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Berlin, 25.03.1999

Karl Marx und der mögliche Sozialismus

von
Ulrich Weiß

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1)

Für Marxisten-Leninisten wie für solidarisch-linke Kritiker des Real-"Sozialismus" war und ist es undenkbar, bestimmte Widersprüche des Ostens als antagonistische, ohne revolutionären Umbruch unlösbare Gegensätze zu erkennen. Diese Widersprüche wurden im Rahmen der "sozialistischen" Grundstrukturen als überwindbare Entwicklungsprobleme verstanden. Tatsächlich geriet die kommunistische Perspektive im Osten völlig aus dem Blick.(1) Die berechtigten Zweifel am sozialistisch-kommunistischen Charakter der bestehenden Gesellschaftsformation und an einer kommunistischen Perspektive fanden in den 60er Jahren zum Beispiel in Ulbrichts Bestimmung des Sozialismus als "eine relativ selbständige sozialökonomische Formation"(2) einen immerhin theoretisch begründeten Ausdruck. Der Begriff Real-Sozialismus dagegen markierte das faktisch regierungsoffizielle Abweisen jeglicher sozialistisch-kommunistischen Kritik am Osten.
Der ML konnte sich allerdings in der Behauptung des sozialistischen Charakters des Ostens auch auf zentrale Marxsche Aussagen berufen, ohne notwendig intellektuell unredlich zu sein. Das betrifft zum Beispiel die Enteignung der alten herrschenden Klasse, die Konzentration der Produktionsmittel in Staatshand, die Planung im nationalen Rahmen, die Abwehr von Restaurationsversuchen durch die entmachteten Kapitalisten. Zugleich wurden andere, gleichfalls das Marxsche Theoriengebäude tragende Aussagen als Ausdruck eines theoretisch noch unreifen Marx zurückgewiesen bzw. als von der Geschichte überholt und im Leninismus marxistisch aufgehoben bewertet. Die zustimmende Bezugnahme auf Marx ist ebenso wie seine Zurückweisungen im ML nicht nur als theoretischer Irrtum oder Anpassung an reale Existenzbedingungen des "Sozialismus" bzw. als Herrschaftslegitimation zu verstehen. Beides verweist auch auf Widersprüche bei Marx selbst.

2)

Marx hatte vor der 1848er Revolution in Deutschland die allgemeinmenschliche Emanzipation eher für möglich gehalten als die partielle, die bürgerliche.(3) Die umwälzende materielle Gewalt würde nach Marx vom Proletariat ausgehen. Dessen Interessen nähmen bei ihrer Durchsetzung nicht wie bei bisherigen aufstrebenden Klassen nur vorübergehend bzw. dem Schein nach den Charakter allgemeiner Interessen an. Das Proletariat löse sich und alle anderen Klassen im Moment seines Sieges auf. Es überwinde damit Gesellschaftsstrukturen, die einer Herrschaft bedürfen. Sein Triumph bedeute notwendig das Auflösen von Macht, Staatlichkeit und Religion überhaupt. Die proletarische Revolution führe also statt zur partiellen zur allgemeinmenschliche Emanzipation.(4) In den Feuerbachthesen bestimmte Marx einen Wesenszug jeder sozialistisch-kommunistischer Bewegung und jener Theorie, mittels der sich die Akteure die eigenen Existenzbedingungen sowie die Möglichkeiten und Formen ihrer Befreiung bewußt machen. Das entscheidende Charakteristikum des alten Materialismus, des Standpunktes der bürgerlichen Gesellschaft, ist die Sondierung der "Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist" (5) und die dementsprechende Methode, "die Wirklichkeit ... nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung" (6) zu fassen. Anders ausgedrückt ist das im Faust-Wort "daß sich das größte Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände"(7) und in den bei DDR-Jugendweihen vielzitierten Goethe-Versen: "Du mußt herrschen und gewinnen oder dienen und verlieren, leiden oder triumphieren, Amboß oder Hammer sein". Daß, um im Bild zu bleiben, die so gewonnenen großen Werke zwischen Detroit, Weimar und Wladiwostok zugleich mit der Degradation der praktisch Arbeitenden zu Lemuren bzw. sogar mit Vernichtung unverwertbaren Lebens (Philemon und Bauxis) verbunden waren, ließ uns ML-er nicht den bürgerlichen Charakter der Entstehungsformen aller dieser Werke und des marxistisch-leninistischen Standpunktes selbst erkennen. Der (sozialistisch-kommunistische) Standpunkt des neuen Materialismus, "die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit" ist nach Marx dann gewonnen, wenn statt der Spaltung der Gesellschaft in Dienende und Herrschende das "Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung ... als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden" (8) wird. Die verfrühte Hoffnung auf eine allgemeinmenschliche Emanzipation, also darauf, daß die revolutionäre Praxis einen sozialistisch-kommunistischen Charakter annehmen wird, war ein genialer Marxscher Irrtum. Genial u.a. weil damit auch die als ein zivilisatorischer Fortschritt begrüßte bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zugleich als eine vergängliche analysierbar wurde. Marx gewann einen neuen theoretischen Zugriff auf Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise gerade deshalb, weil seine Forschungsarbeit immer auch auf das Erkennen derjenigen Elemente und Triebkräfte gerichtet war, die die elenden, erniedrigenden Verhältnisse umstürzend, eine den Kapitalismus überwindende neue Gesellschaft begründen können. Mit dieser Fragestellung sind die Erkenntnisgrenzen auch derjenigen Menschen durchbrechbar, die befangen innerhalb der bürgerlichen Epoche deren antihumanistischen Züge innerhalb des kapitalistischen Voranschreitens für überwindbar halten.

3)

Marx’ irrtümliche Erwartung einer baldigen sozialistisch-kommunistischen Revolution ergaben sich u.a. aus der vorgefundenen geschichtlichen Situation. Vom historischen Standort eines sich erst entfaltenden (und nicht wie er anfänglich glaubte, bereits in die Existenzkrise geratenen) Kapitalismus sind die bereits klar erkennbaren Bedingungen und Triebkräfte der prokapitalistischen revolutionären Umbrüche und der innerkapitalistischen (Entwicklungs-)Revolutionen und Reformen theoretisch noch unzureichend von denen zu trennen waren, die erst im Spätkapitalismus historisch relevant werden und die eine sozialistisch-kommunistische Umwälzung begründen könnten. So wurde z. B. den proletarischen Klassenkämpfen und ihren Kampfformen, die ihre epochemachende zivilisierende Potenz erst noch innerhalb der bevorstehenden bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung voll entfalten sollten, bereits perspektivisch ein allgemeinemanzipatorischer Charakter beigemessen, also die Fähigkeit, die neue sozialistische Gesellschaft selbst begründen zu können. Marx hatte gerade wegen seines Blickes über die kapitalistische Gesellschaft hinaus zwar durchaus ein Bewußtsein der Beschränktheit von Bewegungen, die sich seinerzeit als Reaktion auf die Widersprüche des sich entfaltenden Kapitalismus entwickelten.(9) Die Geschichte des Kapitalismus einschließlich der letztlich wieder einen bürgerlichen Charakter annehmenden proletarischen Ausbruchsversuche seit Marx hat uns gelehrt, daß die revolutionäre wie die reformistische Arbeiterbewegung ihre Hoch-Zeit innerhalb der kapitalistischen Epoche hatte. Die Beschränktheit der proletarisch-kommunistischen Bewegung zur Aufhebung des Privateigentums ging offenkundig noch entschieden weiter, als Marx dies annahm. Angesichts der Marxschen historischen Situation ist es nachvollziehbar, daß er, zum Teil in Widerspruch zu eigenen Aussagen, den proletarischen Klassenkräften und ihren spezifischen Kampfformen einen zumindestens potentiell sozialistischen Charakter beimaß. Unabhängig vom reformerischen oder/und revolutionärem Selbstverständnis – dieser Irrtum, bereits Teil einer über den Kapitalismus hinausgehenden Bewegung zu sein, mußte notwendigerweise massenhaft Subalterne und deren Assoziationen erfassen, auch und gerade dann, wenn der Kampf um Existenz und erweiterte Teilhabe an menschlicher Zivilisation tatsächlich einen (partiell-)emanzipatorischen Fortschritt brachte, also innerhalb der sich entwickelnden bürgerlichen Epoche erfolgreich war. Dem Schicksal, dem eigenen Kampf bereits einen sozialistisch-kommunistischen Charakter bzw. eine entsprechende Perspektive beizumessen, unterlagen Generationen proletarischer Kämpfer inklusive der marxistisch(-leninistischen) Führer und Intellektuellen nach Marx. Die konkreten Zwänge dieses Kampfes ließen, wie Engels notiert, z. B. die frühen Erkenntnisse über die allgemeinmenschliche Emanzipation irrelevant oder schädlich, weil die eigenen Erfolge relativierend und damit demotivierend erscheinen.(10) Was Engels als antiemanzipatorische Sachzwänge geschichtsmächtiger proletarischer Bewegung verteidigt, verweist auf unleugbare Tatsachen: Die Arbeiterbewegung wie der Real-"Sozialismus" kamen nicht nur nicht über den von Marx definierten bürgerlichen Standpunkt hinaus. Aus noch zu benennenden Gründen konnten sie dies auch nicht tun. Die Spaltung der Gesellschaft wurde durch den sich über die erhebenden Teil in den "sozialistischen" Erziehungsdiktaturen mittels des ML zum Ideal erklärt und, von den Subalternen gewollt oder hingenommen, geradezu auf die Spitze getrieben.

