Seminarbericht
Der globale Überlebenskampf


von
Anne Seeck

05/10

trend
onlinezeitung

Am 7. und 8. Mai 2010 führten wir zu diesem Thema ein Wochenendseminar im Mehringhof in Berlin durch. Das Seminar richtete sich vor allem an Marginalisierte in Berlin, die sich mit der Situation der Marginalisierten in der Peripherie (früher Dritte Welt) auseinandersetzen sollten. “Wie globale Armut. Reicht Dir Hartz IV nicht?”, wurde mir im Vorfeld gesagt. Die Resonanz, d.h. TeilnehmerInnenzahl, war entsprechend gering. Das Desinteresse der “Berliner Erwerbslosenszene” an der globalen Frage hatte ich bereits vorausgeahnt. Das Seminar richtete sich aber auch an die restliche Linke. Vor zehn Jahren erlebte ich politisch Aktive in einem linken Stadtteilladen, die sich mit den Armen in der Peripherie (Dritte Welt) solidarisierten und gleichzeitig die Armen nebenan arrogant behandelten, weil sie nicht ihrem Idealbild vom revolutionären Subjekt entsprachen. Ich kritisierte damals, dass sich die Linke zwar mit dem Thema Migration und internationalen Problemen beschäftigte, aber die Stadtteilarbeit vor Ort vernachlässigte. Heute ist das anders. Jetzt hat die (radikale) Linke ein neues Lieblingsthema, die Gentrifizierung und jetzt wird sogar Stadtteilarbeit gemacht, wie in Neukölln. Der Blick richtet sich auf den Stadtteil, wobei die globale Ebene wieder vergessen wird. M.E. muß der lokale Kampf mit der globalen Ebene verbunden werden, nur so kann man überhaupt begreifen, was geschieht. So hat die zunehmende Armut in Neukölln mit der Globalisierung zu tun, einerseits mit der Deindustrialisierung und Auslagerung der Produktion in die Peripherie und andererseits mit der Massenmigration aufgrund der katastrophalen Probleme in der Peripherie. Um den “Standort Deutschland” in der globalisierten Welt angeblich zu sichern, wird der Niedriglohnsektor auch in Deutschland vehement ausgebaut. Der Arbeiter in den “reichen” Ländern steht mit dem Arbeiter in den “armen” Ländern in Konkurrenz. Soziale Sicherungssysteme werden abgebaut. Schauen wir, die Marginalisierten in Berlin, in die Peripherie (nicht nur der Dritten Welt, sondern auch zum Beispiel in die Ghettos der USA), schauen wir vielleicht in unsere Zukunft. Und die macht Angst.

Aber wir müssen begreifen, was in der Welt geschieht,
nur so können wir auch wirksame Gegenwehr leisten...

 

Das Seminar begann mit meinem Vortrag zur globalen Armut. Hier ist die Vorlage des Vortrages, in dem Seminar mußte ich mich kürzer fassen.

Zunächst führte ich Statistiken der Bundeszentrale für politische Bildung an. Wobei man mit diesen Zahlen vorsichtig sein muß, denn häufig hat Statistik eine Verschleierungsfunktion. So will diese Statistik der Bundeszentrale Erfolge durch die Politik nachweisen, angeblich sei die globale Armut gesunken. Und wie will man die Armut in den Slums mit Hilfe von Statistiken messen. Die Statistik würde die wahren Verhältnisse erst aufzeigen, wenn alle aufgenommen werden, die in den Verhältnissen einer enormen Reichtumsproduktion gestorben sind. Aufgrund der Folge der Wirtschaftskrise gibt es zum Beispiel über eine Milliarde Hungernde. Das Leben vieler ist auf die Lebensform von Neandertalern zurückgestutzt. Wir haben in diesem Seminar viele Bilder benutzt, die in diesem Zusammenhang viel aussagekräftiger sind. Ich hatte eine kleine Ausstellung gestaltet, Wolfgang Ratzel hatte eine Bildermappe zusammengestellt. Hier eine Geschichte aus der Ausstellung:

Ich möchte die Geschichte von Subur und Subeki aus Jakarta erzählen, wie sie in dem Buch “So leben wir. Menschen am Rande der Megacitys” zu finden ist. Subur erzählt: “Mein Sohn heißt Subeki. Er ist neun Monate alt. Bald wird sein erster Geburtstag sein. Früher schlief ich unter der Treppe eines Hauses, aber es störte die Leute, die dort lebten, also zog ich hierher, auf diese Bank. Ich fragte den Besitzer der Bank, ob ich hier schlafen kann, und er sagte ja. Ich komme gut mit meinen Nachbarn aus, also werde ich hier bleiben. Ich kümmere mich auch ein bisschen um die Sicherheit. Meine Sachen bewahre ich in der Nähe der Treppe auf, wo ich vorher lebte, aber ich habe nur eine Handvoll Kleider. Ich trage sie, wasche sie, trockne sie und ziehe sie wieder an. Meine Arbeit ist genauso: Ich wasche anderer Leute Kleidung und sammle Plastikbecher ein. Ich arbeite, bis ich genug zusammen habe, um zu essen, dann höre ich auf. Wenn ich keine Lebensmittel mehr habe, fange ich wieder an zu arbeiten. Wenn es regnet, setze ich mich hin und nehme meinen Sohn auf den Schoß. Ich will nicht, dass er nass wird. Ich habe nichts gegen den kalten Wind und den Regen. Mir macht es nichts aus, nicht zu schlafen und Hunger zu haben, solange mein Sohn nicht hungrig ist. Vor vielen Jahren kam einmal ein Mann hierher. Er hatte ein Baby dabei, das etwa so alt war wie mein Sohn jetzt. Dieses Baby, das war ich. Mein Vater hatte nicht genug Geld, um mich zu versorgen, also gab er mich dem Mann, dem die Wasserpumpe da hinten gehört. Deswegen brauche ich nicht zu bezahlen, wenn ich bade. Meine Stiefeltern haben mich damals aufgenommen und daher lassen sie mich das Wasser benutzen. Als ich zwölf war, wurde ich das erste Mal verheiratet. Ich habe deswegen meine Schulausbildung abgebrochen. Aber mein Mann starb.

ANKÜNDIGUNG
Überlebensformen lokal
4./5.6.2010 im Mehringhof, Gneisenaustr.2a

Freitag 19 Uhr

"
Die Hetze gegen Harte IV-Bezieherlnnen und aktuelle Entwicklungen" Vortrag von Anne Seeck

"Sind Erwerbslose, Working Poor und andere Prekarisierte zur Selbstorganisation willens und
fähig?" Vortrag von Wolfgang Ratzel

Samstag
11.30-13 Uhr
Deutschland Dritter Klasse- Leben in der Unterschicht
14-15.30 Uhr
Der Tag einer Ein-Euro-Jobberin und einer Vermaßnahmten
16-17.30 Uhr
Wolfgang Ratzel: Aus dem Leben des Herr W.
Input von Anette Heselhaus:
Spiegelzitat(40/2003.21):"Der wahre Treibsatz für die Sozialhilfeetats steckt in den Ausgaben für Schwerstbehinderte."
18-19 Uhr Abschlußdiskussion
 

3. Seminar: Widerstandsformen
11./13.6.2010 im Mehringhof, Gneisenaustr.2a

In diesem Seminar werden Vertreterinnen aus Erwerbsloseninitiativen und dem Sozialprotestspektrum eingeladen, um ihre Erfahrungen einzubringen, wie Selbstorganisation und Widerstand von Erwerbslosen aussieht bzw. aussehen könnte. Wie erreichen wir eine Vernetzung und bessere Mobilisierung der Betroffenen?

Freitag, d. 11.6. um 19 Uhr
"Erwerbslosenprotest- Rückblick und Ausblick"
Podiumsdiskussion mit Guido Grüner (ALSO' . i, Peter Nowak (Autor des Buches "Zahltag"), Anne Allex (AK Marginalisierte), Paul Decruppe (AK Arbeitslosigkeit der IG Metall) u.a.

Am 12.6. ist die Krisendemo!

Sonntag, d. 13.6.
11.30-13 Uhr
"Mieterhöhungen, Zwangsumzüge und Verdrängung von Erwerbslosen"
Input von der "Kampagne gegen Zwangsumzüge"
14-15.30 Uhr
"Hilfe beim Ämterstress- Solidarisches Begleiten zum Jobcenter"
Input von der Initiative "Keiner muss allein zum Amt"
16-17.30 Uhr
„Die Aktivitäten der Kampagne gegen Harte IV"
Input Angelika Wernick „Berliner Kampagne gegen Harte IV"
17.45-19 Uhr Die Abschlussdiskussion: Der Ausblick

Unterstützt von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt Veranstalter: Teilhabe e.V.,
Kontakt: anne.snk44@yahoo.de

Ich habe den Männern immer gefallen, und natürlich wollte ich eine Familie, aber leider hat einer mich hinters Licht geführt. Es stellte sich heraus, dass er schon verheiratet war- ich bekam ein Baby. Das ist meine Geschichte.”

Nun zur Statistik. Ca. 1 Milliarde Menschen lebten 2002 mit weniger als einem US-Dollar pro Tag und Kopf, 2,6 Milliarden mit weniger als zwei Dollar. Es gibt schätzungsweise 800 Millionen Hungernde weltweit, über zehn Millionen Kinder sterben vor ihrem 5. Lebensjahr.

In 53 Staaten, in denen über 80% der Weltbevölkerung leben, hat sich die Ungleichheit in den letzten 20 Jahren verschärft. Die ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung beziehen weniger als 1,5 Prozent des weltweiten Einkommens, die ärmsten 40 Prozent der Weltbevölkerung ganze 5 Prozent. Die reichsten 10 Prozent haben dagegen 54 Prozent des weltweiten Einkommens, die reichsten 20 Prozent sogar 74 Prozent des Einkommens.

Jetzt kam ich zum Thema Arbeit.

Trotz Erwerbstätigkeit leben viele Menschen weltweit unter der Armutsschwelle. So haben 87% der arbeitenden Menschen in Südasien und im subsaharischen Afrika ein Einkommen unter zwei Dollar pro Tag und Kopf. (ca. 1,4 Milliarden Menschen weltweit im Jahre 2005).

Im Jahre 2005 betrug die weltweite Arbeitslosenquote 6,3 Prozent. (laut ILO- International Labour Organization), das waren ca. 192 Millionen Arbeitslose.(Wobei hier erwähnt werden muß, dass Arbeitslosenstatistiken oft gefälscht sind, die Dunkelziffer wird viel höher sein.) 2010 wird mit 213,4 Millionen Arbeitslosen ein Rekordhoch erreicht werden, andere Schätzungen (der ILO) sprechen von bis zu 241 Millionen Arbeitslosen.

Ein besonderes Problem ist die Jugendarbeitslosigkeit. Jugendliche von 15 bis 24 Jahren haben eine dreimal so hohe Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, als ältere Arbeitnehmer. Im Jahre 2003 betrug die Arbeitslosenquote von Jugendlichen im Nahen Osten und Nordafrika 25,6 Prozent, im subsaharischen Afrika 21 Prozent.

Auch die Situation der Frauen ist dramatisch. Weltweit gibt es fast 100 Millionen offiziell gemeldete arbeitslose Frauen. Nur ein Viertel der Frauen hat eine gesicherte Arbeit. Ca. 570 Millionen Frauen bekommen regelmäßig Lohn oder haben einen eigenen Betrieb. 1,1 Milliarden Frauen, das ist fast die Hälfte aller Frauen über 15 Jahren, haben keinen Zugang zu wirtschaftlichen Aktivitäten, weil sie für die Familie sorgen müssen- Kinder erziehen, Wasser holen, kochen, auf dem Feld mitarbeiten, die Wohnung in Ordnung halten. 300 Millionen Frauen helfen unentgeltlich im Familienbetrieb mit. Etwa 320 Millionen Frauen werden als “Selbständige” gezählt. Sie sammeln Müll, unterhalten kleine Garküchen, verkaufen genähte Ware, Obst oder Gemüse etc. Oder sie sind zum Beispiel Prostituierte. Oftmals werden die Frauen für ihre Arbeit nicht bezahlt. So arbeitet in Südasien jede dritte Frau, doch nur 1/ 7 erhalten Lohn. Frauen werden auch oftmals niedriger bezahlt als Männer.

Eine große Bedeutung hat die “Informelle Ökonomie” in der Peripherie:

Die ILO schätzt, dass bis zu 70 Prozent aller Beschäftigten in den ökonomisch sich entwickelnden Staaten einer informellen Beschäftigung nachgehen. Konzerne lagern die Produktion aus, Subunternehmen in den sich entwickelnden Ländern greifen wiederum auf den informellen Sektor zurück. Einen hohen Anteil an der Ökonomie hat der informelle Sektor im subsaharischen Afrika, in Lateinamerika, der Karibik, Zentralasien und den einkommensschwachen Ländern Europas.

Frauen stellen die Mehrheit der “unsichtbaren” Arbeitskräfte im informellen Sektor. Im südlichen Afrika arbeiten fast alle Frauen im informellen Sektor, in Indien und Indonesien sind es neun von zehn Frauen. Auch in der weiblichen Bevölkerung kommt es zu einer sozialen Spaltung. Frauen aus der Mittelschicht lassen vorzugsweise illegale Migrantinnen Betreuungs- und Hausarbeiten verrichten. Für die armen Frauen in allen Weltregionen werden das wichtige Einkommensquellen.

Zum informellen Sektor gehören legitime Aktivitäten in der Manufaktur, im Handel und bei persönlichen Diensten. Es gibt Personen, die auf eigene Rechnung arbeiten. Diese selbständig Beschäftigten arbeiten oft mit Hilfe von Familienangehörigen, die keine Entlohnung bekommen. Und es gibt die Beschäftigten in semilegalen oder illegalen Kleinstbetrieben, die bis zu 10 Beschäftigte haben. Hier sind häufig handwerkliche Kenntnisse notwendig. Die Produktionsweise ist arbeitsintensiv, vorwiegend wird für den lokalen Markt gearbeitet.

