26. April um 1 Uhr 26 MEZ General Antonio de Spinola, der vor wenigen Stunden ernannte Präsident der »Junta der nationalen Errettung« (Junta de Salvacac Nacional) zum erstenmal vor die Fernsehkameras der »Radio Tele-visäo Portuguesa« tritt, um sich der Bevölkerung vorzustellen und die Grundsatzerklärung der »Bewegung der Streitkräfte« zu verlesen, ist jedermann bewußt, daß dies mehr bedeutet als nur eine Episode in der dramatischen Geschichte des neuen Portugal. Jedermann hatte begriffen, daß hier gewaltsam ein Kapitel - die traurige schandbare faschistische Periode - abgeschlossen und eine neue Seite des Geschichtsbuches aufgeschlagen wurde, mit der Überschrift »Antifaschistische Revolution«.

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