4)

Marx hat seine dem ML widersprechenden frühen Erkenntnisse nie als unreif widerrufen. Die kommunistische Perspektive blieb immer auch Horizont seiner theoretischen Arbeit. Allerdings begriff er schnell, daß eine siegreiche sozialistisch-kommunistische Revolution, also die allgemeinmenschliche Emanzipation, an solche materielle und geistige Voraussetzungen gebunden ist, die erst mit der weiteren kapitalistischen Entwicklung entstehen können. Sozialistische Umwälzungen sind von den materiellen Bedingungen her gesehen nicht von jedem historischen Standort denk- und machbar. Auch wenn die kapitalistische Produktionsweise zur international dominierenden geworden ist und sich selbsttragend auf eigener Basis entwickelt, heißt das noch nicht, daß hinreichende materielle Bedingung für eine sozialistische Umwälzung der Produktionsweise gegeben sind. Wie heute leichter erkennbar ist auch die Formierung eines Proletariats zur revolutionären Klasse, die im Sturmangriff die politisch Herrschenden wegzufegen vermag, kein Beleg für diese Reife.
In der Allgemeinheit der Feuerbachthesen gefaßt, trifft die Aussage, daß die Menschen in ihrer Praxis die Umstände und dabei sich selbst ändern, auf die ganze Menschheitsgeschichte zu. Daß die "revolutionäre Praxis" aber tatsächlich eine solch bestimmte Form annehmen kann, durch die die (Klassen-)Spaltung der Gesellschaft überhaupt aufgehoben wird und die sich Akteure selbst dauerhaft zu freien Individuen erheben, daß also die Praxis einen sozialistisch-kommunistischen Charakter annehmen und eine neue Gesellschaftsformation begründen kann, das setzt ein ganz bestimmtes Niveau des internationalen Kapitalismus voraus. Auch diese Gesellschaftsformation geht nicht "unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind."(11) Wer diese Aussage nicht zur Phrase degradiert, der/die muß bestimmen können, welches die im Kapitalismus ausbrütbaren materiellen Existenzbedingungen einer sozialistisch-revolutionären Praxis sind. Sind diese im internationalen Rahmen nicht gegeben, ist es nicht selbstverschuldet, sondern ein Ausdruck von Unmöglichkeit, wenn ein versuchter sozialistischer Ausgang aus der Unmündigkeit mißlingt. Marx’ Konsequenz aus der 48er Widerlegung seiner frühen Euphorie: lebenslange Arbeit an der Kritik der Politischen Ökonomie.

5)

Das praktische Dilemma eines Kommunismus, der im Versuch seiner Verwirklichung immer wieder antiemanzipatorische, also antikommunistische Züge annahm, erscheint mir heute theoretisch genau entlang der Intentionen dieser Kritiken auflösbar. Hiervon ausgehend ist zunächst meine Hypothese zu prüfen, ob nicht gerade diejenigen Bedingungen und Triebkräfte der kapitalistischen Entwicklung, so die kapitalistischen Krisen und die Arbeiterbewegung, von denen der frühe Marx bereits eine allgemeinmenschliche Emanzipation erhoffte, nicht vielmehr noch solche der partiellen Emanzipation, der innerkapitalistischen Entwicklung waren. Es ist weiter zu klären, ob bzw. welche Marxschen Annahmen über Grundzüge einer kommunistischen Umwälzung erst in unserer Zeit historische Geltung und damit auch eine andere Gestalt als die in der Arbeiterbewegung angenommene gewinnen können. Manchen geschichtsmächtigen, weil die Interessen von Massen ausdrückenden und deshalb von ihnen ergriffenen Theorien, so der von der proletarischen historischen Mission, ist heute die reale Geschichte entwachsen. Zugleich scheint die gesellschaftliche Entwicklung gerade solchen Marxschen Aussagen eine Grundlage zu bieten, die der ML als unpassend, unreif und utopisch ansah. Das betrifft etwa die Identität zwischen knechtender Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum. Das heißt für eine sozialistische Bewegung zugleich, daß die Aufhebung des Privateigentums mit dem der knechtenden Arbeitsteilung und der Entfremdung, mit der realen Selbstverwaltungen durch die Produzenten zusammenfallen muß bzw. daß ansonsten weder von Aufhebung der Entfremdung noch vom sozialistischen Eigentum noch von Aufhebung der Klassenherrschaft über die Proletarier die Rede sein kann also auch nicht von einer sozialistischen Bewegung oder gar sozialistischen Gesellschaft. Marx analysiert immer wieder die mit der Entfaltung der kapitalistischen Produktion sich veränderte Stellung der unmittelbaren Produzenten, der Konsequenzen dessen für ihre Individualität und sozialen Beziehungen. Mit Marx sind die qualitativen Voraussetzungen dafür erkennbar, daß die knechtende Arbeitsteilung, damit Entfremdung und Privateigentum(12) überhaupt abgeworfen werden können und ein Kommunismusversuch nicht wieder "die ganze alte Scheiße ... herstellen müßte"(13). Die Entwicklung des kapitalistischen Reichtums stellt sich Marx immer auch als geistige und mentale Knechtung der sich von den Produktionsmittel und den Arbeitsprodukten entfremdenden Produzenten dar. Warenfetischismus und andere ideologischen Verkehrungen bewirken deren Befangenheit in den Kategorien der kapitalistischen Produktion.(14) Lenins Was tun?, das Konzept, ins Proletariat revolutionäre Theorie hineinzutragen und es durch eine Avantgarde revolutionär zu formen und zu führen, ist eine Konsequenz und Anerkennung dieser Tatsache. Es ist, wie der Real-"Sozialismus" bewies, kein sozialistischer Weg zur Aufhebung dieser Verkehrungen, sondern eher eine spezifische Form ihrer Befestigung. Kapitalkonforme knechtende Ideologie ist eben nach Marx nicht als Priesterbetrug begreif- und demzufolge auch nicht Kraft irgendeiner Aufklärung und weisen Führung aufhebbar, auch nicht durch die einer Partei neuen Typus. Marx verläßt mit seinen späteren wissenschaftlichen Arbeiten seine frühen ökonomisch-philosophischen Erkenntnisse nicht. Tatsächlich geschichtsmächtig werdend tun Lenin und seine Nachfolger aber genau dies: Die Bolschewiki waren nach dem Maßstab der Feuerbachthesen ein sich durch eine revolutionäre Praxis der bürgerlichen Art über die Gesellschaft erhebender Teil. Der treibt im Widerspruch zum eigenen sozialistisch-kommunistischem Selbstverständnis auf eine nichtsozialistische Weise die Geschichte tatsächlich voran. Diesen Widerspruch zwischen dem Standpunkt der bürgerlichen und dem der menschlichen Gesellschaft, methodisch des Gegensatzes zwischen altem und Marxschen Materialismus sollten wir ernsthaft als Gegenstand der Auseinandersetzung annehmen. Es geht um nichts weniger als um die Erkenntnis der heutigen materiellen Bedingungen und vor allem um die Formen einer möglichen sozialistischen Bewegung.