Zum illegitimen Bereich gehören nichtproduktive Tätigkeiten, wie Betteln, und auch die Kriminalität, wie Schmuggel, Drogenhandel, Prostitution.

In der Dritten Welt gibt es auch die Beschäftigung im Subsistenz-Sektor. Diese Arbeit wird nicht entlohnt und ist gebrauchswertorientiert. Die Einkommen aus dem formellen und informellen Sektor reichen oft nicht aus, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen und die Reproduktion zu sichern.

Mike Davis schreibt, dass “Städte zum Müllabladeplatz für eine überschüssige Bevölkerung ungelernter, unterbezahlter und entgarantierter Arbeitskräfte im informellen Dienstleistungsgewerbe und Handel geworden (sind)...Insgesamt zählt die globale informelle Arbeiterklasse etwa eine Milliarde Menschen (sie überschneidet sich mit der Slumbevölkerung, deckt sich aber nicht mit ihr), damit ist sie die am schnellsten wachsende soziale Klasse der Welt und historisch ohne Beispiel.” (Davis, S.183ff.) Die Armutsbevölkerung in den Slums sei in der gegenwärtigen internationalen Ökonomie heimatlos. Sie sei zum Unternehmertum in der informellen Ökonomie gezwungen. Es warte eine Reservearmee von Überflüssigen darauf, in den Arbeitsprozeß integriert zu werden, was aber auf Dauer nicht geschieht. “Ende der 1990er Jahre gab es eine Milliarde arbeitsloser oder unterbeschäftigter Arbeiter, die meisten davon im Süden...(es gibt) auf offizieller Seite keinerlei Vorstellungen, wie diese gewaltige Masse an überschüssiger Arbeitskraft wieder in den allgemeinen Lauf der Weltwirtschaft eingegliedert werden kann.” (Davis, S. 208)

Wie diese Milliarden Überflüssigen beschäftigt werden sollen, damit sie überleben können, war für uns die Hauptfrage in der Diskussion. China löst diese Frage mit einem intensiven Einsatz von Handarbeit. Das Bild einer Fabrikhalle in China, in der viele Hundert Wanderarbeiter per Hand Hühner zerlegen, war das aussagekräftigste Foto unserer Bildersammlung.

An dieser Stelle zitierte ich zum Komplex Arbeit Menschen aus dem Buch “So leben wir”:

Ein Tagelöhner in Mumbai: “Ich wache jeden Morgen um halb sieben auf. Ich wasche mich, dann gehe ich raus und suche Arbeit. Manchmal finde ich etwas, manchmal nicht. Es gibt hier in der Nähe ein Büro, da kann man nach Arbeitsangeboten fragen. So gegen zehn oder elf Uhr abends komme ich nach Hause, manchmal auch später. An anderen Tagen komme ich früh nach Hause. Manchmal verdiene ich sehr wenig, an anderen Tagen ist es schon besser. In Dharavi zu leben, ist billig. Es ist ein Ort für die Armen, darum sind wir hier.”

Ein Müllsammler in Jakarta: “Wir alle hier sind Müllsammler. Wir leben unter der Mautbrücke, etwa 40 Personen. Ich kam vor sieben Jahren hierher. Da gab es kein Licht und keinen Strom. Ich habe meine Freunde dazu geholt, Cousins, Neffen und Nachbarn. Wir alle haben ein Ziel: Wir arbeiten, damit wir etwas zu essen haben. An einem guten Tag kriegen wir etwa 30 000 Rupien (525 Euro, bei 40 Personen, 13 Euro pro Person) zusammen. Es hängt davon ab, was wir finden. Manchmal finden wir sehr viel, ein anderes Mal wenig. Manchmal finden wir Säcke voller Materialien aus Stahl und Plastik, für die man gutes Geld bekommt. Das ist es, was ein Müllsammler macht: Er sammelt alles, was sich noch weiterverkaufen lässt, ignoriert den Rest und zieht dann weiter. Die meisten Menschen finden Müll widerlich. Aber was sollen wir dagegen haben, wenn wir damit unsere Familien ernähren können? Wir würden jeden Job machen, solange er legal ist. Wir wollen keine Kriminellen sein. Wenn sie uns vertreiben, folgen wir einfach dem Boss. Solange man einen Anführer hat, gibt es auch Arbeit. Wenn man motiviert ist, findet man auch was zu tun.”

Ein anderer Mann in Jakarta: “Ich kann kaum noch laufen, weil ich Kinderlähmung hatte...Morgens sammle ich am Fluss Plastik ein. Dann gehe ich zu den Ampeln und bettle mit meiner Schwester Atim. Ich arbeite bis sechs Uhr. Manchmal werde ich vom Sicherheitspersonal oder von der Polizei verjagt. Dann verstecke ich mich, und wenn sie weg sind, komme ich zurück. Wie viel ich beim Müllsammeln verdiene, ist unterschiedlich. Es reicht, um Essen zu kaufen, aber es ist nicht genug, um Geld zu sparen.”

Warum gibt es aber diese Massen von Überflüssigen, die in die Städte und Slums der Peripherie (Dritte Welt) strömen? Ich sehe insbesondere zwei Gründe, das ist die Bevölkerungsexpansion in den Schwellenländern und die Zerstörung der Landwirtschaft in der Peripherie. Gegen die Massen der Armen in der Peripherie schotten sich die Metropolen ab, dazu später. Es ist vor allem die Angst vor den gefährlichen Klassen.

Zum Bevölkerungswachstum

Hierbei beleuchte ich auch die Situation in den “reichen” Ländern, um den Kontrast zu verdeutlichen. Es leben gegenwärtig 6,4 Milliarden Menschen auf der Erde, davon 17% in Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen.

Jedes Jahr nimmt die Weltbevölkerung gegenwärtig um etwa 76 Millionen Menschen zu.

Der Bevölkerungsanteil Europas wird aufgrund der Alterung abnehmen. Dagegen werden schätzungsweise über ein Fünftel der Weltbevölkerung im Jahre 2050 in Afrika leben. Die Geburtenziffer liegt in den ökonomisch entwickelten Ländern bei 1,56 Kindern pro Frau, in den am wenigsten entwickelten Ländern durchschnittlich bei fünf Kindern pro Frau.

In dem Buch “Und mehret euch?” wird eine Regel aufgestellt, im Weltmaßstab bedeuten höhere Einkommen weniger Nachkommen, niedrige Einkommen viele Nachkommen.

Aufgrund mangelnder Altersversorgung und Knappheit von Ressourcen bahnt sich eine Krise an. In zwanzig Jahren wird das Verhältnis der Bevölkerung der Länder der Dritten Welt und der hochentwickelten Länder 7:1 betragen. Claus D. Kernig schreibt: “Die Reichen im Norden werden: weniger, älter und noch reicher, und die Armen im Süden werden: mehr, jünger und noch ärmer.” (Kernig, S.12) Wobei er hierbei die soziale Spaltung innerhalb der Länder übersieht.

Etwa 1/3 der Weltbevölkerung überaltert, da es an Nachwuchs fehlt. In Deutschland gehen zwischen 2025 bis 2034 die Baby-Boomer ins Rentenalter. Damit wird es eine massive Vergreisung der Gesellschaft geben, die Rentenkassen werden dem Ansturm nicht gewachsen sein. Die EU wird zum gigantischen Altersheim. In der USA sieht es aufgrund der Zuwanderung besser aus.

Während Europa mit der Überalterung der Gesellschaft zu kämpfen hat, was zu einer gigantischen Altersarmut vieler Menschen führen wird, da die Rentenkassen dem nicht gewachsen sein werden, ist das katastrophale Problem der Schwellenländer eine gigantische Bevölkerungsexplosion. Es werden viele Kinder geboren und die Menschen werden älter.

In den Ländern mit mittlerem bis niedrigen Pro-Kopf-Einkommen wird das Verhältnis immer ungünstiger, da es immer mehr Alte gibt, andererseits aber auch viele Kinder, die versorgt werden müssen. Sinkende Sterberaten und hohe Geburtenraten führen zu einer Bevölkerungsexplosion. So wird die Bevölkerung Indonesiens bis zum Jahr 2050 auf 340 Millionen erhöhen. In China leben derzeit 1,4 Mrd. Menschen, in Indien etwas mehr als 1 Mrd., in Indonesien 250 Millionen, in Brasilien 250 Millionen etc. In diesen Ländern nähern sich einige Zentren dem Westen an, während das Hinterland noch wenig entwickelt ist. Mitten in der alten Peripherie entstehen neue Metropolen, während in den alten Metropolen neue Peripherien entstehen. Das alte idealtypische Bild von der ersten

In Afrika südlich der Sahara dagegen werden ganze Dörfer und Regionen durch Aids, Hunger, Kriege und weitere Krankheiten ausgerottet. Die Welt schaut zu, die Hilfe ist marginal. Eine arme Bevölkerung und wohlhabende Herrscher kennzeichnen Schwarzafrika.

In den unterentwickelten Ländern, vor allem in Afrika, gibt es einen auffallenden Kinderreichtum. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist geringer, denn Armut und Unterernährung bilden ein Gegengewicht zu medizinischen Fortschritten.

Mit einem Kinderreichtum und einer geringen durchschnittlichen Lebenserwartung weist die Bevölkerungsentwicklung in Afrika südlich der Sahara eine Eifelturmform aus. Die Unterernährung und Aids tragen dazu bei, dass die Lebenserwartung so gering ist. Das Bevölkerungswachstum ist enorm und die Jugendlichen drängen in die Städte. Die Hälfte der Stadtbewohner sind unter 19 Jahre alt. In Schwarzafrika sind 28 Millionen von Aids betroffen, 17 Millionen sind bereits gestorben. In Botswana sind 40 Prozent infiziert, in Südafrika 20 Prozent. Das Thema Aids in Südafrika wird später noch beleuchtet.

In vielen Ländern der Dritten Welt gibt es einen großen Anteil von erwerbsfähigen Menschen mit hohem Jugendanteil. Zum zentralen Problem wird dabei die Fürsorge für die vielen Nachkommen. Die Menschen suchen daher ihr Glück in den Städten. So entstehen in den Städten immer mehr Slums. In Lateinamerika leben 32 Prozent aller Stadtbewohner in Slums, auf dem indischen Subkontinent sind es 59 Prozent und in Afrika südlich der Sahara 72 Prozent. Weder die Besitztümer noch die Arbeitsleistungen der Slumbewohner werden zur Kenntnis genommen. So werden die Behausungen nicht als Unterpfand für kleine Kredite anerkannt. Auch ihre Arbeit in der Schattenwirtschaft wird rechtlich nicht gewürdigt, obwohl sie zum Funktionieren der Gesellschaft wesentlich beiträgt. Ein Beispiel für eine Bevölkerungsexpansion ist Mexiko. Bis 2050 wird es sich um die Hälfte seiner heutigen Bevölkerung vergrößern. Die größte Verstädterung findet in Lateinamerika statt, sie liegt dort bei 75 Prozent.

Die Metropolisierung ist auch in China gigantisch. In China gibt es zwar kaum Slums, aber die Lebensverhältnisse der hundert Millionen Wanderarbeiter sind erbärmlich. Durch die Ein-Kind-Politik (in der Stadt, auf dem Land gilt die Ein-Sohn-Politik) und Unterdrückung des Nachwuchses ist China eine überalternde Gesellschaft. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen (2003= 1100 US-Dollar) ist noch sehr gering. 20 Prozent der Weltbevölkerung verfügen damit über 4 Prozent des Weltbruttosozialprodukts. Die USA verfügen mit 5 Prozent der Weltbevölkerung über 29 Prozent. Indien wird im Jahre 2050 mit 1,6 Milliarden Einwohner der bevölkerungsreichste Staat der Erde sein, dabei kann die Wirtschaftsdynamik mit der Bevölkerungsdynamik noch nicht Schritt halten.

Die Öl fördernden Emirate im Nahen Osten gehören zu den reichsten Staaten der Welt. Auch im arabischen Raum gilt: “Niedrige Einkommen= viele Nachkommen”. Die Ausnahme der Regel sind allerdings Saudi-Arabien und die Emirate. Bei hohen Einkommen haben sie auch eine hohe Fortpflanzungsrate.

Nun zur Entwicklung auf dem Land.

Durch die Politik von IWF und Weltbank (wie Mechanisierung der Landwirtschaft, die Entwicklung zu Nahrungsmittelimporteuren, Konkurrenz durch Agrounternehmen), Dürren und Bürgerkriege kam es zur Landflucht. Die Städte fuhren die Ernte der Agrarkrise ein.

In etwa 30 Ländern kam es aufgrund der Ernährungskrise 2007 und 2008 zu Aufständen, so in Kamerun, Indien, Mexiko, Marokko und Usbekistan. Oftmals wurden als Gründe für die Krise die veränderte Ernährungsweise in China und Indien, die Spekulation, die Umwandlung von Ackerland in städtisches Eigentum, der Klimawandel und die Agrotreibstoffe genannt. Walden Bello spricht aber von langfristigen Ursachen, der Verkümmerung des Agrarsektors. Zentrale Ursache der Krise 2006-2008 seien vor allem die Strukturanpassungsmaßnahmen. Die bäuerliche Landwirtschaft und Lebensweise wurde von der kapitalistischen Produktionsweise verdrängt. Während die Entwicklungshilfe vor 1980 die Armen produktiv machen wollte, traten seit Anfang der 1980er Jahre Strukturanpassungsmaßnahmen an die Stelle, zunächst in Kenia, der Türkei, Bolivien und Philipinen. Seit Anfang der 1990er Jahre dann in mehr als 90 Ländern, in Entwicklungsländern und ehemaligen sozialistischen Ländern. Strukturanpassung bedeutete Ausgabenkürzungen und Handelsliberalisierung. Damit sollten die Länder ihre Auslandsschulden abbezahlen. In Indien führte das dazu, dass sich in den letzten Jahren ca. 150 000 Bauern selbst getötet haben. Für die Aktivistin Shiva sind die Gründe dafür, dass die Bauern ihre “soziale, kulturelle und ökonomische Identität als Produzenten” verloren hätten. Sie seien jetzt “Konsumenten von teurem Saatgut und teuren Chemikalien”. (Bello, S.49) Während im Norden die Landwirtschaft subventioniert wird, wird dem Süden der Freihandel aufgezwungen. Dabei wären lokale und regionale Märkte für die Landwirtschaft die Alternative.

