it's not religion, stupid!
Freundschaft, »Homosexualität« und Islam. Das Beispiel Iran

von Georg Klauda
05/04

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In westlichen Versuchen, sich die »Schwulenverfolgung« in islamischen Ländern zu erklären, wird oft auf einen angeblichen »Mangel an zivilisatorischen Werten« verwiesen, wie sie sich im christlichen Europa spätestens seit der Aufklärung herausgebildet hätten. Dabei ist es meist der Islam, der in das Zentrum der Problematisierungen rückt. Eine gewisse Ironie lässt sich darin nicht verbergen, stellt es doch eine komplette Umkehrung der Vorwürfe dar, die von der Zeit der Kreuzzüge bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gegen »die Mohammedaner« erhoben wurden, nämlich dass bei ihnen die »abscheuliche Unzucht wider die Natur« gleichsam aus Gewohnheit blühe. Tatsächlich wurde die Verurteilung des mannmännlichen Analverkehrs durch den Koran [1], die dieser in abgemilderter Form von Juden- und Christentum übernommen hatte, in den vergangenen Jahrhunderten faktisch ignoriert. Stattdessen stieg die gleichgeschlechtliche Liebe zum Haupttopos arabisch-persischer Dichtung auf.

Im Hinblick auf die islamische Herrschaft in Spanien, die den Christen das Bild für ihre zahlreichen Dämonisierungen lieferte, schreibt John Boswell: »Es wäre ein Fehler, sich die kulturelle Vorliebe für homosexuelle Erotik als das Resultat einer Säkularisierung oder eines religiösen Niedergangs vorzustellen. Der spanische Islam war bekannt für seine Rigidität in gesetzlichen und moralischen Angelegenheiten [...] und wurde im Allgemeinen von Muslimen regiert, die im Rest der islamischen Welt für Fanatiker gehalten wurden. [...] Viele der Autoren ›schwuler‹ erotischer Poesie auf der iberischen Halbinsel waren Lehrer des Koran, religöse Führer oder Richter; fast alle schrieben konventionelle religiöse Verse ebenso wie Liebesgedichte.« [2] Diejenigen, die dennoch darauf beharren, dass eine unaufgeklärte Religion der entscheidende Faktor für die Schwulenverfolgung in der »islamischen Welt« sei, können sich, meist in Unkenntnis der vorgetragenen Geschichte, auf einschlägige Evidenzen stützen: In fundamentalistischen Staaten wie Iran und Saudiarabien werden »Homosexuelle« angeblich nach religiösem Recht zum Tode verurteilt. In Afghanistan ließen die Taliban während ihrer kurzen Herrschaft mindestens fünf Männer wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht öffentlich exekutieren. Für den Iran sind genaue Zahlen zwar nicht bekannt, jedoch gelangen Nachrichten über Hinrichtungen in unregelmäßigen Abständen immer wieder an das Licht der internationalen Öffentlichkeit.

Homosexuellenfeindschaft erscheint so als ein »vorkapitalistisches Relikt« und als religiöses Vorurteil, das sich durch die Einführung demokratischer Herrschaftsformen und das laizistische Prinzip der Trennung von Staat und Religion praktisch von selbst erledigen würde. Unterschlagen wird hierbei, dass das iranische Regime ein Archaismus aus zweiter Hand ist. Die Herrschaft der Mullahs ist bereits das Ergebnis des Scheiterns von Anstrengungen, das Land unter amerikanischer Aufsicht auf den Weg zu einer erfolgreichen kapitalistischen Staatsmacht zu bringen. Dies schloss, wie überall auf der Welt, wo sich gleiches ereignete, die Verarmung weiter Bevölkerungskreise ein, indem der Staat die Träger einer auf Subsistenz und lokalen Märkten beruhenden Ökonomie zum Zweck der staatlichen Reichtumsmehrung dem entfesselten Weltmarkt auslieferte und sie einer abhängigen Existenz als Lohnarbeiter bzw. industrielle Reservearmee zuführte.

