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aus: 1999 Blätter für deutsche und internationale Politik 4/1999

Fetisch
Geldwertstabilität
von James K. Galbraith

04/99
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Sollte eine Zentralbank Wirtschaftswachstum, Preisstabilität und Vollbeschäftigung auf ihre Agenda setzen? Oder sollte sie sich ganz auf die Infla tionskontrolle konzentrieren? Diese De-batte wird gerade in Europa geführt, wo die Rufe sozialdemokratischer Regierungen nach niedrigeren Leitzinsen lauter werden, nachdem die nationalen Zentralbanken der neuen Europäischen Zentralbank weichen mußten. In den Vereinigten Staaten, wo Vollbeschäf tigung per Bundesgesetz als ein Politikziel vorgeschrieben ist, kommt es im Kongreß regelmäßig zu Anträgen der Republikaner, die Zentralbank allein auf Inflationsbekämpfung anzusetzen. Seit Anfang der 80er Jahre hat eine Handvoll Staaten förmlich erklärt, übergeordnetes Ziel der Geldpolitik sei eine niedrige und stabile Inflationsrate. Zu diesen Staaten zählen Neuseeland, Kanada, Großbritannien und Schweden. Die Wäch ter der strikten Anti-Inflationspolitik führen sie als Beispiele an, wenn sie behaupten, eine solche Festlegung der Notenbank würde die Wirksamkeit der amerikanischen Wirtschaftspolitik steigern. Dieser Meinung liegt ein merkwürdiges Verständnis von "Wirtschaftspolitik" zugrunde. Der Begriff wird nicht im Sinne von steigendem Lebensstandard, Vollbeschäftigung, Angleichung der Einkommen oder ähnlichen Verbesserungen im amerikanischen Wohlstandsgefüge verwendet. Tatsächlich bestreiten die Verfechter der Inflationsbekämpfung ausdrücklich, daß der Geldpolitik wegen solcher Segnungen Ruhm gebühre, denn, so ihre Argumentation, diese Errungenschaften einer expansiven Geldpolitik seien kurzlebig und nicht aufrecht zu erhalten.



Schwächling "Fed"

 


Mit anderen Worten: Amerikas derzeitiger Flirt mit der Vollbeschäftigung muß böse enden, mit einer rasanten Inflation, gefolgt von der Rezession. Die rechte Strategie dagegen ist, die Arbeitslosigkeit permanent hoch genug zu halten
– auf dem Niveau der "natürlichen Rate" –, um den Ausbruch der Inflation zu verhindern. Eine Zentralbank, die sich durch Ziele wie Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung ablenken läßt, gehört deshalb verurteilt. Eine Zentralbank hingegen, die Preisstabilität erreicht, wenn auch bei chronisch hoher Arbeitslosigkeit – wie in Deutschland – hat ihre höchste Pflicht erfüllt. Die Europäische Zentralbank, satzungsmäßig auf Geldwertstabilität zu jedem Preis verpflichtet, repräsentiert die absolute Spitze der geldpolitischen Architektur. Daneben erscheint unsere "Federal Reserve" – unerwähnt in der Verfassung, dem Kongreß untergeordnet und verpflichtet, über die Arbeitslosigkeit Bericht zu erstatten – wie ein mitleiderregender Schwächling unter den Zentralbanken.



Ziel verfehlt?

 


Der Großteil der Argumente für eine ausschließliche Konzentration der Zentralbanken auf das Ziel der Geldwertstabilität beruht auf einer Theorie, die Geldpolitik mit Inflationskontrolle gleich setzt und den Zentralbanken keine größere Rolle bei der Steuerung des Wachstums oder der Beschäftigung zugesteht. Die Inflationsbekämpfung wird nicht einfach als die bessere Wahl zwischen verschiedenen Strategien favorisiert, sondern als die einzige ökonomisch solide Strategie dargestellt.


Aber sind diese Prinzipien, die ursprünglich (1967) von Milton Friedman präsentiert und 1976 von Robert Lucas weiterentwickelt wurden, Konsens oder sogar korrekt, wie die Jünger der genannten Theoretiker uns glauben machen wollen? In Wirklichkeit gibt es keinen Konsens und es hat ihn nie gegeben. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Robert Eisner, ehemaliger Präsident der American Economics Association und renommierter Makroökonom, hat die Friedman/Lucas-These nie akzeptiert. Ebensowenig James Tobin, Paul Samuelson oder Robert Solow und der verstorbene William Vickrey – lauter Nobelpreisträger – oder beispielsweise Ray Fair in Yale, James Medoff in Harvard, William Dickens bei der Brookings Insti-tution.