Mexiko: Die Heimat des Mais wurde von Maisimporten abhängig. Mexiko war Anfang der 1980er Jahren einer der größten Schuldner und bat Weltbank und IWF um Hilfe. Als Gegenleistung sollten die hohen Zölle, staatliche Regulierungsmaßnahmen und unterstützende Regierungsinstitutionen abgeschafft werden. Es erfolgte also ein Abbau des Staates. Seit Anfang der 1980er Jahre wurden auch die öffentlichen Ausgaben für die Landwirtschaft beträchtlich gekürzt. Die Kürzung der staatlichen Investitionen und die Liberalisierung des Handels führte zur Deindustrialisierung, Reallohnsenkungen, Zunahme der Erwerbslosigkeit und rigorosem Sozialabbau. Durch die Liberalisierung der Kapitalkonten strömte eine große Masse ausländischen Kapitals nach Mexiko. Die mexikanische Währung wurde aufgewertet, wobei die mexikanischen Exporte an Wettbewerbsfähigkeit einbüßten. Bei der Mittel- und Oberschicht löste das Einströmen der Dollars einen Konsumrausch aus. Es kam zu einer Zunahme der Importe und schließlich zu einem Leistungsbilanzdefizits, Investoren zogen sich zurück. Es kam zu einem wirtschaftlichen Abschwung, was zur Massenmigration nach Norden und zum Drogenhandel führte. An dem Tag, als das NAFTA (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) in Kraft trat, am 1.1.1994, gab es einen Aufstand der Zapatistas.

Mit dem NAFTA kam es dann zum Handelsdefizit. “Heute ist Mexiko ein Nettoimporteur von Nahrungsmitteln, der 40 Prozent seiner Nahrungsmittel auf ausländischen Märkten bezieht; das ist weitgehend eine Folge des nunmehr vierzehnjährigen Freihandelsabkommens.” (Bello, S.62) US- amerikanischer Mais strömte nach Mexiko. Während die Subventionen für US-Mais erhöht wurden, wurden die Subventionen für mexikanischen Mais drastisch gekürzt. Die mexikanische Regierung bekam drei Milliarden Dollar, um US-Mais zu kaufen, um die Überproduktionskrise in den USA abzumildern. Der Vertrieb des US- und mexikanischen Mais wurde von wenigen transnationalen Handelsfirmen monopolisiert. Der Ziel der neoliberalen Politik war auch, “die kapitalistische Transformation der Landwirtschaft zu beschleunigen.” (Bello, S.63) Es wurden viele Gesetze erlassen, die die Privatisierung von Kommunaleigentum herbeiführen sollten. Damit wurde die Landreform rückgängig gemacht, die bis zu den 1990er Jahren Land umverteilt hatte. Durch die Subsistenzproduktion war damals den Bauern auch ein Überleben in schwierigen Zeiten möglich. Jetzt blieb den verdrängten Bauern nur noch die Flucht in die Slums oder in die USA. Die Geldüberweisungen aus den USA ermöglichten den daheimgebliebenen Bauern, weiterhin in Mais anzubauen, obwohl das nicht rentabel war.

Philippinen: In den späten 1970er und der ersten Hälfte der 1980er Jahren hatte das Land einen ansehnlichen Selbstversorgungsgrad erreicht. Heute importiert kein Land soviel Reis wie die Philippinen. Noch 1993 exportierte das Land mehr Nahrungsmittel, als es importierte. Auch hier begann seit Mitte der 1980er Jahre die Zeit der Strukturanpassung. Die Gelder wurden nicht für Investitionen verwendet, sondern um die Schulden zu bedienen. Insbesondere die Ausgaben in der Landwirtschaft wurden gekürzt. 1995 trat Philippinen der WTO bei. Die Landwirtschaft mit hohem Selbstversorgungsgrad wurde umgewandelt in eine, die durch Importabhängigkeit und Marginalisierung der Kleinbauern gekennzeichnet war. Während subventionierte ausländische Nahrungsmittel ins Land strömten, sanken die Einnahmen aufgrund der Zollsenkungen. Eine Agrarreform wurde durch die Grundbesitzer blockiert.

Afrika: Zwischen 1966 und 1970 exportierte Afrika jährlich im Durchschnitt 1,3 Millionen Tonnen Nahrungsmittel. Heute importiert Afrika 25 Prozent der Nahrungsmittel. Ursachen der Krise der afrikanischen Landwirtschaft sind Strukturanpassungsmaßnahmen, Bürgerkriege und Aids. Ende der 1970er Jahre brachte die Weltbank den Bergbericht heraus, die afrikanischen Länder sollten sich “anpassen”, um ihre Schulden zahlen zu können. Während es in der ersten Phase um die Kürzung der Ausgaben ging, hatte in der zweiten Phase die Privatisierung und Schließung öffentlicher Regierungsagenturen Vorrang. Die staatliche Intervention in die Landwirtschaft sollte beseitigt werden. “Der Rückzug des Staates bewirkte kein Anschwellen der Privatinvestitionen, sondern ein Abschwellen, führte also zu rückläufigen Privatinvestitionen im Agrarsektor...Die geringen Unterstützungsleistungen, die den Regierungen zu leisten gestattet wurde, galten entsprechend den Vorgaben der Weltbank der Exportlandwirtschaft, denn über diese sollten ja die Deviseneinnahmen erwirtschaftet werden, die der Staat benötigte, um seine Schulden bei der Weltbank und dem IWF zu bedienen.” (Bello, S.101) Die USA und die EU lieferten subventionierte Waren nach Afrika und drückten damit die Weltmarktpreise, das führte zum Ruin vieler afrikanischer Bauern. Inzwischen sind die Strukturanpassungsmaßnahmen in Afrika diskreditiert.

China: Das Land hat sich lange am Ziel der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln orientiert. Durch veränderte Ernährungsgewohnheiten (mehr Fleisch) wird China immer mehr abhängig von Importen, denn es braucht Tierfutter. China ist der WTO beigetreten, das wird die Abhängigkeit von Importen verstärken. Die Produktion in China stößt an ökologische Grenzen, so verschlechtert sich die Bodenqualität durch den gesteigerten Düngemitteleinsatz. Die Investitionen in den Agrarsektor sind rückläufig. Zudem wird immer mehr Land durch städtische Ballungsgebiete besetzt. Die Bauern flüchten in die Städte und sind dort billige Arbeitskräfte. Das Verhältnis zwischen den Bauern und Parteifunktionären verschlechtert sich, letztere haben sich am Raub von Land beteiligt.

Ein weiteres Problem sind Agrotreibstoffe. Von diesen wird oft behauptet, dass sie erneuerbar und nachhaltig seien. Dabei geht es den großen Konzernen um Profit. Land wird zur begehrten Ware, so wird der Regenwald in Brasilien abgeholzt. Brasilien ist der führende Exporteur von Ethanol. Die Mittelschichtskonsumenten fahren weiterhin so viel Auto, wie sie wollen. Die Alternative kann nur heißen- drastische Verringerung des Konsums, besonders im Norden.

Es gibt also immer mehr Menschen auf der Erde, gleichzeitig flüchten die verarmten Bauern in die Städte. Die Slumbevölkerung wächst weltweit jährlich um 25 Millionen.

Zur Verstädterung und Verslumung

Hier hat mich insbesondere das Buch “Planet der Slums” von Mike Davis (Assoziation A 2007) erschüttert. Ich würde jedem empfehlen, dieses Buch zu lesen, um zu erfahren, was in den Slums los ist, wenn man zum Beispiel selbst noch keinen Slum gesehen hat.

Im Jahre 2005 lebte etwa die Hälfte der Weltbevölkerung bereits in Städten. In Afrika hatte sich die Zahl der Stadtbevölkerung von 1950 bis 2005 verzehnfacht, in Asien versiebenfacht. 2000 lagen 194 der weltweit 387 Millionenstädte in Asien.

Die Armut konzentriert sich immer mehr in den Städten, vor allem der Dritten Welt. Die Urbanisierung der Dritten Welt erreicht Höchstgeschwindigkeit. Besonders diskutiert werden die Megastädte mit mehr als 8 Millionen Einwohnern und die Hyperstädte mit mehr als 20 Millionen Einwohnern. In Asien werden bis 2025 zehn oder elf Ballungsgebiete entstehen, in Bombay rechnet man mit 33 Millionen Einwohnern, wobei man nicht weiß, ob diese Armutskonzentration dann überhaupt überlebensfähig sei. 35 indische Städte haben inzwischen die Millionengrenze überschritten. Es wird gewarnt, dass man bald keine Städte, sondern nur noch Slums hätte. Im Buch “Planet der Slums” von Mike Davis wird diese Schreckensvision aufgestellt. Nach eingeschränkten Schätzungen gab es 2001 921 Millionen Slumbewohner, 2005 mehr als eine Milliarde. Bombay ist die globale Hauptstadt der Slums, gefolgt von Mexiko- Stadt und Dhaka. “Es gibt wahrscheinlich mehr als 200 000 Slums auf der Erde, deren jeweilige Bevölkerungszahl von ein paar hundert bis zu mehr als einer Million reicht.” (Davis, S.30) Die größten Megaslums sind Nezal/ Chalco/ Izta in Mexiko-Stadt (4 Mio), Libertador in Caracas (2,2 Mio) und El Sur/Ciudad Bolivar in Bogota (2 Mio).

In den Städten und Slums gibt es unterschiedliche Wohnformen.

“Das Schlimmste ist in jedem Fall eine schlechte, teure Unterkunft ohne öffentliche Versorgung und gesicherten Rechtstitel.” (Davis, S. 33)

In den Stadtkernen gibt es formelle Wohn- und Mietshäuser (übernommene Wohnungen bzw. Häuser und Unterkünfte für Bedürftige), sozialen Wohnungsbau und Wohnheime, Herbergen, billige Absteigen. Informell gibt es im Stadtkern Besetzersiedlungen mit oder ohne Genehmigung sowie Bürgersteigbewohner und Obdachlose. In der Perpherie gibt es formell private Mietwohnungen und-häuser sowie Sozialwohnungen. Informell existieren unerlaubte Grundstücksparzellierungen (besetzt durch den Besitzer oder untervermietet) sowie Grundstücksbesetzungen mit oder ohne Genehmigung. Zudem gibt es Flüchtlingslager.

Erschreckend ist das Leben der “Käfigmenschen”. Wir hatten ein Bild von “Käfigmenschen” in Hongkong. “Käfigmenschen” wohnen besonders schlecht. Die Mieter errichten Käfige über ihren Betten, damit sie nicht beklaut werden. Viele schlafen auch auf Dächern, in Kairo sind es 1,5 Millionen. Los Angeles hat 100 000 Obdachlose. In Mumbai lebten 1995 eine Million Menschen auf der Straße. 97% von der Pflasterbewohner in Mumbai hatten mindestens einen Job. Oft sind es mittellose Bauern, die in die Stadt gekommen sind.

Die meisten Pflasterbewohner hat Bombay, das sind meistens “einfache Arbeiter..., die durch ihre Arbeit gezwungen sind, im sonst unbezahlbaren Herz der Metropole zu leben.” (Davis, S. 40) Oftmals müssen Bürgersteigbewohner Geld an die Polizei oder Verbrechersyndikate bezahlen. Für die Bürgersteigbewohner ist die Nähe zum Arbeitsplatz am Wichtigsten.

Slums entstehen oft durch Besetzungen, heute meistens auf minderwertigem städtischen Grund, z.B. an stinkenden Uferböschungen von stark verschmutzten Flüssen.

Es gibt illegale Besetzungen und piratische Urbanisierung, letztere ist die Privatisierung des Besetzens. Wilde Ansiedlungen und das Aufteilen einfachsten Wohnraums entstehen aus kommerziellen Zwecken. Die Bewohner haben einen legalen oder faktischen Besitztitel für das Grundstück. Die Verkäufer sind oft Spekulanten und Großbauern. Landbesitzer wollen durch Besetzungen auch oft Entschädigungen vom Staat für ihr Land rausholen.

Die Ärmsten der Armen mieten sich bei den Besetzern ein. In Slums gibt es viele Untervermietungen, Mieter sind oft die machtlosesten Slumbewohner. Immobilienmärkte haben inzwischen die Slums zurückerobert, aus der Armut wird Profit gemacht. “Die Strukturanpassungsprogramme lenkten die inländischen Spareinlagen von der Produktion und den Sozialprogrammen in die Grundstücksspekulation...Überfüllte und kaum instand gehaltene Slumunterkünfte sind auf den Quadratmeter bezogen häufig rentabler als andere Imobilieninvestitionen....Ein Slumlord, der für 160 Dollar eine Hütte mit knapp 10 Quadratmetern kauft, hat die gesamte Investition binnen Monaten wieder hereingeholt.” (Davis, S. 91f.)