6)

Marx beschreibt die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital als ein Zersetzen der relativ vielseitigen Individualität des mittelalterlichen Handwerkers.(15) Warum denn und wie eigentlich sollten sich gerade die derart proletarisierten Individuen zur kommunistischen Produktions- und Lebensweise befähigen? Dem frühen Marxschen Jubel über den Adel an Menschlichkeit und an Geist bei den revolutionären Pariser Handwerkern(16) – ein Bild der erhofften Zukunft – steht eben entgegen die tatsächlich erst massenhaft bis zum Entstehen und dem Ende des Fordismus um sich greifende Reduzierung der unmittelbaren Produzenten auf wenige Fähigkeiten, mittels derer sie eine Lücke in der Maschinerie ausfüllen. Auch im "Sozialismus" waren die unmittelbaren Produzenten unter knechtende Arbeitsteilung, unter die Maschinerie und unter die Verfügungsgewaltigen subsumiert. Der Widerspruch zwischen dieser Realität und dem Ideal freier sozialistischer Persönlichkeiten ließ uns ML-er nicht die behauptete sozialistischen Qualität der Produktionsweise in Frage stellen. Diese schien durch Staatseigentum und zentrale Planung sowieso gegeben. Die durchaus registrierten Gegensätze beherrschbar zu halten und geistige Triebkräfte für die Produktion zu entfalten, wurde hauptsächlich als eine Aufgabe der ideologischen Arbeit und der Einbindung der Menschen in politische Hilfskonstruktionen (Partei, Gewerkschaft als Transmissionsriemen zwischen Herrschern und Beherrschten, ABI, Plandiskussionen usw.) angesehen. Entscheidend für das Zusammenbringen von Produzenten und Produktionsmitteln und das Überbrücken der unleugbaren Gegensätze innerhalb der Produktion war aber auch hier die ganz normale bürgerlich-kapitalistische Form des Bindens von Lohnarbeitern an Produktion über Lohn und andere materielle Hebel. Die unmittelbaren Produzenten im Osten waren keine Eigentümer. Übereinstimmend mit ihrer tatsächlichen Klassenlage scherten sie sich letztlich einen Dreck ums Ganze. In der Wende – die Macht lag auf der Straße, die abstrakte Möglichkeit zur Selbstverwaltung war in dem Sinne gegeben, daß keine materielle Gewalt dies hätte verhindern können – drängten sich die Lohnarbeiter nur nach neuen Herren, an die sie ihre Arbeitskraft wohlfeiler zu verkaufen gedachten.

7)

Mit Marx können Sozialisten heute ohne selbstauferlegte Rücksichtnahme(17) nach der sozialistischen Qualität auch der östlichen Produktionsweise fragen und damit auch in Bezug auf den Westen zu anderen Antworten hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen für Sozialismus und zu einem anderen Sozialismusbild kommen als der ML. Wann und wo ist durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auf ein solches Maß reduziert, daß Arbeit für die Produzenten überhaupt ein sich selbst tragendes Bedürfnis werden kann? Unter welchen materiellen Bedingungen nimmt die unmittelbare Tätigkeit der Produzenten selbst einen solchen Charakter an, daß diese auch in der Produktion und dadurch auch erst außerhalb eine reiche Individualität entfalten können? Unter welchen Gestaltungen des unmittelbaren Fertigungsprozesses bedarf es nicht mehr des offenen oder stummen Zwangs, also einer Klassenherrschaft und/oder äußerlicher Antriebe wie der zur Kapitalverwertung (in real-"sozialistischer" Terminologie Betriebsgewinn, Erhöhung des Nationaleinkommens usw.) bzw. zur Lohnarbeit, damit Produktion überhaupt stattfindet? Auf welchem qualitativ bestimmbaren Niveau der materiellen Produktion sind also knechtende Formen der Arbeitsteilung, Entfremdung und (kapitalistisches) Eigentum überhaupt aufhebbar? Marx fand seinerzeit nirgends derartige Bedingungen vor(18), ebensowenig wie die Bolschewiki und andere Revolutionäre oder die Reformisten der Arbeiterbewegung bis fast in unsere Zeit. Eine Theorie, die diese Frage zumindest bezogen auf die "sozialistische" Staatengemeinschaft und die entwickelten westlichen Länder als gegenstandslos geworden ansah, mußte viele inner-"sozialistische" Konflikte sowie das Ausbleiben westlicher sozialistischer Revolutionen vorrangig der Macht und der ideologischen Raffinesse des Gegners, also antimarxistisch sozusagen dem Priesterbetrug zuordnen, dem die eigene ML-Kirche entgegenzusetzen war. Diese "sozialistische" Ideologie konnte die Marxschen Aussagen über die Reife einer Produktionsweise für eine erfolgreiche sozialistische Umwälzung sowie über deren grundlegenden Charakteristika unmöglich zur Kenntnis nehmen.

8)

Lenin sah im kapitalistischen Monopol, besonders im Staatsmonopol die ökonomischen Bedingungen des Sozialismus vollständig vorgeprägt(19). Dabei konnte er sich auch auf Marx stützen, etwa auf seine Aussagen zur historischen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation und die Expropriation der Expropriateure(20). Aus solcher Sicht reduziert sich die praktische Begründung eines sozialistischen Charakters von Produktionsverhältnissen tatsächlich auf die Eroberung der politischen Macht durch kommunistische Revolutionäre und das Ersetzen der Kapitalisten bzw. ihrer Manager durch die Vertreter der Arbeiterklasse. Auch hier konnte sich der ML durch Marx’ Aussagen zur Diktatur des Proletariats bestätigt fühlen.
Auf die trotzdem weiterhin stehende Frage, wie sich denn die unter die Arbeitsteilung Geknechteten zur Herrschaft über die Produktion selbst, also zu reicher Individualität befähigen sollten, schien auch in Anlehnung an Marx die Antwort theoretisch vorgezeigt und praktisch im Osten sowieso schon vollzogen: Im gewerkschaftlichen und politischen Kampf um Einfluß und Macht, in der Formierung proletarischer Assoziationen, in der proletarischen Partei und durch ihre Aufklärungsarbeit erfolge mit dem Ändern der Umstände auch die sozialistische Selbstveränderung der Akteure. Soweit die Theorie. In der Praxis aber der geschichtsmächtigen vorrevolutionären proletarischen Assoziationen (vrgl. den bürokratischen Apparat der deutschen Sozialdemokratie) und nach der Revolution im Real-"Sozialismus" reproduzierten sich gerade in den politischen Assoziationen Herrschaftsverhältnisse, transformierten sich die proletarischen wie alle anderen Parteien zu Institutionen, die von ihrer inneren Struktur her auf dem Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft verblieben oder sie letztlich wieder reproduzierten. Die anarchistischen Assoziationen, die dies ausdrücklich ablehnten, wurden entweder nicht geschichtsmächtig oder sie gaben bei der ersten Gelegenheit ihre heiligen Prinzipien auf. Anarchisten wurden im republikanischen Spanien Minister. Es ist ein dauerhaftes Dilemma der Akteure von Arbeiterbewegung und "sozialistischer" Gesellschaften: Obwohl sie unleugbar einen zivilisatorischen Fortschritt bewirkten, haben sie sowohl als bekennende Reformer der bürgerlichen Gesellschaft als auch als Revolutionäre immer wieder selbst Standpunkte und Strukturen dieser Gesellschaft reproduziert. Das ist nicht mit subjektiven Fehlern erklärbar, auch nicht mit mangelhafter Anwendung etwa der Marxschen Theorie. Marx und Engels unterlagen selbst als Politiker (siehe auch Fraktionskämpfe in der I. Internationalen) dieser weit ins 20. Jahrhundert reichenden Konstellation. Die sozialen Kämpfe konnten noch nicht aus der bürgerlichen Epoche herausführen.