Es gibt zwei Hauptgründe, warum die Kontroverse andauert. Zunächst basiert die Friedman/Lucas-Doktrin, auch wenn sie derzeit die akademische Vorherrschaft genießt, auf einem sehr eigenartigen philosophischen Standpunkt, der die Zukunft als pure Zufallsvariante der Vergangenheit erklärt. Aus dieser Sicht wäre beispielsweise die Finanzkrise in Asien nicht auf falsche Politik zurückzuführen, sondern einfach
auf ein unglückliches Lotterieergebnis
– Pech gehabt, da kann man nichts machen. Viele nachdenkliche Ökonomen verwerfen diesen Ausgangspunkt. Zweitens straft die Realität diese Theorie seit Jahren Lügen. Noch vor drei Jahren hat jeder Anwalt der Doktrin einer "natürlichen Arbeitslosenrate" fest behauptet, Arbeitslosigkeit unter 6% bewirke Inflation. Die Arbeitslosigkeit fiel, aber entgegen der Theorie blieb sie nicht nur unter der angenommenen natürlichen Rate, sie bewirkte auch keine Inflation. Die Argumente von Friedman/Lucas erhielten einen klaren empirischen Rüffel.


Tatsächlich war es die Gefahr einer Deflation, nicht die Inflation, die 1998 in weiten Teilen der Erde ihr Haupt erhob, als die Finanzkrise außer Kontrolle geriet. Die Anhänger der Theorie einer natür lichen Arbeitslosenrate waren nie fähig, diese Bedrohung zu erkennen. Sie plädierten noch beim Ausbruch der Asienkrise 1997 für eine Anti-Inflationspolitik und hielten sogar im Sommer 1998 daran fest, während die US-Finanzmärkte unter der Last einzubrechen begannen. Als die Notwendigkeit sofortigen Handelns allen anderen, einschließlich des Vorsitzenden der Federal Reserve Alan Greenspan, einleuchtete, verhinderten die Dogmatiker der "natürlichen Rate" innerhalb der "Fed" energisches Handeln. Das konkrete Resultat: Die Leitzinsen wurden zunächst zu langsam und zu wenig gesenkt, um die Finanzmärkte zu beeindrucken oder die Wirtschaft selbst zu beeinflußen, und so verstärkte sich die Krise.


Kann man die Inflation bekämpfen, ohne der Doktrin von der natürlichen Arbeitslosenrate zu gehorchen? Es wäre durchaus möglich, die Inflationsvorhersagen auf andere Faktoren zu stüt-zen als auf die Arbeitslosenquote. Ein Inflationsbekämpfer hätte in der "Fed" letzten August argumentieren können, die Asienkrise habe das Inflationsrisiko beseitigt und jetzt seien deutliche Zinssenkungen lebenswichtig, um der Bedrohung einer Preisdeflation zu steuern. Tatsächlich haben einige von der alten Schule der Angebotspolitik, wie Jude Wanninski, genau diese Position vertreten.


Diese angebotspolitische Sicht mag eine Verbesserung sein. Aber sie ist immer noch weit weniger vernünftig als die gegenwärtige Praxis. Die Gegner einer Zinssenkung würden, durchaus korrekt, mit dem Argument gekontert haben, daß die Deflation außerhalb der Vereinigten Staaten in den USA selbst wahrscheinlich keinen allgemeinen Preisverfall auslösen würde. Die nominelle Höhe der meisten amerikanischen Einkommen, von denen die Preise überwiegend immer noch abhängen, wird wohl kaum sinken. Die eigentliche Gefahr der Asienkrise liegt auch nicht in sinkenden Preisen auf dem amerika nischen Markt, sondern in sinkender Beschäftigung, Rezession und wachsender Ungleichheit. Eine strikte Inflationsbekämpfung hätte, auch wenn sie nicht an das Dogma der natürlichen Arbeitslosenrate gebunden ist, die Argumente für die Senkung der Leitzinsen geschwächt, mit der Beschäftigung und Produktion stabilisiert werden sollten
– nicht zu reden von den Finanzmärkten und dem Bankensystem.