“Als die Regierungen der Länder der Dritten Welt in den 1970er Jahren den Kampf gegen die Slums aufgaben, übernahmen die Institutionen von Bretton Woods- der IWF als ‘böser Bulle’ und die Weltbank als ‘guter Bulle’- immer mehr das Kommando über die Gestaltung der Rahmenbedingungen städtischer Wohnungspolitik....Statt die Slums durch angemessenen Wohnraum zu ersetzen, wurde deren Sanierung zum Hauptziel öffentlicher und privater Intervention.” (Davis, S. 77) Seit Ende der 1980er Jahren setzten sie auf die vollständige Privatisierung des Wohnungsbaus. Als Lösung der städtischen Armutsprobleme wurde das Kleinstunternehmertum propagiert. “Die Lobpreisungen der Selbsttätigkeit der Armen wurden zum Deckmantel für die Aufkündigung der historischen Verpflichtung des Staates, Armut und Obdachlosigkeit zu beseitigen.” (Davis, S.79) Man stellte die Selbsthilfepotentiale der Armen heraus und nutzte das für den Rückzug des Staates. Das stärkte eher die großen NGO`s, die allerdings von internationalen Geldgebern und NGO`s abhängig waren. Den Raum, den sonst Linke besetzt hatten, übernahmen NGO`s. Damit wurden die sozialen Bewegungen befriedet.

Mike Davis schreibt: “In erster Linie sind die Stadtrandgebiete der Dritten Welt aber ein Müllabladeplatz für Menschen. In manchen Fällen landen der städtische Müll und unerwünschte Zuwanderer sogar am selben Ort...” (Davis, S.50)

Zudem sind die Slumbewohner von Naturkatastrophen bedroht. “Da sich heute weltweit die Mehrheit der städtischen Bevölkerung auf aktiven Rändern tektonischer Platten oder in deren Nähe konzentriert, besonders in den Küstengebieten des Indischen und Pazifischen Ozeans, sind mehrere Millionen Menschen von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Tsunamis und Sturmfluten oder Taifunen bedroht."”(Davis, S. 134) Mike Davis stellt folgende Formel auf: Umweltrisiko = Gefährdung (das ist die Häufigkeit und Großenordnung des Naturereignisses) x Aktivposten (das ist die Anzahl der gefährdeten Bevölkerung und Unterkünfte) x Anfälligkeit (das ist die physische Beschaffenheit der Bebauung). “Die Informelle Urbanisierung hat überall die naturgegebene Gefährdung der städtischen Umwelt- manchmal um das Zehnfache oder mehr- vervielfacht.” (Davis, S.132) Die Slums werden weder durch öffentliche Maßnahmen gesichert, noch gibt es Versicherungen. Slums sind zudem feuergefährliche Milieus. Slums sind oft lebensgefährlich, sie befinden sich neben Chemieanlagen, Pipelines und Raffinerien, die Straßen sind verstopft. “Mehr als eine Million Menschen- zwei Drittel von ihnen Fußgänger, Radfahrer und Fahrgäste- sterben jedes Jahr bei Verkehrsunfällen in der Dritten Welt. ‘Menschen, die niemals in ihrem Leben ein Auto besitzen werden’ berichtet ein Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation, ‘sind am meisten

gefährdet.’” (Davis, S. 140) So nennt man in Lagos Busse “fliegende Särge” und “rollende Leichenschauhäuser”. Die Luftverschmutzung ist alptraumhaft, ein Wissenschaftszentrum in Dehli warnt vor “tödlichen Gaskammern”. Und die Slums dringen auch in Naturschutzgebiete, durch die Urbanisierung wurden viele landwirtschaftliche Anbauflächen zerstört. Das Abwasser vergiftet zudem die Trinkwasserquellen.

Ein weiteres Problem ist die Bevölkerungsverdichtung, so müssen sich in den bustees von Kalkutta durchschnittlich 13,4 Menschen in jedes bewohnte Zimmer drängen. “Die Ungleichheit in den Städten der Dritten Welt ist sogar aus dem Weltraum zu sehen: Satellitenbilder von Nairobi zeigen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf nur 18 Prozent des Stadtgebietes lebt. Das weist natürlich auf kolossale Unterschiede der Bevölkerungsdichte hin.” (Davis, S. 103)

An dieser Stelle zitierte ich zum Komplex Wohnen Menschen aus dem Buch “So leben wir”:

Eine Frau in Mumbai berichtet: “15 Menschen leben in diesem Raum. Viel zu viele!...Das Haus ist nicht groß genug für uns alle. Wir schlafen einer über dem anderen, einer im Bett, der andere darunter. Die Älteren, wie meine Eltern, schlafen in einer Zimmerecke. Wenn der Regen kommt, sitzen wir alle auf dem einen Bett. Das ganze Haus steht dann unter Wasser. Wir können niemanden um Hilfe bitten, wir sitzen dann einfach die ganze Nacht da. Erst wenn das Wasser zurückgegangen ist, können wir arbeiten gehen. Dann regnet es wieder. Das Abwasser dringt ins Haus, sogar Fäkalien, dann stinkt das Haus.”

Eine Frau in Jakarta, die mit ihrer Familie unter einer Brücke wohnt: “Manchmal werden wir im Schlaf durchgeschüttelt, wenn ein Laster oben über die Brücke fährt. Das ist schon beängstigend, und man fragt sich, ob die Brücke das auch aushält. Wir haben auch Angst vor der Flut. Wenn der Wasserpegel steigt, laufen wir auf die Brücke. Und wenn die Flut tatsächlich kommt, suchen wir schnell unsere Habseligkeiten zusammen und bringen sie weiter hoch, auf die Brücke. Dann suchen wir Unterschlupf im BRI Bankgebäude.”

Die Armen in den Slums sind nicht nur eingezwängt, sie werden auch oft gewaltsam geräumt. Die städtischen Armen sind daher Nomaden. “Die urbane Segregation ist kein starrer Zustand, sondern ein endloser sozialer Krieg...” (Davis, S.105) Slums werden gesäubert, wenn in den Städten Großereignisse anstehen oder wegen der Verbrechensbekämpfung, die dann als Begründung herhalten muß.

Aber das Schlimmste an allem ist das Leben im Unrat. Mike Davis beschreibt, wie die Slumbewohner buchstäblich in der Scheiße leben. “Die heutigen armen Megastädte- Nairobi, Lagos, Bombay, Dhaka usw.- sind stinkende Kotberge...Die intime Nähe zum Müll anderer Menschen ist in der Tat das Spiegelbild einer tiefgreifenden sozialen Spaltung.” (Davis, S.145) Kinshasa mit 10 Millionen Einwohnern hat überhaupt kein Abwasserkanalisationssystem, in einem Slum in Nairobi gab es 1998 zehn Latrinengruben für 40 000 Menschen, in Mathare 4A gab es zwei Toiletten für 28 000 Einwohner. Die Bewohner bedienten sich daher “fliegender Toilletten”, sie verrichteten ihre Notdurft in Plastiktüten und warfen sie weg. In Indien müssen ca. 700 Millionen Menschen ihren Darm im Freien entleeren. 9 von 22 untersuchten indischen Slums hatten keine Latrine, in zehn weiteren gab es 19 Latrinen für 102 000 Menschen. Gerade für Frauen ist das ein Problem, denn sie sollen sich an strenge Sitten halten, dabei haben sie keine Möglichkeit zur Körperhygiene. Oftmals müssen sie warten, bis es dunkel wird, und dann können sie nur in Gruppen gehen.

Bis 2030 oder 2040 soll es zwei Milliarden Slumbewohner geben.

Allerdings sind nicht nur die Slumbewohner das Problem, bis 2020 sollen weltweit 45 bis 50% der städtischen Bevölkerung arm sein. “Insbesondere Dritte-Welt-Städte gerieten in den Teufelskreis aus steigender Zuwanderung, sinkender Beschäftigung im formellen Sektor, fallenden Löhnen und zurückgehenden Einnahmen.” (Davis, S.163) Die urbane Armut schreitet voran. Und auch die Einkommensunterschiede in den Städten. So zum Beispiel in Moskau, dort gibt es wahrscheinlich mehr Millionäre als in New York, aber auch eine Million Squatter. Millionen arme russische Stadtbewohner leiden unter unerträglichen Zuständen. In Sofia gibt es mittlerweile den schlimmsten Slum in Europa, dort wohnen 35 000 Roma.

Mike Davis Fazit: “Die Zukunft der menschlichen Solidarität wird tatsächlich von der entschlossenen Weigerung der neuen städtischen Armen abhängen, ihre endgültige Marginalisierung innerhalb des globalen Kapitalismus zu akzeptieren...Während das Imperium über ein Orwell`sches Arsenal an Repressionstechnologien verfügt, haben die Geächteten die Götter des Chaos auf ihrer Seite” (Davis, S.210ff.)

Um die Situation in der Peripherie zu begreifen, sind auch folgende Themen wichtig.

Aids

Seit 1981 hat Aids weltweit mehr als 25 Millionen Opfer gefordert. 2005 kam es zu 550 Neuinfektionen pro Stunde. 13 Millionen Kinder waren durch Aids zu Waisen geworden.

Im Jahre 2005 war das südliche Afrika mit 25,8 Millionen HIV-infizierten Menschen die am stärksten betroffene Region. In Afrika ist Aids das größte Problem. Statt Hilfe zu bekommen, müssen die Länder der Dritten Welt ihre Schulden an die Wohlstandsstaaten abbezahlen.

An dieser Stelle zitierte ich zum Thema Aids Menschen aus den Büchern “So leben wir” und

“28 Stories über Aids in Afrika”:

Eine Frau in Nairobi im Buch “So leben wir”: “Als meine Mutter 1988 starb, wurde das Leben hart. Ich suchte nach Alternativen, um meine zwei Brüder versorgen zu können. Damals bekam ich aber auch mein erstes Baby- ich hatte nichts zu tun, keinen Job. So geriet ich zwangsweise dazu, mich zu prostituieren. Indem ich mich verkaufte, einfach mit meinem Mann mitging, wenn er dafür bezahlte, konnte ich für unser tägliches Brot sorgen. Eines Tages begegnete ich einer Gruppe von Frauen. Sie redeten auf mich ein, sagten mir, dass das Leben, das ich führte, nicht gut sei. Sie boten mir ein Mikrofinanz-Darlehen an. Ich eröffnete einen kleinen Betrieb, verkaufte Holzkohle und Gemüse. So fing ich an, mein Leben zu ändern.”

Ein Bericht über die HIV-infizierte Siphiwe Hlophe aus dem Aids-Buch: “Einige Jahre später, an einem Tag im November 2005, fuhren wir außerhalb von Manzani auf einer Straße durch ein Tal. Plötzlich zeigte Siphiwe mit dem Arm durch das Fenster zu einigen Hügeln, über die runde, strohgedeckte Hütten verstreut waren. Dazwischen leuchtete hin und wieder purpurrot eine Bougainvilla. ‘Ich fuhr auf dieser Straße entlang’, sagte sie und zeigte durch das Tal. ‘Und sie sahen mein Auto- das Aids-Auto nennen sie es- und schickten eine Frau los. Die Frau rannte winkend durch das Tal auf mich zu. Ich fuhr ihr entgegen und sie brach in Tränen aus. Ich hielt an und fragte: ’Was ist los? Liegt jemand im Sterben? Ist jemand krank?’ Und sie sagt, man habe sie geschickt, weil man mit mir sprechen müsse- ‘Sie müssen mitkommen.’ Siphiwe fuhr also den steinigen Weg entlang, so weit sie kam, und ging den Rest zu Fuß. Von den 300 Bewohnern des Dorfes waren 150 Waisen. Einige kamen nach draußen, um sie zu sehen. Anschließend gibg Siphiwe von Tür zu Tür. Sie wollte wissen, wer nicht zu ihrer Begrüßung aufstehen konnte. Wie viele Menschen lagen sterbend auf den Grasmatten in ihren Hütten?” Siphiwe: “Wir bringen den Kindern jeden Monat Essen und Kleider, weil wir Angst haben, Männer könnten sie mißbrauchen. Die Waisen sagen sich: ’Wir können im Austausch für Sex Essen bekommen’...Was wir an diesem Tag erlebten, wiederholte sich im ganzen Land. Im Mai 2004 stellte Swasiland mit seiner Bevölkerung von 1,1 Millionen Menschen einen traurigen Rekord auf: Das Land hatte die weltweit höchste HIV-Infektionsrate- 38,6 Prozent der Erwachsenen (Anm. Ein Jahr später waren es 42,6%), ermittelt aufgrund von Zahlen der Schwangerenkliniken, den besten verfügbaren Zahlen...Siphiwe weiß, warum die Infektionsrate weiter steigt. ‘In unserer Kultur gilt ein Mann um so mehr, je mehr Frauen und Freundinnen er hat, und das gilt sogar noch in den Zeiten von Aids. Mehr Partnerinnen bedeuten mehr Anerkennung- die Männer sehen nicht, dass sie uns damit umbringen und sich selbst und unsere Kinder auch.” (Nolen, S. 38ff.)

Trinkwasser, Sanitäreinrichtungen und Gesundheit

2002 hatten 17 Prozent der Weltbevölkerung, also deutlich über eine Milliarde Menschen, keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. In Afrika und Asien haben nur ein Drittel der Menschen eine Wasserversorgung. Im Jahre 2002 hatten auch über 2,6 Milliarden Menschen, ca. 42 Prozent der Weltbevölkerung, keinen Zugang zu Sanitäreinrichtungen bzw. geregelter Abwasserversorgung. Dabei ist die Unterversorgung in Südasien und im subsaharischen Afrika am größten.

Fehlende Trinkwasserversorgung, Abwasser und Müllversorgung, mangelnde Hygiene und Trinkwasserverschmutzung führen oft zu Krankheiten, die vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern zum Tode führen. Auch Cholera, Ruhr, Malaria, Typhus, Hepatitis u.a. wüten oft in Slums. Wasser ist inzwischen zum lukrativen Geschäft in der Dritten Welt geworden, denn sauberes Wasser wäre die billigste Medizin. Arme zahlen mehr für Wasser. Aufgrund der hohen Wohndichte und gemeinsam genutzter, oft verschmutzter Nutzwasserreservoirs ist die Gefahr von Epidemien verbreitet.