9)

Wenn Tausende Industrieunternehmen enteignet würden, so Eduard Bernstein, dann müsse der Staat sie mittels eines riesigen bürokratischen Apparates lenken. Das käme weder der deutschen Wirtschaftsentwicklung noch der tatsächlichen Stellung der Arbeiter zugute.(21) Die Köchin, die den Staat (und die Wirtschaft) leitet und zugleich Köchin bleibt, blieb symbolische Leninsche Hoffnung. Die "sozialistische" wie die zeitgleiche parallele "normal"-bürgerliche Realität dagegen rief unabweisbar nach hierarchischen Produktionsverhältnissen und dementsprechenden politischen Herrschaftsformen.(22) Engels hatte autoritäre Strukturen sogar als zeitlose Eigenschaft jeglicher maschineller Großproduktion bezeichnet.(23) Gemessen an der ursprünglichen Marx-/Engelschen Erkenntnis der Identität von (knechtender) Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum wäre damit eine sozialistisch-kommunistische Produktionsweise als für immer unmöglich erklärt. Die real-"sozialistische" Industrie schien dem recht zu geben: Auch hier die Unterwerfung der unmittelbaren Produzenten unter die Maschinerie und damit unvermeidbar die Entgegensetzung zwischen ihnen und den den Gesamtprozeß zusammenfassenden, organisierenden, die erweiterte Reproduktion, d.h. die Kapitalfunktion sichernden Menschen, die sogenannten sozialistischen Leiter und Staatsfunktionäre. Damit zwangsläufig immer wieder die Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Der Fordismus-Taylorismus, von Lenin als die über Jahrzehnte unumgängliche Form der Produktion erkannt(4), hat in Ost wie West die von Marx im Kapital beschriebene knechtende Arbeitsteilung im Fertigungsprozeß auf eine bis dahin praktisch unbekannte Spitze getrieben. Hier wird "der Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet und mit denselben der zentralen Bewegungskraft untergeordnet", "Gehilfen der Maschinerie".(25) Diese Maschinenarbeit "konfisziert alle freie körperliche und geistige Tätigkeit. ... Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit vollendet sich ... in der auf Grundlage der Maschinerie aufgebauten großen Industrie."(26)

10)

Keine noch so idealistische politische Kraft kann auf dieser ökonomischen Basis dauerhaft den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft verlassen. Die Staatsangestellten – dies die zivilisierende Funktion der Bolschewiki – können zwar statt einer schwachen herkömmlichen Bourgeoisie deren geschichtliche Mission erfüllen, erfolgreich die Funktion der vertriebenen Unternehmer übernehmen und den Aufbau einer Großindustrie durchsetzen. Das tatsächliche Kapitalverhältnis heben sie damit nicht auf. Sie reproduzieren es nur auf eine spezifische, etwa den Anforderungen einer nachholenden kapitalistischen Akkumulation angemessene zentralistisch-barbarische Weise. Im ML erfolgt die sozialökonomische Bestimmung der siegreichen proletarischen Revolution und der Verstaatlichung der Produktionsmittel in einer Weise, als habe Marx nicht Das Kapital, sondern. Die Kapitalisten geschrieben, als sei mit der Vertreibung der bisherigen Unternehmer und der Übernahme ihrer Funktionen durch Staatsfunktionäre das Kapitalverhältnis im sozialistischen Sinne aufgehoben. Zu diesem Mißverständnis gab Marx zwar auch Anlaß: "Wenn sie den Kapitalisten fortnehmen, nehmen sie den Arbeitsbedingungen den Charakter, Kapital zu sein."(27) Im Kontext seiner näheren Bestimmungen von Kapitalverhältnissen wird aber klar, daß auch wenn staatliche Manager in die Rolle der vertriebenen Unternehmer schlüpfen, die Produktionsmittel ebenso Kapital bleiben wie die Lohnarbeiter Lohnarbeiter.
Der Real-"Sozialismus" hat global mitgeholfen, die widersprüchlich-zivilisatorischen Möglichkeiten eines notwendig kapitalistischen Fordismus auszuschöpfen. Das beachtend bieten die Marxschen Aussagen über die materiellen Voraussetzungen zur Aufhebung von Kapitalverhältnissen eine theoretische Basis eines geradezu heiteren Abschieds vom Osten als einer spezifischen Form (nachholender) kapitalistischer Entwicklung, einen optimistischen Blick auf die Zerfallserscheinungen des Fordismus in Ost und West.

11)

Wann können nun nach Marx die Arbeiten "den Schein bloß äußrer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden"? Wann erscheint die Arbeit nicht mehr als "Lohnarbeit ... als äußre Zwangsarbeit ... und ihr gegenüber die Nichtarbeit als ‚Freiheit und Glück‘"? Marx’ Antwort: "Die Arbeit der materiellen Produktion kann diesen Charakter nur erhalten, dadurch, daß 1. ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2. daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint."(28) Bleiben wir bei der 2. Bedingung. Unter welchen materiellen Voraussetzungen kann der Produzent selbst Subjekt werden, muß von der Produktion selbst keine Spaltung der Gesellschaft mehr ausgehen, kann also massenhaft der bürgerliche Standpunkt verlassen werden? "In dem Maße", so eine Antwort, "wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und ... abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion."(29) Genau diese Technologie selbst ermöglicht und erfordert eine grundsätzlich andere Stellung des Menschen im bzw. zum Fertigungsprozeß als in der west-östlichen fordistisch-tayloristischen Wirtschaft. Nunmehr kann und muß – soll Produktion zivilisationsverträglich bleiben oder werden – sich der Mensch verhalten "als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst .... (Was von der Maschinerie gilt ebenso von der Kombination der menschlichen Tätigkeit und der Entwicklung des menschlichen Verkehrs.) Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein." (30)

12)

Wo diese Stellung massenweise möglich wird, entzieht sich die über Lohnarbeit laufende Verwertung von Wert auch selbst die Basis. Es ist dann "weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint."(31) Ab diesem "bestimmten Grad der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und daher des Reichtums" ist Produktion selbst vereinbar mit "der reichsten Entwicklung der Individuen. Sobald dieser Punkt erreicht ist, erscheint die weitere Entwicklung [auf kapitalistischer Basis – UW] als Verfall und die neue Entwicklung beginnt von einer neuen Basis."(32) "Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift." (33) Die Ökonomie kann von diesem Zeitpunkt an aufhören, eine politische zu sein, weil materielle Produktion, damit sie überhaupt auf hohem Niveau stattfinde, nicht mehr der Sondierung der "Gesellschaft in zwei Teile"(34) , nicht der Klassenspaltung und des Staates bedarf.