Als Ursache für die Krise der Reproduktionsfähigkeit breiter Schichten der Bevölkerung hatten die Ayatollahs in den 70er Jahren ausgerechnet jenen Aspekt der Modernisierung ausgemacht, der sich gegen die alten Autoritäten und den Einfluss geistlicher Würdenträger richtete. Denn bei ihrem Versuch, dem erfolgreichen Entwicklungsmodell europäischer Staaten nachzueifern, setzte die von den Kolonialmächten eingesetzte Herrscherfamilie der Pahlewis auf eine gewaltsame Säkularisierung des Staates, etwa durch das Verbot der Frauenverschleierung und der Abgaben für die Koranschulen. Der Ayatollahs zogen daraus ihre Konsequenz, zerbrachen das althergebrachte Bündnis zwischen »Thron und Altar« und hetzten fortan gegen Verwestlichung, den Ausverkauf des Landes an ausländische Mächte, gegen Sittenverfall, die Verbreitung sexueller Unzucht sowie den aufkeimenden Materialismus. Sie übernahmen damit den Zungenschlag aller reaktionären Modernisierungskritiker, dessen Analyse keinerlei Kenntnis des Koran voraussetzt. Die Propaganda gegen »die westlich dekadente Homosexualität« und allgemeine Zügellosigkeit bedurfte daher einer Berufung auf die Shari'a eigentlich überhaupt nicht, benutzte diese aber als Folie für eine Propaganda zur Verteidigung angeblich autochthoner Werte gegen westliche Ideen.

Weit davon entfernt, eine vormoderne Tradition wieder einzusetzen, war der nachrevolutionäre Iran der »erste Feldversuch seiner Art, ein neues, islamisches Rechtssystem anhand der innerhalb der Geistlichen nie zu Ende diskutierten Rechtsnormen zu etablieren. Diese Normen konnten deswegen keinem Menschen außerhalb der Religionsschulen bekannt sein.« [3] Die polizeistaatliche Integration von Religion und Gesellschaft durch den iranischen Gottesstaat ist daher auch kein Rückfall in vormoderne Zeiten, sondern ein historischer Präzedenzfall in der islamischen Welt. Er wäre allenfalls mit gleichgearteten Episoden der europäisch-neuzeitlichen Geschichte wie der Tugendherrschaft der Puritaner unter Oliver Cromwell vergleichbar.

Demgegenüber zeichnete der traditionelle Islam sich durch pluralistische Machtzentren und eine konsequenten Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit aus. Weder existierte eine integrierte hierarchische Organisation vergleichbar der christlichen Amtskirche, noch waren die Gläubigen notwendig an einen bestimmten Geistlichen gebunden. Im schiitischen Islam ging der Pluralismus so weit, dass Mitglieder ein und derselben Familie unterschiedlichen Ayatollahs folgen konnten, die jeweils ein eigenes komplexes Regelwerk (Resaleh) für ihre Anhänger ausarbeiteten. Selbst dort, wo nach religiösem Recht geurteilt wurde, war der Einfluss des Kadi auf die private Gestaltung des Lebens durch die starke Betonung der Rolle von Zeugen im islamischen Recht begrenzt. Die Shari'a legt eher die Vertuschung als die Bestrafung von Unzuchtsvergehen nahe, wenn sie, sollten sich weniger als vier Augenzeugen zur Aussage bereit finden, diesen sogleich mit Peitschenhieben wegen Verleumdung droht. »In gewissem Sinn wird Geheimhaltung empfohlen« [4], klärt Marteen Schild die darin implizit zum Ausdruck kommende Haltung auf und meint damit nicht allein, dass die Sünder angehalten sind, ihre Tat vor der Öffentlichkeit zu verbergen, sondern auch, dass die Gemeinschaft aufgefordert ist, die private Übertretung islamischer Gesetze zu übergehen und sie nicht an die Öffentlichkeit zu zerren.