Die miserablen Wohnverhältnisse mit hoher Wohndichte und mangelnder infrastruktureller Versorgung, aber auch die unsicheren Beschäftigungsverhältnisse führen zu organischen Krankheiten, die psychische Ursachen haben. Der größte Teil des Einkommens fließt in die Ernährung, die trotzdem nicht ausgewogen ist und z.B. Vitamine vernachlässigt. Auch die Nähe der Marginalsiedlungen zu den industriellen Hauptverursachern von Lärmbelästigung, Luft- und Wasserverschmutzung führen zu Krankheiten. Außerdem sind die Siedlungen häufig von Erdrutschen und Überschwemmungen bedroht.

Mit dem Thema Bildung habe ich mich nicht weiter beschäftigt.

Der Anteil an Analphabeten ist in den Marginalsiedlungen sehr hoch. Durch Bildung versuchen vor allem in Indien Menschen dem Elend zu entfliehen

Ein Mann aus Mumbai berichtet: “Ich dachte, ich finde hier in Mumbai einen Job, ich habe ja eine Hochschulausbildung und wollte gern im Staatsdienst bei der Eisenbahn arbeiten. Aber solch eine Stellen zu finden ist schwer. Jetzt bin ich in der Bekleidungsindustrie beschäftigt. Wenn ich das geahnt hätte, dann hätte ich nicht so viel studiert, sondern ein Handwerk erlernt. Wenn jamand mit einer akademischen Ausbildung wie ich solch eine Arbeit machen muss, ist das deprimierend.”

Oftmals hilft auch Bildung in der Peripherie nicht, aus dem Slum herauszukommen. So berichtet im Buch “So leben wir” ein junger Mann aus Nairobi: “Nach meiner Ausbildung hier in Nairobi habe ich für British Airways gearbeitet, mir ging es sehr gut. Doch ich verlor meinen Job und muss immer noch im Ghetto wohnen und irgendwie weitermachen mit meinem Leben. Es fällt mir schwer. Ich habe eine Tochter und meine Frau, ich muss viel arbeiten und mit Problemen fertig werden..”

Ein weiteres Thema ist die Gewalt in den Slums.

Eine Frau aus Caracas berichtet im Buch “So leben wir”: “Wenn die Gangster mit ihren Waffen hier auftauchen, sage ich Ihnen, sie sollen woanders hingehen, da oben kämpfen, eine Schießerei austragen wie Cowboys. Haben Sie das Haus eben gesehen? Das Haus hat 36 Einschlusslöcher. Das alles macht mir keine Angst. Wir haben uns daran gewöhnt...Sie tragen die Probleme unter sich aus.” Eine andere Frau aus Caracas berichtet: “Für die Kinder ist es hier nicht sehr angenehm...Sie sagen, sie fühlen sich von uns unterdrückt. Das stimmt aber nicht. Wir beschützen sie eben so sehr, damit sie vom rechten Weg abkommen. Hier sieht man Zehnjährige, die bewaffnet sind...Wir wollen nicht, dass sie auf die Straße hinausgehen, weil heutzutage überall das Verbrechen lauert. In diesem Slum wird fast jederzeit irgendjemand umgebracht.”

Eine Frau aus Nairobi berichtet über Selbstjustiz im gleichen Buch: “Letzte Woche wurden zwei Freundinnen von mir beim Klauen berichtet. Ich wusste nicht, dass sie so etwas machen. Ein Nachbar von uns beobachtete, wie sie in ein Haus eindrangen und einen Fernseher stahlen...Sie warfen Steine nach den Mädchen und verprügelten sie...Nur ein Mädchen hat das überlebt. Die Polizei kommt nicht hierher. Es ist für sie zu gefährlich- man könnte sie töten oder ihnen ihre Waffen abnehmen. Wenn man hier beim Klauen erwischt wird, bringen sie einen um. Das überlebt man nicht.”

Dieses ganze Elend der Armen der Welt vor Augen, ist nur allzu verständlich, dass sie diesem Elend entfliehen wollen. Oftmals bleiben die Menschen aber trotz katastrophaler Lebensbedingungen in ihren Heimatländern. Es muß ein großer Druck vorhanden sein. Die Migranten und Flüchtlinge gehören meistens nicht zu den Ärmsten und Ungebildeten. Sie sind häufig aktive Menschen, die auch finanzielle Mittel aufbringen können. Oftmals legen auch ganze Dörfer Geld zusammen, um einem Mitglied ihrer Gemeinschaft die Migration zu ermöglichen. Häufig fließt das verdiente Geld wieder in die Heimatländer zurück.

Migration

Im Jahre 2005 lebten etwa 190 Millionen Menschen in Staaten, in denen sie nicht geboren sind. (Schätzungen der Weltbank) Das waren drei Prozent der Weltbevölkerung.

Es gibt verschiedene Formen der Migration. Der Familiennachzug macht den größten Anteil der Wanderungsbewegung aus. Die Arbeitsmigration ist die zweitwichtigste Wanderungsform. Die dritte Gruppe ist die Fluchtmigration. (10 Prozent des weltweiten Wanderungsgeschehens). Ende 2007 gab es schätzungsweise 51 Millionen Flüchtlinge, die vor Gewalt oder Naturkatastrophen geflohen waren. Die vierte Gruppe sind irreguläre Zuwanderer. (schätzungsweise 10-15 Prozent)

Und was machen die reichen Metropolen? Sie schotten sich ab. Als ehemalige DDR-Bürgerin werde ich dem Staat DDR die Mauertoten niemals verzeihen, wer aber zählt die Toten, die zum Beispiel an der EU-Festung angeschwemmt werden. Wo bleibt da der Aufschrei jener Herrschenden, die sich über die Mauertoten in der DDR beklagen. Ihre Politik produziert nämlich auch Tote, darüber aber wird geschwiegen.

Europa und die USA sichern ihre Grenzen vor dem Ansturm.

Europa hat mit dem Schengener Abkommen 1995 die Grenzsicherung an die Außenränder Europas verlegt. Die Drittstaatenregelung bewirkt, dass Flüchtlinge aus Afrika, die es zum Beispiel nach Deutschland geschafft haben, wieder nach Spanien abgeschoben werden, wenn sie dort zuvor den Boden betreten hatten. Frontex wurde eingerichtet, um die Grenzen noch wirksamer zu schützen, die Agentur kooperiert mit den Geheimdiensten der EU. Frontex befragt zum Beispiel Flüchtlinge nach den Fluchtrouten. Europa schottet sich ab, um den Flüchtlingsstrom abzuwehren. Oft wird versucht, bereits in Afrika den Aufbruch zu verhindern. Auf die Herkunfts- aber auch Transitländer wird Druck ausgeübt. In der EU und den Transitländern außerhalb der EU werden Auffang- und Abschiebelager eingerichtet. Illegale, die kein Asyl erhalten, werden abgeschoben.

In den USA ist die Wüste von Arizona der Brennpunkt illegaler Einwanderung aus Mexiko. In Mexiko gibt es bereits 41 Abschiebegefängnisse, die von den USA finanziert werden.

Der Druck auf die Grenzen der “Wohlstandsinseln” (Auch hier nimmt die Armut zu.) Europa und Nordamerika wird größer werden, denn der Klimawandel führt zu Hunger, Kriegen, Verwüstungen und Wasserproblemen. Die Überlebenschancen in den armen Ländern werden immer kleiner.

Hier empfehle ich meinen Vortrag zur multiplen, globalen Krise (siehe unten), der sich mit weiteren Problemen wie dem Klimawandel und der Rohstoffkrise beschäftigt. So ist das Öl endlich, inzwischen kommt es auch durch Ölbohrungen zu ökologischen Krisen. Wir steuern auf eine Katastrophe zu, wenn sich das Konsumverhalten in den Metropolen nicht ändert...

Soweit mein Vortrag. Den weiteren Teil des Seminars bestritt Wolfgang Ratzel, ich habe das Ganze protokolliert. Er verwendete viele Bilder und Skizzen, um das Thema anschaulich zu machen, das kann ich hier leider nicht wiedergeben.

Global denken, lokal handeln und Widerstand leisten

Zunächst erläuterte Wolfgang Ratzel, warum es vernünftig ist, global zu denken. Die Situation als Hartz IV-Bezieher ist zum Beispiel gesteuert durch Konkurrenzkämpfe im Weltsystem. Unser Leben ist vom Weltsystem des Kapitalismus bestimmt. Es ist vernünftig, global zu denken, wenn ich lokal politisch handeln will. Ich leiste einerseits Widerstand, weil ich mein Überleben verteidigen will. Ich will überleben und verteidige meine Lebenssituation. Andererseits muss der Widerstand auch dafür sorgen, dass neue Strukturen entstehen, um schließlich in nichtkapitalistischen Verhältnissen anders zu leben. Ich muß das Weltsystem des Kapitalismus begreifen, um erfolgreich lokal Widerstand leisten zu können. Es ist vernünftig, die globale Randständigkeit zu begreifen. Das bringt mich zur Einsicht, dass das Weltsystem beseitigt werden muß. Diese Erkenntnis kann ich lokal vor Ort umsetzen, es muß eine Gegenmacht entstehen. Ich muß begreifen, wie die Randgebiete der Welt entstehen und funktionieren, um die eigene Situation zu begreifen, um auch die Zukunft zu begreifen.

Dabei gibt es zwei falsche Sichtweisen, wenn man von draußen raufguckt, die hat Wacquant erläutert.

  1. Das Elend kann mich so beeindrucken, dass ich nur noch Mitleid empfinde. Wo ist die nächste Spendendose.

  2. Das Elend wird populistisch gewendet. Menschen, die tagtäglich um ihr Leben kämpfen, seien heroisch. Die Verhältnisse werden verklärt, dabei ist es reine Selbsterhaltung. Es ist die Lesart der ideologischen Verblendung. Man guckt auf die Dritte Welt und sieht kämpfende Menschen. Dann wird das eigene revolutionäre Weltbild auf die Menschen dort übertragen. Zum Beispiel wurden bei den Hungerrevolten die eigenen Sehnsüchte projiziert. Es muß immer ein Schock folgen, in dem das Bild zerstört wird.

Die richtige Lesart ist ein sachlich analysierender Blick, wie die Leute in den Ghettos überleben müssen. Einen sachlich analytischen Blick, wie ihn die Slumbewohner selbst praktizieren.

Warum greift aber die lokale Borniertheit heutzutage um sich?

Wenn Randständige sich abwenden von der globalen Sicht, dann ist das ein reiner Selbstschutzmechanismus. Man will sich nicht bewußt machen, was auf einen zukommt. Es ist psychisch gefährlich, in die Verhältnisse zu gucken, man kann seine eigene Zukunft erkennen. Das darf nicht zur Handlungsunfähigkeit führen.

Zweitens: Im Leiden der fernen Randständigen erkennt man die eigene Privilegierung, man lebt hier auch auf Kosten dieser Menschen. Es gibt globale Handelsströme, jeder Ärmste und Reichste lebt von ungerechten Tauschverhältnisse.

Es gibt einen abstrakten und einen romantisierenden Internationalismus. Man stülpt die eigene Ideologie über deren Existenzbedingungen. Man projiziert die eigene Welt in die andere. Oder z.B. 68 wurden die revolutionären Bewegungen der Dritten Welt romantisierend aufgebaut, sie erschienen in einem gottgleichen Licht.

Das bedeutet nicht, zu sagen: Dein Kampf ist schlecht, weil du die globale Sicht nicht brauchst. Das bedeutet nicht, zu sagen: Du lebst privilegiert, sei zufrieden.

Kleine Anmerkung: Ich gebrauche mal einen Vergleich. Wenn ich die DDR kritisiere, wird mir von Westlinken oft gesagt, aber im Westen ist es so und so. Das weiß ich, wird aber dadurch die DDR besser. Nein. Wenn ich die globale Situation gegenüber Randständigen hier erwähne und auch unsere relative Privilegiertensituation hier anspreche, dann heißt es, aber das kann man nicht vergleichen. Natürlich kann man das vergleichen, aber dadurch bin ich mit der hiesigen Situation doch nicht zufrieden. Die Flucht der Armen von der Peripherie in die Metropolen verändert doch auch unsere Lebenssituation. Es geht um die Solidarisierung mit den Menschen und nicht um die Abwehr, nach der Devise der NDP: Ausländer raus. Wir müssen die globale Armut begreifen und nicht Abwehrstrategien entwickeln.

Nun sprach Wolfgang Ratzel eine Veränderung an. Früher gab es ein Bild von drei Welten. Die 1.Welt- das waren die kapitalistischen Länder. Die 2.Welt- das waren die realsozialistischen Länder. Die 3.Welt- das waren die Entwicklungsländer. Nachdem sich das sozialistische Lager aufgelöst hatte, wurde zwischen dem Norden und Süden unterschieden.

Heute wird von Peripherien und Metropolen gesprochen. Die Unterteilung der Welt bricht zusammen, die Welt zerfällt in Metropolen und Peripherien.

Im alten Zentrum (Metropole) tut sich eine Peripherie auf. Am Rande der Metropolen gibt es eine Armutsbevölkerung von 15-20%. So bekommen in den USA 40 Millionen Menschen Lebensmittelkarten.

Und auch das Zentrum vervielfältigt sich. Es entstehen Zentren (Metropolen) in China, Indien, in Brasilien, arabischen Ländern usw. Es entstehen mitten in der Peripherie viele kleine Zentren. Es gibt nicht mehr klar abgetrennte Zonen. Es gibt viele Zentren, die um sich herum eine Peripherie haben. Ostdeutschland ist zum Beispiel eine Peripherie (hohe Arbeitslosigkeit) mit Zentren (Produktionskerne).

Früher gab es eine Einheit zwischen Chefetage und Werkbank (vereint in einem Betrieb). Außerdem gab es die Landwirtschaft. Im Globalisierungsschub löst sich diese Einheit auf.