13)

Nach seiner frühen Beschreibungen des Menschen, der befreit von naturwüchsiger Arbeitsteilung die Freiheit habe "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, ... ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden"(35) hat Marx aus gutem Grund vermieden, je wieder faßliche Bilder des Kommunismus zu malen, sosehr das religiöse Bedürfnis in der Arbeiterbewegung auch danach drängte.(36) Sollte im proletarischen Tageskampf die kommunistische Perspektiven überhaupt wissenschaftlich begründet eine Rolle spielen, konnte dies nur intelligenzformuliert geschehen. Die mit der Arbeiterbewegung verbundene kommunistischer Intelligenz, sich selbst damit über die proletarische Masse erhebend, produzierte bzw. stützte Führungen, denen sie selbst schließlich unterworfen wurde. Schreiend wurde diese Widersprüchlichkeit, als statt wissenschaftlich-abstrakter Antizipation oder religiös-proletarischer Wunschbilder die "sozialistischen" Produktionsverhältnisse zur faßlichen Realitäten des gelobten Landes bzw. der angeblich ersten Schritte dahin wurden. Der Theorie wie dem Masseneinfluß der kommunistischen Parteien in den westlichen Metropolen ist dies letztlich schlecht bekommen.

14)

In den 60er Jahren keimte im Osten mit einem euphorischen Blick auf die allerersten Übergängen zur automatisierten Fertigung, auf die beginnende wissenschaftlich-technische Revolution, kurzzeitig eine faßbarere Ahnung der Perspektive vom "allseitig, schöpferisch, spielerisch Arbeitenden"(37) auf. Dies war gerade kompatibel mit den frühen Marxschen Aussagen über eine kommunistische Zukunft(38), nicht aber mit dem ML und nicht mit den Grundstrukturen des Ostens überhaupt. Es wurde schnell klar, daß soziale Bewegungen, die der beginnenden wissenschaftlich-technischen Revolution eine ungehinderte Entfaltung hätten sichern können, nur in der Rebellion gegen die hierarchisch-patriarchale gesellschaftliche Grundstrukturen, gegen die bürgerliche Spaltung in Herrschende und Beherrschte, entstehen konnten. Im Westen machte eine solche klassenungebundene emanzipatorische Bewegung neuer Art 1967/68 Furore. Mit dem Effekt des Ausschöpfens noch vorhandener ökonomisch-zivilisatorischer Potenzen in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft wurden sie integriert. Im Osten wurde diese Bewegung und deren theoretischer Reflex ohne derartigen Wirkung gestoppt. Die Grenze der real-"sozialistischen" Möglichkeiten war angezeigt. Der Osten ging daran kaputt, woran der Westen heute zunehmend krankt: an der Unfähigkeit, besser der strukturell bedingten Unmöglichkeit, dem neuartigen ganz "bestimmten Grad der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte" (39), durch welche "die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums ... der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums" werden kann, den erforderlichen zivilisationsverträglichen Raum zu verschaffen. Angesichts der in den letzten Jahrzehnten erscheinenden Produktivkräfte wird der "Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht," zur miserablen "Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne." (40) Die Organisations- und Herrschaftsfähigkeiten der über der Gesellschaft erhabenen Klasse einerseits sowie die Fähigkeiten und der Willen der Subalternen andererseits zur Unterwerfung unter lebenslange Lohnarbeit ist erstmalig keine Bedingung mehr für Reichtum und Zivilisation. Das lutherisch/real-"sozialistische" Arbeitsethos gerät zu recht ins Wanken.

15)

In den postfordistischen Produktionsformen erscheinen durch die Mikroelektronik und andere unmittelbare Anwendungen von Wissenschaft auf die Produktion vorangetriebenen postfordistischen Produktionsformen gerade solche Elemente, die nicht nur eine abstrakt-theoretische Beschreibung einer Produktion denkbar machen, die nicht mehr von Kapital und Lohnarbeit vorangetriebenen wird. Gegenwärtig vollzieht sich eine drastische Reduzierung der für die Herstellung von Produkten gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, was in der kapitalistisch Form ungewollter Arbeitslosigkeit eine sprunghaft wachsende Freizeit hervorbringt. Parallel dazu treten gerade in den Kernbereichen von lean-production aber auch in vielen prekären Arbeitsverhältnissen kleiner Firmen verstärkt Menschen aus dem unmittelbaren Produktionsprozeß heraus, werden Hierarchien flacher und unmittelbare Produzenten immer mehr zu Wächtern und Dirigenten einer zunehmend automatisierten Fertigung. Die Rolle der sogenannten sozialen Kompetenz der Akteure steigt, also die Fähigkeit zur selbständigen Kooperation mit Vertretern vor und nachgelagerter Prozesse zum Zecke permanenter Problemlösung. In vielen Produktionsbereichen erfolgt bzw. kann erfolgen die Umkehr von der tayloristisch-technologischen Zergliederung der Fertigung zur Zusammenfassung immer weiterer Prozesse. Statt Spezialisierung des Produzenten zugunsten einseitigerer Fähigkeiten zum Ausfüllen der Lücken in der Maschinerie, statt Entleerung der Persönlichkeit wächst technologisch-ökonomisch bedingt die Forderung nach Vielseitigkeit.(41) Kapitalistisch betrieben und nur in diesem Rahmen analysiert, erscheinen die neuen Fertigungsweisen jedoch für die meisten Menschen als Katastrophe. Sie ist bei Beibehaltung des kapitalistischen Rahmens auch von keinerlei reformerischen Reparaturversuchen aufzuhalten. Auf Marxsche Weise sozialistisch betrachtet und betrieben, könnten diese neuen Elemente jedoch als endlich entstehende Voraussetzungen einer reichen Entwicklung der Individuen auf der Basis gemeinschaftlich beherrschter moderner Produktivkräfte begriffen und genutzt werden. Von der Stellung des produzierenden und konsumierenden Individuums aus betrachtet, ist dies genau der Punkt, da die Aufhebung des Kapitalismus durch den Sozialismus-Kommunismus ökonomisch möglich wird.

16)

Diese Sichtweise könnte jeden Menschen, dem Existenz und zivilisatorischer Fortschritt am Herzen liegen, zu Optimismus verleiten. Doch kommen wir zur von Marx genannten 1. Bedingung dafür zurück, daß Arbeit nicht mehr als "Lohnarbeit ... als äußre Zwangsarbeit erscheint", daß "ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt" (42) sein muß. Zunächst ist jede Arbeit, die Gebrauchswerte nicht für den eigenen Verbrauchs herstellt, gesellschaftliche Arbeit. Nach Marx ist ein Spezifikum der kommunistischen Arbeit, daß das Individuum die Zwecke der Produktion "selbst erst setzt ... als Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts, daher reale Freiheit." (43) Wenn das kommunistische Individuum zwar ein Bedürfnis nach schöpferischer Tätigkeit hat, die Arbeit ihm also selbst schon Zweck ist, so produziert es aber Gebrauchswerte auch für andere, arbeitet also für den Zweck von anderen. Menschen. Wie kann es sein, daß der Zweck des Produzierens für andere Verbraucher vom Individuum selbst gesetzt wird, wenn es sich nicht um Arbeit zwecks Erwerb der Verfügungsmacht über die Produkte anderer Produzenten handelt, also etwa um Lohnarbeit, also doch wieder äußere Zwecke über den Produzenten bestimmen? Wo dies der Fall ist, in "der bürgerlichen Ökonomie ... erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Nierreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck."(44) Genau die kapitalistische Form des Setzens des gesellschaftlichen Charakters von Produktion ist es, was heute schnellen Jubel über die o. g. Möglichkeiten einer mit der Automatisierung verbundenen Persönlichkeitsentfaltung des Produzenten verbietet. Mögen sich Hierarchien abflachen, möge enorme geistige Beweglichkeit gefordert sein und sich der technologische und betrieblich-soziale Verantwortungsbereich stark erweitern, über allem stehen weiterhin äußere, vom Individuum nicht beherrschte Zwecke. Es ist die Verwertung von Wert, damit der galoppierende Zwang zur Reduzierung lebendiger, auch hochqualifizierter Arbeit. Das macht das schönste lean-production-team mit seinen abstrakten Möglichkeiten zur Selbstentfaltung seiner Mitglieder zu einer Ansammlung konkurrierender, sich selbst kontrollierender und damit doch weiterhin von äußerem Zwang getriebener Lohnarbeiter. Das treibt Produktion zur Vernichtung natürlicher Existenzvoraussetzungen und zum Zerstören von Zivilisation.