Vor diesem Hintergrund erscheint es auch dem linken Exil-Iraner Ali Mahdjoubi stark verkürzt, dass »Verfolgung und Unterdrückung von Homosexuellen in den islamischen Ländern mit pauschal vereinheitlichenden Urteilen und Sichtweisen nur einem Faktor angelastet wird: dem Islam« [5]. Tatsächlich ergibt der Begriff der Homosexualität im Horizont der heiligen Schriften gar keinen Sinn, weil er eine Denkweise transportiert, die mit dem Verständnis, das vormoderne Gesellschaften sich von dieser Sache gemacht hatten, auf grundlegende Weise kollidiert. Traditionelle islamische Juristen gingen etwa von der Prämisse aus, dass die erotische Anziehung gegenüber dem eigenen Geschlecht ein natürliches Faktum ist, das dem Menschsein als solchem entspringt. So schrieb der im Jahr 1200 n. u. Z. verstorbene konservative Rechtsgelehrte Ibn al-Gauzi: »Derjenige, der behauptet, dass er keine Begierde empfindet [wenn er schöne Knaben erblickt], ist ein Lügner, und wenn wir ihm glauben könnten, wäre er ein Tier, nicht ein menschliches Wesen.« [6] Die islamischen Verbote richten sich daher im Horizont eines traditionellen Verständnisses gegen eine bestimmte Handlung, keinesweges aber gegen eine Art zu lieben oder gar einen besonderen Typus von Person. Anders beim Mullah-Regime in Iran. Dort wird »›Homosexualität‹ [...] nicht nur als Übel an sich betrachtet, sondern liefert ein bequemes Etikett, um schlechte Menschen im Allgemeinen zu stigmatisieren. Diese weitspurige Definition unterfütterte, was im Iran geschah, wo man ›Homosexualität‹ oft als ein generisches Etikett in Anschlag brachte, um es nach Gutdünken auf Personen anzuwenden, die als Kriminelle verurteilt wurden, ob nun zurecht oder nicht. Es spielte keine große Rolle, was sie taten, es war genug zu wissen, dass sie antisozial und daher böse waren. Auf diese Weise konnten zum Beispiel politische Gegner ohne irgendeine legale Rechtfertigung eliminiert werden.« [7]

Die Einführung eines abstrakten Konzepts der Homosexualität ermöglichte es dem iranischen Regime, von einzelnen Handlungen zu abstrahieren und damit auch die Verfahrensvorschriften der Shari'a virtuell außer Kraft zu setzen, die, wären sie von dem neuen Regime auf konkrete Taten angewandt worden, eine Verurteilung fast unmöglich gemacht hätten. Stattdessen wurde »Homosexualität« zu einer destruktiven Wesenheit, ja zu einer subversiven gesellschaftlichen Kraft, die allgemeines Chaos und Verfall stiftete. »Homosexualität« konnte daher in jeder Form antisozialen und systemgegnerischen Verhaltens diagnostiziert werden. Es wurde zu einem frei flottierenden Stigma, um Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ins Visier des Regimes geraten waren, öffentlich zu diskreditieren.

Charakteristisch für die Entbettung von »Homosexualität« aus dem religiösen Kontext einer Sünde, die den spezifischen Akt des mann-männlichen Analverkehrs bezeichnet, ist die Kriminalisierung weiblicher Homosexualität durch das neue iranischen Strafrecht, obwohl sie weder in den Heiligen Schriften noch in der Tradition der islamischen Rechtsgelehrten jemals zuvor pönalisiert worden war. Homosexualität wird auf diese Weise zu einem unspezifischen Meister-Signifikanten, welcher der Abgrenzung von allen Übeln eines als säkularistisch und dekadent wahrgenommenen Westens dient. Für die moderne Formierung von Homosexualität als einer spezifizierenden Identitätskategorie steht dabei prototypisch die Abgrenzung von modischen Zeichen, die in Iran ursprünglich eine traditionelle, mitunter sogar eine religiöse Bedeutung besessen haben mochten wie die Ohrringe junger Männer, nun aber mit dem Typus des westlichen Homosexuellen assoziiert werden: »Der Wandel vollzog sich schnell: Jahrhunderte alte Bräuche wurden aus politisch-kulturellen Motiven heraus missbilligt und quasi verboten, verschwanden im Nu, weil man gehört hatte, schwule Männer im Westen würden Ohrringe als Bekenntnis zur Homosexualität tragen.« [8]

Dabei spielt offenbar keine Rolle, dass eine homosexuelle Szenebildung und die Herausbildung einer korrespondierenden lesbischen bzw. schwulen Identität in Iran so gut wie noch nicht stattgefunden hat. Selbst die allerjüngsten Versuche, durch moderne Kommunikationsmittel eine Vernetzung wie im Westen zu erreichen, beschränken sich, so Ali Mahdjoubi, auf die Gebildeten und materiell besser Situierten, wobei der Kreis der Beteiligten bzw. Interessierten so klein sei, »dass er gesellschaftlich irrelevant bleibt«. Ein Haupthindernis sei »die fehlende Wahrnehmung einer homosexuellen Identität unter denjenigen, die objektiv homosexuell sind«. Die meisten gingen davon aus, »dass die jahrelang bestehenden homosexuellen Beziehungen zwar in Ordnung seien, aber kein Grund, eine Identität daraus zu entwickeln«. Der durch intensivierte Kontakte mit dem Westen entstehende Bekenntnisdrang werde dagegen oft als »Outing-Terror« wahrgenommen. [9]