Es gibt ein Steuerzentrum in den Metropolen. Dagegen wird die Werkbank dahin ausgelagert, wo am günstigsten produziert wird. Und auch der Acker wird bereits ausgelagert. So wird zum Beispiel Boden im gigantischen Ausmaß aufgekauft. (China kauft z.B. Ackerfläche in Afrika auf) Im Zentrum bleiben die Steuerungsabteilungen, die nur einen Bedarf an Hochqualifizierten haben. Die Werkbänke werden aus den Zentren ausgelagert, damit werden die Geringqualifizierten überflüssig. Es entsteht in den Metropolen eine Armutsbevölkerung und damit eine Peripherie.

In der Diskussion wurde kritisiert, dass das ein patriarchales Modell sein. Die kapitalistische Ökonomie versteht man nicht, wenn man nicht die unsichtbare Ökonomie beachtet. Auch die Finanzmarktaktivitäten blieben unbeachtet. Mit der Spekulation lasse sich Angst erzeugen. Das Börsenwesen ist Anzeiger der Hoffnung auf Profitrealisierung. Daraufhin kam es zu einem Streit der Debatte “raffendes und schaffendes Kapital”. Die Krise sei nicht das Problem, sondern die Lösung. Das Aufblasen sei der Skandal, nicht das Platzen der Blase.

Am 2. Tag wurde zunächst der Konflikt weitergeführt. Zum Schluß wurde sich auf die “Erkenntnis” geeinigt: Wenn die Finanzblase zum Sündenbock gemacht wird, kann die kapitalistische Produktionsweise so weitergehen. Dagegen müssen wir uns wehren.

Nun wollte Wolfgang Ratzel zunächst den Unterschied zwischen absoluter und relativer Armut klären.

In Deutschland liegt die relative Armutsgrenze bei 913 Euro im Monat. Das heißt, wer weniger als 913 Euro netto pro Person hat, der gilt als relativ arm. Das durchschnittliche Einkommen pro Person beträgt 1520 Euro Netto. Wer weniger als 60% des Durchschnittseinkommens hat, gilt als relativ arm. In reichen Gesellschaften, wie der Schweiz, ist die relative Armutsgrenze höher.

Absolut arm ist dagegen, wer einen oder zwei Dollar am Tag pro Person zur Verfügung hat, dabei ist entscheidend, wie hoch die Kaufkraft des Dollars ist. Für die Weltbank ist absolut arm, wer weniger als 1,25 US-Dollar am Tag zur Verfügung hat. Daneben gibt es noch die Subsistenz (Selbstversorgung).

Jetzt kam Wolfgang Ratzel zur Situation in Amerika. Zunächst ging es in “The Zone”, ein Ghetto in Chicago mit einer Million Einwohner.

Dazu hatte er Merkmale zur Situation der Randständigkeit auf ein Merkblatt gebracht:

  • Zugang zu Einkommen aus einer Stelle? Zugang zu Bodenparzelle oder Arbeitsstelle?- regulär-berufliche Stelle? Oder irregulärer Notbehelf? Zugang zur Arbeitsvermittlung?- privat?- gesellschaftliche (NGO)?staatliche?

  • Zugang zu Wohnung? (nicht:Unterkunft)

  • Zugang zu Nahrung?

  • Zugang zu Trinkwasser?

  • Zugang zu Toiletten?- Abfallentsorgung?

  • Zugang zum Gesundheitssystem?

  • Zugang zu “gesunder” Umwelt?

  • Zugang zu reiner Luft?- zu Ruhe?

  • Zugang zu nichtverseuchten Böden?

  • Persönliche Freiheit?

  • Freiheit der Wahl- kann ich weggehen?

  • Entscheidungsmöglichkeit und-fähigkeit über Familienplanung?

  • Rechtssicherheit oder Willkür und Ausgesetzsein?

  • Friedliches oder gewalttätiges Zusammenleben? (im privaten und öffentlichen Bereich)

  • Staatliche Grundsicherung (Sozialhilfe)?

  • Zugang zu sonstigen Einkommen?

  • Zugang zu Mikrokrediten?

  • Zugang zu Bildung und Ausbildung?

  • Zugang zu Information?- Handy, Internet?

  • Mobilität im Nahbereich?

  • Mobilität im Fernbereich?

  • Widerstandsfähigkeit?

  • Überlebens- und Widerstandswille?

  • Zugang zu Unterstützungsnetzwerken Verwandschaft, Freundschaft, Nachbarschaft, Kooperativen, Selbsthilfe-Organisationen, weltanschauliche, gewerkschaftliche, staatliche, private U-Netzwerke

  • Überbevölkerung? -relative?- absolute?

  • Haushaltsgröße?- Zahl der Kinder?- kompletter Haushalt?

Damit kann auch jede/r für sich selbst einschätzen, wie die eigene Lebenssituation ist.

Der Artikel und das Interview zu “The Zone” ist von Loic Wacquant. (aus “Das Elend der Welt” von Pierre Bourdieu) Er ist Soziologe in Berkley und setzt sich parteilich für die Randständigen ein. Sein Blick auf die Marginalisierten geschieht auf eine sachlich- analytische Weise. Er hat das alltägliche Überleben eines “Hustlers”, einer zentralen Figur des Ghettos in Chicago dargestellt. Dabei ist die Sozialhilfereform von 1996 unter Clinton noch nicht berücksichtigt. Der Text entstand Anfang der 90er Jahre.

Das Ghetto ist von folgenden typischen Überlebensfiguren bevölkert:

  • die welfare-queen: (sie ist nach der Sozialhilfereform ausgestorben, im alten Sozialhilfesystem wurde die alleinerziehende Mutter noch über Wasser gehalten, das Unterstützungssystem war mütter- und kinderzentriert, nur die Mutter wurde unterstützt) Inzwischen ist die US-Regierung zur Geburtensteuerung übergegangen. Die Armutsbekämpfung verläuft über Geburtensteuerung. Heute bestraft man arme Frauen, die Kinder haben (vor allem durch workfare), dadurch ist die Zahl der gebährenden Mütter und armen Kinder drastisch gesunken. Die welfare-queen war eine Andockfigur für die Männer im Ghetto.

  • Die beiden Männerfiguren sind der Gorilla (das gewalttätige Bandenmitglied, der Mafiosi, der Killer) und der Hustler.

Der normale kapitalistische Markt und der Staat ziehen sich aus dem Ghetto raus, somit wird das Ghetto zu einer markt- und staatsfreien Zone. Nur noch Polizeistationen bleiben in den Ghettos, die wie Bunker aufgebaut sind.

Wenn ich im Ghetto in Chicago aufwachse, muß ich mich entscheiden. Entweder will ich durch den legalen Weg (legit) raus, das bedeutet einen regulären Job zu finden, oder ich entscheide mich für die Ökonomie der Straße (hustling). Hustling ist im Ghetto normal. Wenn man die erste illegale Handlung begangen hat, ist man auf dem Weg zur Ökonomie der Straße. Der Hustler ist eine männliche Figur, die Frauen gehen den Weg der Prostitution oder früher der welfare-queen. Der Frauenweg war das Gebähren von Kindern oder die Prostitution..

Für die einen ist also das Ziel, draußen zu arbeiten. Sie wohnen weiter im Ghetto. 90% der Frauen schaffen es raus, nur wenige Jobs in den Ghettos sind von Frauen besetzt. Der legit-Weg ist also überwiegend der Frauenweg.

Der Weg zum Hustling ist fast ein reiner Männerweg. Es gibt aber auch einige Frauen, die den Weg gehen. Hustler dockten sich früher an die welfare-queen an, um sie abzuzocken. Dann war der Hustler Beschützer, Prostituierter, der sich bezahlen ließ, und Abzocker. Für die welfare-queen war das ständige Gebähren von Kindern Voraussetzung für die Sozialhilfe. Männer hatten keinen Anspruch auf Sozialhilfe, es sei denn, sie lebten mit gebährenden Frauen zusammen. Mit der Clintonreform sollten sowohl die Frauen als auch die Männer aus dem Sozialhilfesystem herausgebrochen werden. Inzwischen ist die Zahl der Abtreibungen und die Zahl der alleinerziehenden Erwerbstätigen gestiegen. Es ist auch anzunehmen, dass die Prostitution gestiegen ist. Wenn heutzutage eine minderjährige Alleinstehende ein Kind gebährt, muß sie ins Heim gehen, zur Schule oder sie bekommt einen Vormund. Es gibt eine drastische Geburtensteuerungspolitik. Armut wird dadurch bekämpft, dass Arme nicht auf die Welt kommen. Man kann es auch als “soziale Eugenik” beschreiben.

Das Ghetto ist der Krieg aller gegen alle. Es ist ein Leben im ständigen Ausnahmezustand. Es gibt keine staatliche Anlaufstelle, bei der man sein Recht einfordern könnte. Die Polizei ist korrupt und die Leute scheuen sich, zur Polizei zu gehen, weil sie dann verraten würden oder sie die Polizei bestechen müßten. Es gibt keine rechtsstaatlichen Organe. Die Polizei kooperiert mit mafiösen Banden. Der Ausnahmezustand ist der Normalzustand. Auch die internen Vermittlungsinstanzen brechen weg. Früher haben alte Männer vermittelt, die Autorität hatten. Es waren moralische Instanzen. Von ihnen hat man sich Rat geholt. Früher (in den 50er und 60er Jahren) gab es in den Ghettos einen Rest von Rechtssicherheit. Heute gibt es keine Vermittlungsinstanzen mehr, die gewalttätigen Handlungen verstärken sich dadurch. Heute sind die Ghettos in Bandenherrschaftsgebiete aufgeteilt. Konflikte gibt es in der Regel wegen Grenzstreitigkeiten. Es wird versucht, Grenzen zu verschieben. Gleichzeitig wird mit allem gehandelt. Nach draußen mit der Mittelschicht (Kokain), nach innen (billige Drogen).

Der Hustler steht zwischen der Mafia und den Restbeständen, die als regulär bezeichnet werden können. Oberstes Ziel ist, möglichst viele Dollars zu machen. Es gibt keine moralisch-ethische Ziele. Die Grundeinstellung ist, wenn der Hustler morgens aufsteht, will er Dollars machen. Raus wollen- ist der generelle Horizont der Ghettobewohner. Ein Einfamilienhaus, Arbeit, verheiratet. Der amerikanische Traum, der rein materiell ist. Diese Lebensweise schwebt als Horizont über dem Ghettobewohner. Die vorrangige Methode des Hustlers ist die Täuschung, Gewalt ist die nachrangige Methode. Der Hustler hat eine bestimmte Grundhaltung, seine Mentalität ist folgende: Er hat die Intelligenz der Straße, d.h. er hat eine sachliche, abgeklärte Sicht der Dinge. Er hat eine expressive Lebensart. Er lebt aus dem Augenblick, denn er könnte am nächsten Tag schon tot sein. Er gibt das Geld sofort aus, Mode (Markenklamotten) spielt eine große Rolle. Er verprasst das Geld. Er hat eine existentialistische Lebensweise. Er ist skeptisch und mißtrauisch gegen alle. Es darf kein Vertrauen da sein. Das wäre ein Trick, denn in Wirklichkeit wollen ihn die anderen abzocken. Sein Alltag ist die Täuschung und das ist auch realistisch. Er betrachtet alle als potentielle Feinde. Die Maske muß stimmen.

Wacquant hat eine teilnehmende Beobachtung gemacht. Nur mit großem Aufwand ist es ihm gelungen, an die Figur heranzukommen, denn normalerweise reden die nicht. Die Kunst des Interviews war es, die Täuschungsstruktur zu durchbrechen.

Der Hustler ist ständig auf dem Sprung. Er ist dauernd nervös und ist in ständiger Mobilität. Er ist immer unterwegs. Er muß ständig erreichbar sein. Das Handy ist das zentrale Überlebensmittel. Hustling ist eine freischwebende Lebensweise ohne Bindung an Menschen und Orte. Diese Lebensweise macht den Hustler unfähig, einer regulären Lohnarbeit nachzugehen. Hustler sind mental und körperlich dazu nicht in der Lage. Sie werden scheitern.

Die Fähigkeiten des Hustlers sind: listig, charmant, ausbeutungsfähig; fähig zur Kungelei, Hochstapelei, Gaunerei, Täuschung, Manipulation, zum Schwindel. Fähig zur Gewalt bis hin zum Mord.

Das Set des Hustlers ist folgendes:

  • Herstellung und Verkauf von Drogen, inclusive Alkohol

  • An- und Verkauf von Diebesgut

  • illegales Wetten, Glücksspiele, illegale Lotterien mit spontanem Zusammenrotten an Straßenecken

  • Einbruch in Wohnungen und Schaufenster, Autodiebstahl, Klauen von Baumaterial und Autoteilen

  • Schutzgelderpressung und andere Erpressung

  • Dealen-Drogengeschäfte

  • Banküberfall

  • Auftragsmorde sind nachrangig (siehe Gorilla)

Es gibt eine Kombination der Lebensweisen. Hehler und Kleindealer können an der Mafia dranhängen. Früher haben sich Hustler auch an alleinerziehende Mütter (oft mehrere) drangehängt. Seit 1996 ist das nicht mehr möglich. Durch die Sozialhilfereform können bedürftige Menschen, nur noch 2 Jahre am Stück und 5 Jahre im ganzen Leben Sozialhilfe beziehen. Der Bezug ist an eine absolute Arbeitspflicht gekoppelt. Männer und Frauen müssen 20 Arbeitsstunden pro Woche nachweisen, um einen Anspruch auf Unterstützung zu haben. Frauen mit Kindern unter drei Jahren sind von der Arbeitspflicht befreit, Frauen mit Kindern über drei Jahren haben Arbeitspflicht. Der Hustler kann sich nicht mehr an alleinerziehende Frauen andocken, denn er muß 20 Stunden regulär arbeiten.