Ein Plädoyer für Zinssenkungen

 


In jedem Fall hatten die Ereignisse die Inflationswächter bereits überrannt. Die einzige möglicherweise wirksame Antwort auf den globalen Einbruch, die der "Fed" zur Verfügung steht, ist eine scharfe Senkung der amerikanischen Leitzinsen und die gleichzeitige Ab wertung des Dollar. Diese Maßnahmen würden die Kapitalflucht in die USA verlangsamen, etwas Vertrauen in die asiatischen Märkte zurückbringen und helfen, die Jahresbilanzen andernfalls zahlungsunfähiger japanischer Ban ken auszugleichen. Strikte Inflationsbe kämp fung hätte diese Politikziele delegitimiert, die ja teilweise tatsächlich verfolgt wurden, als die Krise sich 1998 ausdehnte. Das Plädoyer für eine Zentralbank, die sich auschließlich der Inflationsbekämpfung widmet, ignoriert nicht nur die Realität der Krise, sie gefährdet die aktuell gebotenen politischen Prioritäten der Zentralbank selbst.


Greenspans Leistung

 


Wie steht es mit der Behauptung, Staaten, die sich dem Kampf gegen die Inflation verschrieben haben, schnitten wirtschaftlich besser ab? Stimmt das, selbst wenn man Beschäftigung und Wachstum beiseite läßt und nur die Inflation betrachtet? In Wirklichkeit haben weder Neuseeland, noch Kanada, Großbritannien oder Schweden die Bekämpfung der Inflation zu dem Zeitpunkt in den Vordergrund gerückt, als sie tatsächlich eine ernste Bedrohung darstellte, noch hat diese Art Festlegung die Kosten irgendeines laufenden Kampfes gegen die Inflation verringert. In allen Fällen kam die Kriegserklärung, als der Krieg bereits vorbei war. Warum also haben die Zentralbanker es getan? Die Fixierung auf Inflationsbekämpfung fiel erstens in allen Fällen mit hoher Arbeitslosigkeit zusammen, und der Haupteffekt war, die Zentralbanker von der Auseinandersetzung mit diesem Problem zu entlasten. Zweitens konnte die Inflationsbekämpfung in einigen Fällen die chaotische Praxis der Geldmengensteuerung ablösen, eine frühere Variante von fehlgeleitetem Enthusiasmus, der Großbritannien einst frönte und der Deutschland heute noch anhängt. Drittens, und in scharfem Widerspruch zum ersten Motiv, diente die Inflationsbekämpfung in einigen wenigen Fällen als Tarnung für Zentralbanker, die in Wirklichkeit planten, die Geldpolitik zu lockern, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Um die Konservativen zu beschwichtigen, redete man anders als man handelte, um dem politischen und ökonomischen Gebot der Stunde gerecht zu werden.


Was sollten die Vereinigten Staaten unternehmen? Die Zentralbank ist eine unabhängige Behörde der Exekutive unter der Aufsicht des Kongresses. Sie fällt deshalb unter das Humphrey-Haw kins-Gesetz zu Vollbeschäftigung und gleichmäßigem Wachstum von 1978, das die Ziele der amerikanischen Wirtschaftspolitik neu formulierte, um zu spezifizieren, daß sie Vollbeschäftigung, ausgewogenes Wachstum und eine vernünftige Preisstabilität beinhalten. Im Detail sieht das Gesetz mittelfristig Ziele von 4% Arbeitslosigkeit und 3% Infla tion vor – Ziele, die jetzt, mit Abweichungen von wenigen Zehntelprozent, erreicht worden sind.


Alan Greenspan, Alice Rivlin und der Rest der "Fed"-Führung haben gezeigt, wie falsch die Doktrin der natürlichen Quote ist, indem sie bewiesen, daß die Ziele des Humphrey-Hawkins-Gesetzes sich nicht gegenseitig ausschließen. Dies ist eine bemerkenswerte Leistung, und sie beruht teilweise auf der Durchsetzungsfähigkeit des Vorsitzenden Greenspan gegen die Anhänger des Friedman/Lucas-Standpunktes sowie auf dem vorsichtigen Versuch, die Arbeitslosigkeit kontinuierlich zu senken. Auf diese Weise haben Greenspan & Co. den guten Willen der Väter des Humphrey-Hawkins-Gesetzes bestätigt. Die Tatsache, daß die sich ausweitende Krise der Go-Go-Globalisierung diese Errungenschaft jetzt bedroht, mindert nicht deren Wert oder Bedeutung. Und in ihrem Bemühen, die Finanzmärkte und die Weltwirtschaft angesichts der um sich greifenden Krise von 1998 zu stabilisieren, hat die Leitung der "Fed" weit mehr Umsicht, Flexibilität und Verstand gezeigt als alle Apostel der Anti-Inflations-Doktrin.

 

James K. Galbraith

 

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