Hier argumentiert Mahdjoubi allerdings stark zirkulär. Die fehlende Szenebildung wird auf die subjektive Weigerung zurückgeführt, »sich nach bestimmten Merkmalen ›eingruppieren‹ zu lassen«‹. Entscheidend dafür, dass diese Weigerung aber überhaupt gelingen kann, ist die Tatsache, dass diese Sortierung auch von außen nicht vorgenommen wird. Intime Freundschaftsbeziehungen sind trotz der Panik, die das islamistische Regime um »die« Homosexualität verbreitet, noch immer ein relativ fester und akzeptierter Bestandteil des iranischen Alltags. Trotzdem gibt es einen schleichenden Trend zu ihrer Auflösung, der nicht zufällig dort am stärksten ist, wo auch ansatzweise die Formierung einer homosexuellen Identität zu beobachten ist: in den Kreisen des aufgeklärten Bürgertums, das sich durch eine z. T. kritiklose Übernahme westlicher Denkformen auszeichnet. So trägt nicht nur das Mullah-Regime, sondern auch sein gesellschaftlicher Widerpart dazu bei, dass die Ausdrucksformen traditioneller Freundschaftsbeziehungen wie Küssen, Umarmen und Händchenhalten als »homosexuell« – mithin als Ausdruck einer konstitutiven Andersartigkeit – identifiziert und unter Verdacht gestellt werden. Untergründig, und auf Dauer wahrscheinlich sogar wirkungsmächtiger, wenngleich weniger brutal, gerät das System der Freundschaft daher auch im Zeichen von Aufgeklärtheit und Modernität unter Beschuss. Mahdjoubi berichtet so von Eltern aus dem Bildungsbürgertum, die »parallel zu Warnungen vor Homosexualität mit heuchlerischen Belehrungen« die sozialen Kontakte ihrer Kinder einschränken. Denn die »›volkstümliche‹ Toleranz der Homosexualität« werde von ihnen als »mittelalterlich, traditionell und unmodern« abgelehnt. [10]


Fußnoten

[1] "Und diejenigen, die es von euch [Männern] begehen, strafet beide. Und so sie bereuen und sich bessern, so lasset ab von ihnen. Siehe, Allah ist vergebend und barmherzig." (Koran IV, 16).

[2] John Boswell: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. Chicago; London 1980. S. 197 (übers.).

[3] Ali Mahdjoubi: Homosexualität in islamischen Ländern am Beispiel Iran. In: Michael Bochow, Rainer Marbach (Hrsg.): Homosexualität und Islam. Hamburg 2003. S. 89.

[4] Maarten Schild: Islam. In: Wayne Dynes u. a. (Hrsg.): Encyclopedia of Homosexuality. New York 1990 (übers.).

[5] Ali Mahdjoubi, ebd., S. 91.

[6] Zit. u. übers. n. Arno Schmitt: Different Approaches to Male-Male-Sexuality/Eroticism from Morocco to Usbekistân. In: Ders., Jehoeda Sofer (Hrsg.): Sexuality & Eroticism Among Males in Muslim Societies. Berlin 1995. S. 7.

[7] Maarten Schild, ebd.

[8] Ali Mahdjoubi, ebd.

[9] Ebd., S. 97.

[10] Ebd.

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel erschien im Antifa-Infoblatt Nr. 62. Die vorliegende Fassung wurde von Georg Klauda im April 2004 erweitert. Er schickte uns seinen Artikel im April mit der Bitte um Veröffentlichung. Er schrieb dazu:

"
zu meinem Artikel "it's not religion, stupid!" hätte ich ergänzend eine  geeignete Dokumentation anzubieten, die ich soeben auf meine Homepage gestellt habe. Es handelt sich um die Übersetzung einer Passage aus John Boswells Buch "Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality", in der er über die Bedeutung "schwuler" Liebespoesie im maurischen Spanien schreibt"

Islam und »schwule« Liebespoesie im maurischen Spanien

Textauschnitt aus: John Boswell, Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality (übers.)