17)

Die östliche Variante des Setzens des gesellschaftlichen Charakters von Arbeit, die Zwecksetzung durch den "sozialistischen" Staat, war eine Sackgasse, eine Variante der bürgerlichen Ökonomie mit "sozialistischen" Heldengeschichten der "Nierreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck"(45). "Alles für den Sozialismus! Alles für die Stärkung des sozialistischen Staates!" – als Losungen haben wir hier die offene Formulierung des Streben des (Staats-)Kapitals nach Verwertung. Ebenso klar die normal-bürgerliche Bindung des Lohnarbeiters an diesen Verwertungsprozeß "Ich leiste was, ich leiste mir was."
Wenn also auch nicht real-"sozialistisch", wie kann dann der unmittelbare Produzent zum gesellschaftlichen Individuum werden, selbst zwecksetzend der "große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums" (46)? Wie kann das geschehen, wenn alle Varianten der bürgerlich-parlamentarischen Interessenvertretungen sowie macht- und staatsorientierte traditioneller Bewegungen und Institutionen der Produzenten, die allesamt notwendig antiemanzipatorische Strukturen entwickelten, ausscheiden? Innerhalb einer völlig isolierten Kommune, die sich selbst durch arbeitsteiliges Produzieren versorgt, ist diese gesellschaftliche Individuum auf elende Art irgendwie denkbar. Als Gesellschaft ist hier aber letztlich die der urgesellschaftlichen Horde gesetzt. Dies also kein erstrebenswertes Ziel. Es geht um Zivilisationsgewinn, nicht um Askese. Die an sich erfreulichen Veränderungen in der Stellung des unmittelbaren Produzenten geben nur die Möglichkeit, noch nicht die Wirklichkeit, daß der Produzent selbst zum Subjekt und der gesellschaftliche Charakter der Arbeit gesetzt wird im Sinne der bewußten Herrschaft von Assoziationen über die Bedingungen ihrer materiellen Existenz.

18)

Marx benennt noch eine weitere Voraussetzung dafür, daß die Gesellschaft sich ihre dann nicht mehr entfremdete Herrschaft über die materielle Produktion (zurück-)erobern kann ("zurück" hier bezogen auf die mit der Geschlechter- und Klassenspaltung verlorenen Herrschaft der archaisch-urgesellschaftlicher Assoziationen). Die heute galoppierende Privatisierung öffentlicher Einrichtungen (Verkehrs- und anderer Kommunikationsmittel, Schulbildung, Wissenschaft, Gesundheitswesen, polizeiliche Aufgaben, Kultureinrichtungen, die Verwertung jeglichen öffentlichen Raumes) voraussagend verweist Marx auf den Drang des Kapitals, sich auch "die Voraussetzungen der Zirkulation" zu assimilieren. Es verwandelt sie "in kapitalisierende Produktion oder Produktion von Kapital". Dies nennt Marx ,,eine propagandistische (zivilisierende) Tendenz" des Kapitals." (47) Für Menschen, die sich Marxisten nennen und die asozialen Konsequenzen des Neoliberalismus nostalgisch mit dem Sozialstaat bekämpfen wollen, ist dies sicher überraschend. Die Übernahme von bisherigen Staatsaufgaben, die traditionell außerhalb der Kapitalverwertung liegen, aber immer schon eine gesellschaftliche Bedingung der kapitalistischen Produktion waren, durch das Kapital selbst, geschieht in dem Maße, in dem das Produktivkraftniveau auch hier eine angemessene Verwertung zuläßt. Wo diese Entstaatlichung der Fall, ist nach Marx "die höchste Entwicklung des Kapitals" erreicht. Die "allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses" werden dann nicht mehr "aus dem Abzug der gesellschaftlichen Revenu hergestellt ..., den Staatssteuern - wo Revenu, nicht Kapital, als labour fonds erscheint und der Arbeiter, obgleich er freier Lohnarbeiter ist ... doch ökonomisch in einem andren Verhältnis steht - sondern aus dem Kapital als Kapital. Es zeigt dies den Grad einerseits, worin das Kapital sich alle Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion unterworfen." Das zeigt "andrerseits, wieweit der gesellschaftliche reproduktive Reichtum kapitalisiert ist und alle Bedürfnisse in der Form des Austauschs befriedigt werden; auch die als gesellschaftlich gesetzten Bedürfnisse des Individuums, d.h. die, die es nicht als einzelnes Individuum in der Gesellschaft, sondern gemeinschaftlich mit andren konsumiert." (48) In dieser Entwicklung selbst liegt noch kein Gran Sozialismus. Die ganze Gesellschaft, jeder Lebensbereich, wird zur Geißel des Kapitals. Der Staat verliert die Fähigkeit, den Individuen in allen Wechselfällen von Konjunktur und Krise wenigstens ein Mindestmaß an Stabilität, Sicherheit, Kultur, Bildung usw. zu sichern. Nicht mit dem kapitalistischen Monopol und dem Staatsmonopolismus war, wie Lenin annahm, die höchste und letzte Stufe des Kapitalismus erreicht. Das revolutionäre Konzept, das auf dieser Annahme gründete, konnte damals ein zivilisationsförderliches aber kein sozialistisches sein. Der heutige Prozeß einer neoliberalen Aufgabe staatlicher Regulierungsfunktionen, die alle Staaten in Ost und West im 20. Jahrhundert in ungeheurem Maße an sich gezogen hatten, ist höchst gefährlich für die Gesellschaftlichkeit wie für das Kapital selbst.

19)

Die kapitalistische Normalität selbst wird zur Katastrophe. Was kann daran zivilisierend sein? Nichts, wenn man diesen Prozeß mit der innerkapitalistischen Brille sieht. In kommunistischer Perspektive aber ist auch in einer solchen kapitalisierenden Übernahme von bisher unverzichtbar dem Staat zufallenden Aufgaben genau der Punkt erkennbar, da mit ihrer "höchsten Entwicklung" die alte Formation an ihre Grenze gerät und zugleich die Elemente der neuen hinreichend ausbildet. Warum? Wenn – so dieser optimistische Blick auf das, was uns heute als Katastrophe erscheint – die zivilisationssichernden allgemeinen Aufgaben tatsächlich dem Staat entrissen und von Einzelkapitalen selbst effektiv erfüllt werden (was im kapitalistischen Rahmen die Verrottung der nicht zahlungsfähigen Träger entsprechender Nachfrage etwa nach Bildung, Medizin usw. einschließt), dann existieren erstmalig in der Geschichte die Voraussetzungen dafür, daß assoziierte Individuen auch allgemeine Aufgaben direkt unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen können. Dann wird auch in Bezug auf Bewahrung der Gesellschaftlichkeit der Staat, der Ausdruck der bisherigen Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Teile, überhaupt funktionslos. Dann ist wirkliche Aufhebung der vom Kapital wie vom Staat repräsentierten Entfremdung möglich. Das ist identisch mit der Aufhebung von knechtender Arbeitsteilung und Privateigentum. Damit ist auch die im 20. Jahrhunderts in Ost und West schließlich zur Horrorvorstellung gewordene Konzeption, daß der Staat, "diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft"(49) (Marx) "alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates" zentralisiert, den "Arbeitszwang für alle" einführt sowie die "Errichtung industrieller Armeen" betreibt und auch noch die "Erziehung aller Kinder" übernimmt(50) (auch Marx) tatsächlich gegenstandslos geworden. Wenn auch die 68er offenkundig verfrüht "hier und jetzt und alles" wollten und letztlich wieder im modernisierten alten Brei landeten, Rudi Dutschke ist angesichts o. g. Entwicklung inzwischen zuzustimmen. Eine Theorie und eine Bewegung, die die wirkliche Emanzipation "in die Zukunft verlegte, die Eroberung des bürgerlichen Staates durch das Proletariat als primär für die soziale Revolution ansah", ist überholt. "Diese Etappentheorie, die in der Phase der für die Beseitigung des Mangels und der Notdurft notwendigen Entfaltung der Produktivkräfte durch die bürgerliche Gesellschaft alles für sich hatte, den ‘Sieg’ von Marx über Bakunin historisch rechtfertigte, kann für unsere Zeit, in der bei uns in den Metropolen der Kapitalismus auch nicht mehr einen einzigen Funken temporärer Notwendigkeit in sich hat, kaum noch Bedeutung haben." (51)