Die paradoxe Antriebskraft ist:

  • Man weiß: Es gibt kein Entkommen! - aber man will unter allen Umständen entkommen!

  • Man glaubt an die Allmacht der Bildung (und weiß, dass es nicht stimmt).

  • Wege aus dem Ghetto sind auch, Sport-oder Musikstar oder Model zu werden.

  • Das Hauptmittel sind allerdings illegale Geschäfte.

Der Hustler steht früh auf, ergreift sein Handy und geht auf die Straße. Wenn er einen Anruf bekommt, dass etwas gestohlen sei, muß er sein Hehlergeschäft organisieren. Dann organisiert er an der Ecke ein Spiel. Schließlich wird er für seine Prostitution bezahlt. Abends fällt er ermattet ins Bett. Am nächsten Tag geht der Überlebenskampf, die Jagd nach Dollars von vorne los. Der Hustler ist wurzellos, er ist immer auf Trebe.

Die postmoderne Produktionsweise produziert Menschen wie Hustler. Anmerkung: Den flexiblen Menschen hat Richard Senett in seinem gleichnamigen Buch recht anschaulich beschrieben.

Bevor Wolfgang Ratzel jetzt zu einer Favela in Südamerika und in die Peripherie (der Dritten Welt) kam, wollte er einen Unterschied verdeutlichen. Es gibt einen Unterschied zum Ghetto, denn der Hustler im Ghetto lebt stark vom Außenhandel mit der reichen Umgebung. Der Notbehelf im Ghetto ist eingebettet in eine reiche Umgebung. Die mafiösen Banden leben von der kapitalistischen Umwelt, durch den Außenhandel mit der Mittelschicht. Sie verdienen oft viel Geld, dadurch kommt Geld ins Ghetto. Irgendwann kommt das Geld auch beim Hustler an. Das unterscheidet den Hustler von Menschen in Slums, die nicht an eine reiche Umgebung angrenzen.

Welche Alternativen haben heranwachsende Männer und Frauen, dazu verteilte Wolfgang Ratzel folgendes Merkblatt:

  • Zugang zu regulären beruflichen Stellen- zu Lohnarbeit?- zu freiberuflicher und selbständiger Arbeit?

  • Zugang zu Land?- Gartenbau`- Kleinlandwirtschaft?

  • Zugang zu Stellen im öffentlichen Beschäftigungssektor- zu Maßnahmen?

  • Zugang zu informellen Stellen- zu Job, zu Tagelöhnerei?

  • Hustling= Mentalität, die zu einer Mischung aus legalen und illegalen Tätigkeiten befähigt

  • Prostitution

  • Kriminelle Aktivitäten:v.a.Diebstahl, Raub, Hehlerei, Erpressung, Entführung

  • Mitgliedschaft in Banden

  • Mitgliedschaft Mafia und Drogen-Kartelle

  • Mitgliedschaft in Milizen (Kampf gegen Minderheiten oder Kampf um die Macht)

Für die Milizen gibt es einen ständigen Nachschub an jungen Männern, die keine Perspektive haben. Die Männer schließen sich, um zu überleben, den Milizen an. Beispiele gibt es im Kongo, Libanon, Gazastreifen (Hamas). Wenn sich 1/5 der Männer in Afghanistan den Milizen anschließen würden, hätten die Taliban pro Jahr 100 000 neue Kämpfer.

Für viele Menschen gibt es nur noch 5-6 dieser Möglichkeiten und alle sind schrecklich!!!

Wir kamen jetzt nach Lateinamerika. Zunächst schauten wir uns zwei Bilder an.

Zunächst eine Favela in Sao Paulo, im Hintergrund sieht man Wolkenkratzer.

Damit wollte Wolfgang Ratzel verdeutlichen, dass es Unterschiede zur ehemaligen ersten Welt gibt. In Chicago und Paris erkennt man die Slums nicht, es sind meistens Sozialwohnungsbauten aus den 1940 bis 60iger Jahren. Oftmals ist es in den Metropolen auch so, dass Slums im Innern der Stadt entstehen. Die Armut konzentrierte sich in der Mitte, die Mittelschicht wanderte an den Rand ab. Allerdings gibt es Städte, z.B. Paris, wo die Innenstadt armenfrei ist. In ehemaligen begehrten Wohngegenden um Paris konzentriert sich heute die Armut (Banlieues). Auch mittels Gentrifizierung werden die Armen aus Innenstädten verdrängt.

Ein weiterer Unterschied ist, das Land in der Peripherie (der Dritten Welt) besetzt wird. Zum Beispiel strömen unablässig Menschen in die Favelas von Sao Paulo. Sie errichten illegal Häuser. Wenn allerdings die Mittelschicht bauen will, werden Slums rigoros geräumt. Was mit den Menschen geschieht, ist egal. Zum Beispiel findet in Mumbai zur Zeit die größte Säuberungskampagne statt.

Der Hustlertyp entwickelt sich auch in Slums, die direkt an Metropolen angekoppelt sind.

Dann schauten wir uns ein zweites Bild ein, dass die Frage beantworten sollte, warum dieser Zustrom. Das Bild zeigt acht hochcomputerisierte Erntemaschinen in einem riesigen Sojafeld.

Brasilien ist ein weites Land, trotzdem ist Land knapp. Die Großgrundbesitzer betreiben Viehzucht und Sojaproduktion. Dafür wird auch der Urwald gerodet. Es entstehen gigantische Farmen, während die eine Hälfte der Landbevölkerung keinen Zugang zu Land und die andere Hälfte der Landbevölkerung wenig Land hat. Die Sojaprodukte dienen einerseits der Fütterung der Tiere. Was wir in der ersten Welt an Tieren essen, dafür wird Land in Südamerika zur Verfügung gestellt. Zweitens trägt auch die “Ökowelle” mit Bioprodukten dazu bei. Und drittens wird Biosprit hergestellt.

Die Landlosen sind darauf angewiesen, als Landarbeiter zu arbeiten. Durch die hochtechnisierte kapitalistische Produktionsweise werden aber nur hochqualifizierte Personen gebraucht, die die Maschinen bedienen können. Die Großgrundbesitzer nehmen den Kleinbauern die Existenzgrundlage und schaffen auch nicht die benötigten Arbeitsplätze. Eine kleine Parzelle kann drei Menschen tragen, der Rest der Familie muß abwandern. Den Bauern bleiben die Flucht in die Slums oder die Migration. Aufgrund der ungerechten Landverteilungsverhältnisse werden sie dazu gezwungen.

Paraguay hat eine linke Regierung, die von der Landbevölkerung gewählt wurde. Vor der Wahl wurde eine Landverteilung versprochen. Eine Enteignung scheint dort angeblich nicht möglich zu sein, und so muß der Staat das Land zu Marktpreisen kaufen. IWF, Weltbank und Mittelschicht verhindern die Enteignung, sie wollen, dass die Farmen im Land bleiben. So besteht ein Zusammenhang zwischen der ungerechten Landverteilung und der Wucherung der Favelas. Auch der “Arbeiterführer” Lulu in Brasilien hat eine neoliberale, auf Konkurrenz gerichtete Wirtschaft gefördert. So wird massenhaft Land zur Sojaproduktion aufgekauft.

Nun kam Wolfgang Ratzel zu einer Favela in Buenos Aires in Argentinien. Um die Downtown herum entstehen Favelas, ähnlich wie in Sao Paulo.

Die Prozesse laufen wie folgt: Die Großgrundbesitzer bewerben sich um Land, Bauern werden enteignet oder minimal entschädigt. Die Leute gehen schließlich in die Slums, bauen ihre Hütten, bedienen den Niedriglohnbereich oder die illegale Ökonomie. Es wuchert dahin. Es entsteht planlos aus der Dynamik des Überlebens heraus: Ich will überleben!

Dramatisch ist die Entwicklung der Favela Villa Etati in Buenos Aires. Anfang des Jahrhunderts war diese Favela ganz normal. Es war eine Ökonomie des Notbehelfs. Durch die Entwicklung Argentiniens zu einem ganz normalen kapitalistischen Land entstand eine Mittelschicht. Die brauchten eine Leistungsdroge, um konkurrenzfähig und immer topfit zu sein, also Kokain etc. Die Droge wurde im eigenen Land hergestellt, auch in der Favela. Sie begannen Kokain herzustellen und verkauften die im Außenhandel mit der Mittelschicht. Bei der Kokainherstellung entstehen Abfälle. Aus diesen Abfällen wurde eine neue Droge gemischt. Paco ist eine giftige, hochgradig süchtig machende Droge, sie enthält Rattengift, Chemikalien, Klebstoff. Die zweimalige Einnahme dieser Droge führt zur lebenslangen Sucht. Sie zerstört den Körper und führt zum Tode. Paco ist eine Selbstzerstörungsdroge, die die Lebenskraft der Individuen frißt. Sie wirkt extrem attraktiv, man braucht die Droge mehrmals am Tag. Die Drogenabhängigen werden aggressiv und hemmungslos. Die Leute magern ab und werden lebende Tote genannt. Sie wandeln durch die Straße auf der Suche nach Geld für das nächste Paco. In der Favela Villa Etati sind 50% paco-süchtig. Die Drogenabhängigen machen nur noch eins, mit Drogen dealen. Am Anfang wurde Paco von der Mafia an Kinder für 1 cent verkauft. Sie wurden süchtig und wurden Dealer. 2005 begannen die Dealer, das Viertel mit Paco zu überschwemmen. Die Zentren wurden dagegen mit Kokain bedient. Paco hat eine andere Qualität, die Süchtigen sterben früher. Früher hat die Nachbarschaft in der Favela zusammengehalten, es gab Solidarität. Viele Favela-Bewohner sind nostalgisch: “Wir waren alle arm, aber wir haben zusammengehalten und uns unterstützt.” Heute rennen die Süchtigen wie “Ratten” über die Dächer, um zu stehlen. Die Hemmschwelle ist enorm gesunken, so beklauen Kinder ihre Eltern. Jegliches Vertrauen löst sich auf. Die Favelas in Argentinien sind Produktionsstätten von Drogen, sie haben sogar eigene Landebahnen, um die Exportprodukte in die USA oder die Nachbarstädte zu bringen. Die randständige Bevölkerung rottet sich selbst aus. Es ist eine Selbstauslöschung der Armen durch die Armen. In ihrer Hoffnungslosigkeit lassen sie sich auf den Drogengenuß und die Zusammenarbeit mit der Mafia ein. Noch 2001/2003 wurde Argentinien als die Schweiz Lateinamerikas bezeichnet. Dann kam die Krise. Es entstanden Tauschringe, selbstverwaltete Fabriken, eine Parallelwährung, die Piqueteros etc. Die Fabriken waren allerdings auch der Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt. Würde heißt für Menschen in Argentinien, dass die Menschen dich als Arbeiter betrachten. Und genug Geld zu haben, um die Familie zu ernähren. Es gibt wenige Überlebensmöglichkeiten, die randständige Menschen haben, durch die globale Konkurrenz sind die gegen Null gebracht. Es sind Notbehelfssachen. So werden die Müllsammler als Oberschicht angesehen, weil sie ein regelmäßiges Einkommen haben. Es sind begehrte Jobs. In der Favela Villa Etati ist der örtliche Priester die einzige Instanz, die Normalität in dem Viertel verkörpert, er wird dementsprechend ständig bedroht. In Buenos Aires in den Favelas sind die politisch- weltanschaulichen Gruppen vollständig verschwunden.

Es gibt zwei Typen von Favelas.

Ein Vergleich: In den Ghettos in den USA gibt es noch einen Minimalrest an arbeitswilliger Bevölkerung und es gibt einen Restanspruch an Sozialhilfe. Die Menschen halten sich durch ihre reiche Umgebung über Wasser.

Auch der Typ Sao Paulo hat Überlebensmöglichkeiten durch den Handel mit der reichen Umgebung. Im Typ Villa Etati beginnt sich die randständige Bevölkerung durch den Drogeneinfluß auszulöschen.

Jetzt kamen wir noch Afrika, genauer nach Südafrika, das ein erhebliches Aidsproblem hat.

Der Referent wollte nachweisen, dass dort ein Modell umgesetzt wird, dass bewußt HIV-Positive sterben läßt. 1959 gab es die erste HIV-Blutprobe. Der Virus wurde von Schimpansen auf Menschen übertragen. Ein schwuler Stewardeß, der zwischen Afrika und New York flog, hätte HIV in die Schwulenszene der USA eingeschleppt. Ihm wurden 3500 Sexualkontakte nachgewiesen. Es gibt auch die Labortheorie, die CIA hätte den Virus entwickelt.

Durch den Übertragungsweg wird klar, warum es in Südafrika eine Explosion von HIV-Positiven gibt. In Südafrika ist das Geschlechterverhältnis extrem gewalttätig. Die Vergewaltigung von Frauen ist fast die Hauptform des Geschlechtsverkehrs. Es wurden 1738 junge Männer befragt, 28,5% gaben eine Verwaltigung zu. Die Hälfte dieser Vergewaltiger hatte mehrfach vergewaltigt. Meistens sind sie unter 18. 1/5 der jungen Männer sind HIV-positiv. Den Männern ist es wichtig, eine hohe Anzahl von Geschlechtskontakten vorzuweisen. Das gehört zur Männlichkeitsproduktion. Schuld seien die Opfer. Die Frauen geraten unter Druck, es geht um die Ehre der Familie...Vergewaltigung ist zwar juristisch verboten, aber 90% der Vergewaltiger bleiben straffrei. Von neun Vergewaltigungen wird eine angezeigt. Alle 26 Sekunden geschieht eine Vergewaltigung. Diese Männlichkeitsrituale existieren bis in die Spitze, so ist auch der Präsident von Südafrika ein Vergewaltiger. Die Stimmung im Land macht es den Frauen unglaublich schwer, eine Anzeige zu machen. Südafrika unterscheidet sich von anderen Ländern, dass vor allem arme Frauen von Aids betroffen sind.