John Boswell, 1994 im Alter von 47 Jahren an den Folgen von Aids verstorben, ist der bekannteste Vertreter einer essentialistischen [1] Strömung in der Historiographie der Sexualitäten. Das selbsterklärte Ziel der Arbeiten des bekennenden Katholiken war es, »die verbreitete Vorstellung zurückzuweisen, dass religiöser Glaube – der christliche oder ein anderer – die Ursache von Intoleranz in Bezug auf schwule Männer gewesen ist«. 1980 veröffentlichte er mit »Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality« eine Studie, die seine These an einem umfassenden Quellenkorpus belegen sollte. In diesem für die spätere Entwicklung der »gay & lesbian studies« einflussreichen Werk findet sich auch ein Umriss über die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Liebe in der islamischen Dichtung des mittelalterlichen Spaniens, dem sich Boswell im Rahmen seiner Forschungstätigkeit als Geschichtsprofessor an der Yale-Universität ausgiebig zugewandt hatte. Im Folgenden möchten wir diese kurze Skizze auszugsweise wiedergeben.

Die arabische Sprache beinhaltet ein umfangreiches Vokabular schwuler erotischer Terminologie mit Dutzenden von Worten, allein um Typen männlicher Prostituierter zu beschreiben. Die erotische Adressierung eines Mannes durch einen anderen ist die Standardkonvention arabischer Liebespoesie; sogar Gedichte, die wirklich an oder für eine Frau geschrieben wurden, benutzen oft männliche Pronomen oder Metaphern männlicher Schönheit: es ist nicht ungewöhnlich, an eine Frau gerichtete Poesie zu finden, in der das Objekt der Zuneigung des Dichters für »einen dunklen Schnurrbart über den perlenweißen Zähnen« oder den »ersten Flaumbart auf einer Haut aus Damast« gepriesen wird. Gedichte über die physische Anziehungskraft, die der erste Bart eines jungen Mannes ausübt, konstituieren ein ganzes Genre in der arabischen Dichtung. Dass solche literarischen und sozialen Phänomene nicht einfach nur soziale Beschränkungen der öffentlichen Zurschaustellung und Bewunderung von Frauen widerspiegeln, zeigt die Praxis in vielen Gegenden der muslimischen Welt (besonders Spanien), hübschen Mädchen die Haare kurz zu schneiden und ihnen männliche Kleidung anzuziehen, so dass sie wie hübsche Jungen aussehen: die Frauen, die an dieser ungewöhnlichen Form von Transvestismus teilhatten, standen offensichtlich bereit, in ihrer Weiblichkeit gewürdigt zu werden.

Wenn sich irgend etwas über das frühmittelalterliche Spanien sagen lässt, dann dass diese Tendenz dort übersteigert war. Jede Variante homosexueller Beziehung war verbreitet, von der Prostitution bis zur idealisierten Liebe. Erotische Verse über scheinbar homosexuelle Beziehungen bilden das Gros der publizierten spanisch-arabischen Poesie. Solche Verse wurden von jeder Art Person jeden Ranges geschrieben. Könige schrieben Liebesgedichte an oder über ihre männlichen Untertanen und erhielten im Gegenzug erotische Dichtung zurück. Dichter schrieben sich gegenseitig Liebesverse oder richteten sie an Personen aus niedrigerem Stand. Als al-Mutamid, im 11. Jahrhundert König von Sevilla, von seinem Pagen schrieb, dass »ich ihn zu meinem Sklaven machte, aber die Schüchternheit seines Blickes machte mich zu seinem Gefangenen, so dass wir beide zugleich Sklave und Herr füreinander waren«, drückte er damit ein Gefühl aus, mit welchem seine Untertanen nicht nur sympathisieren konnten, sondern über das sie selbst vermutlich ähnliche Verse komponierten oder rezitierten.

Al-Mutamid verliebte sich auch in den Poeten Ibn 'Ammar, vom dem getrennt zu sein er nicht ertragen konnte, »selbst für eine Stunde, einen Tag oder eine Nacht«, und den er zu einem der mächtigsten Männer in Spanien machte. In den früheren Tagen des Jahrhunderts wurde das Königreich Valencia von einem Paar ehemaliger Sklaven regiert, die sich ineinander verliebt hatten und gemeinsam die Stufen des Staatsdienstes emporgeklettert waren, bis sie sich in einer Position befanden, um selbst zu herrschen. Ihre gemeinsame Regentschaft wurde von bewundernden muslimischen Historikern als eine Beziehung vollständigen Vertrauens und gegenseitiger Hingabe ohne jede Spur von Konkurrenz und Eifersucht charakterisiert, und ihre Liebe füreinander wurde in Versen von Dichtern besungen, die es aus ganz Spanien an ihren Hof zog.