20)

Es ist klar, angesichts der heutigen materiellen Bedingungen einer sozialistisch-kommunistischen Umwälzung Revolution nicht mehr in Kategorien des ML und sonstigen Arbeiterbewegungsmarxismus erfaßt werden kann. Das begreifend wird die heute wichtige Fragestellung erst möglich: Wo konstituieren sich die assoziierten Individuen, die im Ringen um ihre eigene Emanzipation nicht wieder notwendigerweise zur Konstituierung neuer Herrschaft greifen müssen? Sie sind offenkundig nur außerhalb aller entfremdeter Formen, unter denen bis in die zweite Jahrhunderthälfte noch innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Epoche partielle Emanzipation erkämpft werden konnte, also außerhalb der Staats-, Parteien- und Parlamentsinstitutionen und anderer patriarchaler Strukturen zu finden. Sind in diesem Sinne die antiautoritären Bewegungen von 1967/68, die nachfolgenden klassenungebundenen sogenannten neuen sozialen Bewegungen sowie etwa die Bürgerbewegungen der DDR mit ihren Runden Tischen (bis zu ihrer deutsch-nationalen Zersetzung) die Vorboten einer in den realen Auseinandersetzungen unserer Zeit anstehenden Entdeckung? Es geht um neue emanzipatorische Formen, um die Auflösung alter Machtstrukturen, um die Aufhebung des heute schreiendsten Gegensatzes – der realen Möglichkeiten einer universellen Entwicklung der Individuen, die gemeinschaftlich ihre Zwecke selbst setzen könnten, und ihrer tatsächlich massenhaft realkapitalistischen Perspektivlosigkeit. Eine Theorie, welche die heutigen sozialen Bewegungen begleitet, hat hier wohl ihren spannendsten Gegenstand und in Marx den anspruchsvollsten Streitpartner.

Anmerkungen

1)Wenn ehemalige ML-er sich heute als "sozialistische" Reformer auf des staatsvermittelte Zähmen des kapitalistischen Tigers hoffen, folgen sie dieser Logik. Siehe Kontroverse über die rot-grüne Regierungspolitik: Ulrich Weiß, Terrain der rot-grünen Ent-Täuschung, in: ND, 14./15. 11. 1998, S. 14 und die Reaktionen von Jürgen Schuster, Linke Phrasen und die politische Realität, in: ND, 28./29. 11. 1998, S. 14, Heinz Hümmler, Verkrampfte Distanz zur Demokratie, in: ND, 8. 12. 1998, S. 15 und Robert Kurz, Finanzierbarkeitsterror, in: ND, 24. 12. 1998, S.8.

2) Walter Ulbricht, Die Bedeutung des Werkes "Das Kapital" von Karl Marx für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR und den Kampf gegen das staatsmonopolistische Herrschaftssystem in Westdeutschland, Berlin/DDR 1967, S. 38.

3) siehe Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosohphie. Einleitung, MEW 1/390f.

4) ebenda S. 378-91.

5) Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3/6.

6) ebenda S. 5.

7) J.W. v. Goethe, Faust, Berlin/DDR, 1966, S. 436ff.

8) Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3/6f.

9) Die Geschichte wird eine "kommunistische Aktion" zur Aufhebung des Privateigentums bringen in einem "sehr rauhen und weitläufigen Prozeß ... Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, daß wir von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung, und ein sie überbietendes Bewußtsein erworben haben." [Hervorhebung UW] Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW EB 1/553. Lenin hierzu: "Vom Standpunkt der Grundideen des Marxismus stehen die Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung höher als die Interessen des Proletariats." W.I. Lenin, Entwurf eines Programms unserer Partei, 1899, LW 4/230.

10) Der Realist Engels wird 1882/92 geradezu ein Prophet stalinistischer Realität: "Wir haben an der Befreiung des westeuropäischen Proletariats mitzuarbeiten und diesem Ziel alles andre unterzuordnen." Sobald der Befreiungsdrang der Balkanvölker "mit dem Interesse des Proletariats kollidiert, so können sie mir gestohlen bleiben." Verdirbt deren Emanzipationsstreben uns die "revolutionäre Situation ..., so müssen sie ... den Interessen des europäischen Proletariats ohne Gnade geopfert werden." F. Engels, Brief an E. Bernstein, MEW 35/280ff. Die früheren "Behauptungen, dass der Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie, deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit Einschluß der Kapitalisten" sind nur noch Phrasen, abstrakt zwar weiterhin richtig, "aber in der Praxis meist schlimmer als nutzlos." Eine an höheren, als den Interessen der Arbeiterklasse verpflichteten Menschlichkeit könnten "nur Neulinge" oder "die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wölfe im Schafspelz" vertreten. F. Engels, Vorwort zur englischen Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse in England", MEW 22/269f.

11) Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, in: MEW 13/9.

12) "Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke - in dem Einem wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird." Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3/32.

13) Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3/35.

14) Karl Marx, Das Kapital, MEW 23/88ff.

15) Karl Marx, Das Kapital, MEW 23, Kap. 13.

16) "Sie müßten einer der Versammlungen der französischen ouvriers beigewohnt haben, um an die jungfräuliche Frische, an den Adel, der unter diesen abgearbeiteten Menschen hervorbricht ... Jedenfalls aber bereitet die Geschichte unter diesen ´Barbaren´ unserer zivilisierten Gesellschaft das praktische Element zur Emanzipation des Menschen vor." Karl Marx, Brief an Ludwig Feuerbach. MEW 27/426 und Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW EB 1/553f..

17) Daran ging mancher Sozialist kaputt. "Wie die kapitalistische Produktionsökonomie das soziale Elend der Arbeiter vertieft, ist die des Sozialismus eine emanzipatorische Ökonomie." So markierte Lothar Kühne bezüglich der DDR seinen Denk- und Handlungsrahmen. Ders., Denkübungen zu Marx: Gestaltungen des Reichtums, in: In memoriam Lothar Kühne, Von der Qual, die staatssozialistische Moderne zu leben, Berlin 1993, S. 165. "Die menschliche Tragödie überzeugter Kommunisten könnte vielleicht vor allem darin gesehen werden, daß sie ihren ... Traum nach solidarischer Versöhnung der Freiheit unmittelbar als Anspruch an sich selbst und jeden anderen in der kommunistischen Partei stellten. ... Zum Mittun in einem bürokratisierten Betrieb von Partei, parteilicher Wissenschaft und Lehre usw. sich verpflichtend und zugleich als Handelnder seinem Tun einen revolutionären Sinn gebend, verlangte der überzeugte kommunistische Intellektuelle Lothar Kühne von sich das Unmögliche." Er "ist daran zugrunde gegangen. ... Die Macht, die ihm und anderen repressiv, anmaßend, dümmlich entgegentrat, hatte er selbst ihnen gegeben, als er sie als ‘unsere Macht’ für sich annahm." Michael Brie, Die Tragödie eines kommunistischen Intellektuellen, in: ebenda, S. 52f.

18) Es gibt von Marx eine entgegengesetzte Aussage von 1881: Die kapitalistischen Produktion biete international bereits "fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstab organisierten kollektiven Arbeit". Gestützt auf die westeuropäische Revolution und das dortige Produktionsniveau könne die russische Dorfgemeinde deshalb "der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, und ein neues Leben anfangen, ohne mit ihrem Selbstmord zu beginnen." Brief an V.I. Sassulitsch. MEW 19/405. Diese Aussage eines Briefentwurfes hält den sonstigen eindeutigen Intentionen der Kritiken der Politischen Ökonomie nicht stand.

19) In Deutschland "haben wir das 'letzte Wort' moderner großkapitalistische Technik und planmäßiger Organisation, die dem junkerlich-bürgerlichen Imperialismus unterstellt sind. Man ... setze an Stelle des militärischen, junkerlichen, bürgerlichen, imperialistischen Staates ebenfalls einen Staat, ... einen proletarischen Staat, und man wird die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt." W.I. Lenin, Über "linke" Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, LW 27/332. Sozialismus ist "nichts anderes ... als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein." Dieser Sozialismus schaut "durch alle Fenster des modernen Kapitalismus auf uns; in jeder großen Maßnahme, die auf der Grundlage dieses jüngsten Kapitalismus einen Schritt vorwärts bedeutet, zeichnet sich der Sozialismus unmittelbar, in der Praxis, ab." W.I. Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, LW 25/369f.

20) Karl Marx, Das Kapital, MEW 23/791.

21) Bernstein hat Bedenken, "die Industrie der Bureaukratisierung auszuliefern und möchte auch nicht das Staatsbeamtentum ins Unbegrenzte vermehren." Die kapitalistische Produktion "war ein gewaltiger Faktor des technisch-ökonomischen Fortschritts ... Es wird bezweifelt, daß die bureaukratisierte Produktion das Gleiche leisten würde." Bernstein, Eduard, Der Sozialismus einst und jetzt, Berlin 1923, S. 135 und ders., Entwicklungsgang eines Sozialisten. Sonderausgabe aus: Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1. Band Leipzig 1924, S. 11f.

22) W. I. Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: LW 27/250.

23) "Der mechanische Automat einer großen Fabrik ist um vieles tyrannischer, als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind ... was die Arbeitsstunden betrifft, kann man über die Tore dieser Fabriken schreiben: Laßt alle Autonomie fahren, die Ihr eintretet!" Soweit Engels (später auch Lenin) dies auf die seinerzeit überschaubare Produktivkraftentwicklung bezieht, ist dem zuzustimmen, nicht aber der folgenden Mystik: "Wenn der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft und des Erfindergenies sich die Naturkräfte unterworfen hat, so rächen diese sich an ihm, indem sie ihn ... einem wahren Despotismus unterwerfen, der von aller sozialen Organisation unabhängig ist." Die angeblich ewig tyrannische "Autorität in der Großindustrie abschaffen wollen, bedeutet die Industrie selber abschaffen wollen ..." Friedrich Engels, Von der Autorität, MEW 18/306f.

24) W. I. Lenin, Lenin, W.I.: Ein "wissenschaftliches" System zur Schweißauspressung, LW 18/588; ders, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, LW 27/249f und ders., Ein Löffel Teer in einem Fass voll Honig, LW 33/354.

25) Karl Marx, Das Kapital, MEW 23/442.

26) ebenda S. 445f.

27) Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.3/291.

28) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42/512.

29) ebenda S. 600.

30) ebenda S. 601.

31) ebenda.

32) ebenda S. 446.

33) ebenda S. 601.

34) Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3/6.

35) Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 33.

36) Dies fand seinen Niederschlag im Arbeiterlied. Doch auch in den Marxschen Kritiken erhielt die "Menschheitsperspektive der allseitig, schöpferisch, spielerisch Arbeitenden ... empirisch angewandt ihren historischen Fluchtpunkt in einem mythischen mittelalterlichen Handwerker, der zum Maßstab herhalten muß für die Beurteilung der Automationsarbeit. ... In seinen Ausführungen über die Maschinerie (MEW 23, insbes. Kap. 13) legt Marx eine solche Anlehnung an ein imaginäres Handwerksideal nahe." Projektgruppe Automation und Qualifikation. Frigga Haug (Leitung), Widersprüche der Automationsarbeit, Argument-Verlag Berlin/West 1987, S. 12f.

37) Projektgruppe Automation und Qualifikation. Frigga Haug (Leitung), Widersprüche der Automationsarbeit, Argument-Verlag Berlin/West 1987, S. 12.

38) Vergleiche die sogenannten Praxis-Diskussion unter DDR-Philosophen in den 1960 Jahren. Siehe: Helmut Seidel, Vom praktischen und theoretischen Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 14. Jg., 10/1966 und die sich daran anschließende Auseinandersetzung.

39) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW 42/446.

40) ebenda S. 601.

41) "Die Theorieförmigkeit der Automationsarbeit, die Planung des Ungeplanten und die dafür erforderliche Intensivierung der Kommunikation und Kooperation bedarf der Herausbildung einer neuen Stufe in der Vergesellschaftung der Arbeitenden, bedarf der Entwicklung einer neuen Arbeitskultur, in der die Entscheidungen zunehmend kollektiv, in der Form der Selbstverwaltung der Produktions- und Verwaltungsprozesse, getroffen werden. Die Realisierung dieser möglichen Perspektiven ... bedarf der demokratischen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, bis hinein in die Betriebe in der Weise, daß alle Menschen an den wichtigen Entscheidungen teilhaben, ihre Selbstverantwortung für das Ganze, Natur und Gesellschaft, entwickeln und betätigen können." Projektgruppe Automation und Qualifikation. Frigga Haug (Leitung), Widersprüche der Automationsarbeit, Berlin/West 1987, S. 31.

42) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42/512.

43) ebenda.

44) ebenda S. 396.

45) ebenda.

46) ebenda S. 601.

47) ebenda S. 448.

48) ebenda S. 438f.

49) Karl Marx, Erster Entwurf zum "Bürgerkrieg in Frankreich", MEW 17/541.

50) Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4/481/482.

51) Dutschke, Rudi: Bibliographie des revolutionären Sozialismus. Frankfurt-Hannover-Berlin. 1969. S. 21f.

52) "Im Realsozialismus wurde die Staatspartei zu dem Teil der Gesellschaft erklärt, der über den anderen erhaben und dazu berufen ist, die Gesellschaft seinem Willen zu unterwerfen. Die ‘Rebellion’ dagegen traf ins Herz des Systems." "Keineswegs vielversprechend ist ... ein Staat, der eine Arbeit einengende Vaterrolle gegenüber seinen Bürgern übernimmt. Gefragt sind dagegen Selbstorganisation und Solidarität freier und schöpferischer Individuen. In der 68er Bewegung ist kurz Licht auf den Weg in eine menschenwürdige Zukunft gefallen ... Dieser Weg verlangt das auf eigenen Entscheidungen beruhende Tun möglichst aller Menschen, durch das sie sich selbst auch verändern." Horst Kreschnak, Werkzeuge drängten ins "Chaos", Menschen in die Freiheit, in: ND 22./23. 08. 1998, S. 14.

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