Die spanisch-muslimische Gesellschaft kombinierte die freizügige Sexualität Roms mit der griechischen Neigung zur leidenschaftlichen Idealisierung emotionaler Beziehungen. Ihre intensivste erotische Literatur mochte Beziehungen zelebrieren, die entweder sublimiert oder sexuell waren, aber in jedem Fall war sie dazu angetan, gleichgeschlechtliche Verbindungen ebenso zu feiern wie heterosexuelle, wenn nicht sogar mehr als diese.

Es wäre ein Fehler, sich die kulturelle Vorliebe für homosexuelle Erotik als das Resultat einer Säkularisierung oder eines religiösen Niedergangs vorzustellen. Der spanische Islam war bekannt für seine Rigidität in gesetzlichen und moralischen Angelegenheiten, brachte herausragende Juristen und Theologen hervor und wurde im Allgemeinen von Muslimen regiert, die im Rest der islamischen Welt für Fanatiker gehalten wurden. Homosexuelle Liebesmetaphorik war eine Standardwährung der mystischen Literatur des Islam sowohl in als auch außerhalb Spaniens. Viele der Autoren schwuler erotischer Poesie auf der iberischen Halbinsel waren Lehrer des Koran, religöse Führer oder Richter; fast alle schrieben konventionelle religiöse Verse ebenso wie Liebesgedichte. Ibn al-Farra', ein Lehrer des Koran in Almería, richtete amouröse Verse an die Schüler seiner Klasse und schrieb ein Gedicht darüber, wie er einen widerspenstigen Liebhaber vor Gericht zog, wo der Kadi urteilte, dass der Jugendliche den Annährungsversuchen des Lehrers nachgeben müsse:

Dann deutete [der Richter] auf die Blumen, dass sie anzunehmen seien,
Und auf den Mund, dass er gekostet werden sollte.
Und als mein Geliebter ihn auf meiner Seite sah,
Und es nicht länger irgendeine Kontroverse zwischen uns gab,
Beendete er seinen Widerstand, und ich umfasste ihn,
Als wäre ich ein Lam and mein Liebhaber ein Alif. [2]
Ich fuhr fort, ihn für seine Lieblosigkeit zu tadeln,
Und er sagte: »Möge Gott einen vergangenen Fehler vergeben!«


[2] Eine Metapher grafischer sexueller Herkunft: die arabischen Buchstaben Lam und Alif werden in einer Weise zusammengeschrieben, die hier verwendet wird, um das Eindringen des einen in den anderen anzudeuten. Das Lam (Ibn al-Farra') wird ل geschrieben, das Alif (der Jugendliche) ا ; wenn sie zusammen auftreten, erscheinen sie als لا.


Aus: John Boswell: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. Chicago; London 1980. S. 195-197.

Übersetzung: G. K.



Anmerkung

[1] Der Essentialismus geht davon aus, dass die Begriffe »lesbisch«, »schwul« und »heterosexuell« überzeitliche Wesensmerkmale bezeichnen, die auch anderen Gesellschaften als der modernen westlichen problemlos von außen imputiert werden könnten. Das ist umso verwirrender, als Boswell das Dilemma selbst erkennt: »Tatsächlich wirft die Bekanntschaft mit der Literatur der Antike ein äußerst verblüffendes Problem für den Geisteswissenschaftler auf, das den meisten Personen, die unvertraut mit den Klassikern sind, nicht in den Sinn käme: ob die Dichotomie, die durch die Termini ›homosexuell‹ und ›heterosexuell‹ unterstellt wird, überhaupt mit irgendeiner Realität korrespondiert. [...] Das Bewusstsein über Gründe der Unterscheidung folgt auf das Verlangen zu unterscheiden. Die Frage, wer ›schwarz‹, ›farbig‹ oder ›Mulatte‹ ist, beunruhigt nur Gesellschaften, die von rassistischen Vorurteilen beeinträchtigt sind [...]. In der antiken Welt kümmerten sich so wenige Menschen darum, ihre Zeitgenossen auf der Basis des Geschlechts zu kategorisieren, zu dem sie sich erotisch hingezogen fühlten, dass keine Dichotomie gebräuchlich war, um diese Unterscheidung auszudrücken.« (Boswell, a. a. O., S. 58 f.)