Ursachen sind folgende:

  • Tabuisierung und Ausgrenzung der Betroffenen. (Das Wort Aids wird nicht ausgesprochen)

  • Polygamie (Der Mann will seine Männlichkeit beweisen, in dem er fünf Frauen hat.)

  • sofortige Wiederverheiratungspraxis, um die “Zukunft” einer Frau zu sichern

  • Ein wesentlicher Faktor ist das Verwaltigungsrisiko junger Frauen in den Townships, Aids wütet in den Slums.

  • Die neue farbige politische Klasse sind Aidsleugner. Aids hätte nie existiert, das sei eine Verschwörungstheorie. So arbeiten die Aidsleugner mit Dr.Rath zusammen, der Vitamine gegen Aids verkauft.

2,5 Millionen Aidstote gibt es in Südafrika pro Jahr.

Wenn Tabuisierung mit Männlichkeitsritualen, Polygamie und staatlichem Schutz von Vergewaltigern sowie eine Mischung aus Katholizismus und Stammesreligion zusammenkommen, sei klar, warum die Todesrate in Südafrika so hoch ist.

In einer Vergleichsregion (Uganda), die auch hoch verseucht war, ist es durch die Enttabulisierung und Prävention gelungen, die Infektionsrate um 2/3 zu senken.

Das Überleben in den Townships hängt davon ab, ob die Restfamilie intakt ist. Wenn die Mutter stirbt und weitere Familienangehörige, das Sterben los geht, dann wird es besonders dramatisch für die Waisen.

Gegenstrategien: NGO`s und teilweise Regierungen haben mit Pharmakonzernen verhandelt, dass kostengünstige Medikamente angeboten werden. Die Kosten einer Aidstherapie belaufen sich auf 10-15 000 Dollar pro Person und pro Jahr. Der Kostenfaktor könnte auf 140 Dollar gesenkt werden, das würde es erlauben, die Hälfte der Aidskranken in Südafrika zu versorgen. Es gibt einige Pharmabetriebe, die das auf Spendenbasis machen. Der Patentschutz beträgt 18 Jahre, wenn der abgelaufen ist, kann jeder die Medikamente herstellen. Man könnte jede Tablette für 10 cent herstellen. Auch wenn die Patentrechte noch nicht abgelaufen sind, müssen sie gebrochen werden. Aber alle wollen verdienen, der Markt ist riesig. Die Pharmalobby ist stark. In Südafrika werden 700 000 Menschen mit Generika (Wirkstoffe wie die ursprünglich patentierten Arzneimittel der Erstanbieter) versorgt, der Rest wird dem Sterben überlassen. Es stehen Möglichkeiten bereit, um das Sterben aufzuhalten, die Möglichkeiten werden aber zu wenig eingesetzt. Es besteht kein gesellschaftliches Interesse daran, die Menschen vor dem Sterben zu retten. Der Mensch wird nur als Nutzfaktor angesehen, wenn er keinen Nutzen hat, kann er auch sterben. In Südafrika gibt es eine inoffiziell geschätzte Arbeitslosenrate von 50-70%.

Was ist die Ursache dieses Sterbenlassens?

Es gibt einen Bruch mit einem langen gesellschaftlichen Konsens. Früher gab es religiöse Vorschriften, dass Armen durch Abgaben am Leben erhalten werden sollten. Im Moment löst sich das auf, wir befinden uns im Umbruch. Die Menschwerdung begann damit, dass man sich für Schwache einsetzte. Es rührte sich ein Solidargefühl für Dritte, die in Not waren. Es gab einen Konsens, dass Menschen auch die schwachen Menschen sichern, dass sie am Leben bleiben. Dieser Konsens löst sich aus reinen Verwertungs- und Wertberechnungen auf.

Die Herrschenden haben Angst vor dem Aufbegehren der Armen. Während die Sklaven als “Humankapital” produktiv waren, sie wurden versorgt, dass sie es blieben, sind die heutigen Slumbewohner nicht mehr in den kapitalistischen Verwertungsprozeß integrierbar, sie sind nicht mehr verwertbar. Die Menschenmassen in den Slums werden nicht mehr gebraucht. Die Slums sind eine Bedrohung, aber 80% der Gewaltverbrechen geschehen in den Townships, d.h. es herrscht ein Selbstauslöschungsprozeß in den Slums. Bei den Unruhen in Südafrika gegen aus Nachbarstaaten eingewanderte Menschen gab es 60 Tote und 200 000 Vertriebene.

Was ist das Grundproblem dieser Menschen?

Noch Mitte des 19.Jahrhunderts existierte auch in Deutschland Massenarmut. Die Lösung war die Expansion der kapitalistischen Produktionsweise. Die Industrialisierung hat Stellen geschaffen, damit die Armen ausgebeutet und ruhig gestellt werden konnten.

Wo ist heute die Kraft, die Stellen zur Verfügung stellt?

Die Grünen wollen mit regenerativer Energie eine Million Arbeitsplätze schaffen, aber dort werden gut Qualifizierte gebraucht. Die chinesische Volkswirtschaft löst das Problem, in dem sie auf hohem technischen Niveau und billiger Arbeitskraft produziert.

Es gibt keine Lösung. Es gibt keine neue Industrie.

Jetzt kam Wolfgang Ratzel nach Asien, zu Indien und China.

Was ist der Grundunterschied zwischen den chinesischen und indischen Sonderwirtschaftszonen?

Dazu sahen wir uns ein Bild aus China ein. In einer riesigen Fabrikhalle zerlegten einige Hundert WanderarbeiterInnen Hühner mit der Hand. In China wird Handarbeit gemacht. Dabei gehen in China 4 Millionen Akademiker pro Jahr von der Hochschule ab. In Indien würde ein computergestütztes Band laufen.

Indien

In diesem Land werden 300 Sonderwirtschaftszonen geplant. In Indien werden global player angelockt, mit Steuerfreiheit, geringen Umweltauflagen. Die Arbeitschutzbedingungen, Tarifverträge, Gewerkschaften sind außer Kraft gesetzt. Die Grundstücke kosten nichts. Gleichzeitig produzieren sie auf durchschnittlichem internationalen Niveau. Die Zahl der Arbeitsplätze ist nicht höher, als auf globalem Niveau. Es wird ein Bildungsniveau verlangt, dass die örtliche Bevölkerung nicht hat, also werden Arbeitskräfte mit importiert. Die Arbeitskräfte werden immer ganzen Land gesucht. Die Sonderwirtschaftszonen nützen der anliegenden Armutsbevölkerung nichts. Aber es gibt auch Protest. So sollte ein kleines Auto für 1800 Euro der Hoffnungsträger der Nation werden. Es war eine Sonderwirtschaftszone geplant, die kommunistische Regierung erlaubte das. Die Bauern sollten enteignet werden, aber die Bauern leisteten Widerstand. Der Autoproduzent ging woanders hin. Ansonsten werden Bauern, die enteignet werden, Wanderarbeiter und gehen in die Slums. Die Wanderbewegung entsteht, weil die Leute nicht verhungern wollen. Es gibt in Indien kein Grundbuch, wo die Landrechte festgehalten sind. In Indien ist die Selbstmordrate bei Bauern sehr hoch.

China

China macht Bevölkerungsplanung. Das Land hat mit dem Modell Wanderarbeit dafür gesorgt, dass nicht eine überflüssige Bevölkerung geschaffen wird. Die Wanderarbeit ist die Lösung der Überbevölkerung.

Diese Überbevölkerung beträgt weltweit 3 Milliarden. Eine Milliarde steht am Hungertod. 2-3 Mrd. leben von 1-2 Dollar am Tag. Die Hälfte der Weltbevölkerung ist vom Standpunkt der kapitalistischen Produktionsweise- überflüssig.

Wo ist die Kraft, die diese Bevölkerung “integrieren” kann? Das ist die entscheidende Frage.

Womit sollen die Menschen beschäftigt werden?

In China gibt es 200 Millionen Wanderarbeiter, das Wanderungspotential wären 500 Millionen. In der Statistik der Überflüssigen ist kein Chinese drin. Jeder Chinese hat mehr als 2 Dollar am Tag, als Folge des schrecklichen Wanderarbeitssystems.

In China leben 700 Millionen Landbewohner, die keinerlei Anspruch auf eine soziale Sicherung haben. Die einzige soziale Sicherheit ist eine Ackerfläche von 666m². Dazu kommen die Landrechte der Großfamilie. Eine vierköpfige Familie mit einem halben Hektar Land kommt auf ein durchschnittliches Monatseinkommen von 33 Euro. Eine weitere Überlebensquelle ist die Subsistenz, ein kleiner Gemüsegarten, eigene Hühner, ein Schwein, eine Kuh. Das ist die soziale Sicherung auf dem Land. Auf dem Land gilt die Ein-Sohn-Politik. Der Referent berichtete von einer Familie in einem Dorf. Dort ist jedes 2. Haus neu gebaut oder renoviert. Jedes Haus hat einen Fernseher. Die Menschen sind gut gekleidet. Der Vater der Familie hat 17 Jahre als Wanderarbeiter gearbeitet. Der Sohn ist Kellner in Peking. Die erste Tochter ist Wanderarbeiterin in der Elektronik. Die zweite Tochter ist Mutter, die zu Hause bleibt. Die Masse der Landbewohner geht in die Sonderwirtschaftszonen an die Küste. Ihre erhoffte Perspektive ist die Selbständigkeit zu Hause im Dorf. (als Kleinhändler und Kleinproduzent, z.B.Nähstube) Im Dorf gehen von 2100 Bewohnern 800 auf Wanderschaft. 20% sind in der näheren Umgebung, 80% sind weit weg. Jeder, der wandern kann, geht auch. 50% des Geldes im Dorf stammt aus der Wanderschaft. Der Monatslohn beträgt 78-225 Euro, wer Überstunden macht, hat das Doppelte. Die Zimmer der Wanderarbeiter sind mit 8-10 Menschen überbelegt. Das System der Einwohnerregistrierung verhindert, dass sich die Wanderarbeiter in den Sonderwirtschaftszonen niederlassen können. Es existiert in China ein System der Bevölkerungssteuerung, die Kommunistische Partei steuert alles. Wenn eine Knappheit an Wanderarbeit besteht, steigen die Löhne. Insgesamt wird die Wanderarbeit als normal und attraktiv empfunden. In den Familien wird verhandelt, wer gehen darf.

Am Schluß fragte Wolfgang Ratzel noch mal, ob es eine Kraft gibt, den gigantischen Ausgrenzungsprozeß zu verhindern. Und wie ist es möglich, die Slum- und Favelabildung zu verhindern? 3 Milliarden Menschen sind im Weltmaßstab überflüssig, weil sie faktisch und wirklich nicht im Verwertungsprozeß sind. Wie kann man diese 3 Mrd. Menschen produktiv integrierbar machen, dass sie überleben können?

Wolfgang Ratzel fragte: Ist das kapitalistische Weltsystem in der Lage, 3 Mrd. Menschen zu proletarisieren?

Indien enteignet die Bauern und schafft Sonderwirtschaftszonen.

China ist slumfrei und macht unglaubliche Arbeitskraftreserven produktiv.

Dem wurde entgegen gehalten, dass die Zwangsarbeitslager in China eine Form der Produktivmachung von Arbeitskraft seien. Diese Lager seien die chinesische Form der Slums, in denen noch schlechtere Arbeitsbedingungen als in den Sonderwirtschaftszonen herrschten.

Danach suchten wir in der Diskussion gemeinsam nach Lösungen.

Sarkastisch wurde festgestellt, dass Krieg und Umweltzerstörung dazu führen, wieder mit einem Wiederaufbau zu beginnen. Die fossilen Brennstoffe sind endlich, wir steuern auf eine Katastrophe zu. Das System explodiert.

Man müsse die Landflucht stoppen und auf lokaler Ebene neue Wirtschafts- und Tauschbeziehungen schaffen. Lokales Wirtschaften statt kapitalistischen globalen Markt.

Die 1. Welt muß Konsumverzicht praktizieren, sonst kann der Klimawandel nicht mehr aufgehalten werden und es gibt immer mehr Klimaflüchtlinge.

Wir müssen eine Vergesellschaftung am Kapital vorbei praktizieren. Realität ist, nur über verwertbare Arbeit sind wir vergesellschaftet. Was sind eigentlich fürs Leben notwendige und sinnvolle Tätigkeiten?

Das Weltsystem des Kapitalismus wird implodieren, wenn sich die Krisen und Probleme vergleichzeitigen. Solange es die Profitlogik gibt, wird es keine Lösung geben.

Die einzige Möglichkeit ist, alternative Wirtschafts- und Politformen zu entwickeln. Das wird nicht ohne Gegengewalt von Seiten der Herrschenden abgehen.

Es gibt keine Lösung im kapitalistischen System mit dieser Profitlogik.

Um auf die Gefahr der Vergleichzeitigung von Krisen hinzuweisen, zur weiteren Information, mein Vortrag zur globalen, multiplen Krise: http://www.trend.infopartisan.net/trd1009/t011009.html

Schlußbemerkung: Wenn die soziale Sicherung in den Metropolen immer mehr abgebaut wird, werden wir als “selbständige Arbeitskraftunternehmer” auch bald alle wie “Ratten” (wie unter der Droge Paco) herumlaufen, auf der Suche danach, was noch verwertbar ist, woraus wir Kohle ziehen können. Aus lauter Existenzangst. Dieses marktwirtschaftliche Denken dringt auch immer mehr in die Linke ein. Ich nenne es Selbständigen- Syndrom...
 

Quellen

Mike Davis, Planet der Slums, Assoziation A Berlin 2007

Claus D. Kernig, Und mehret euch?, Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 2006

Walden Bello, Politik des Hungerns, Assoziation A Berlin, Hamburg 2010

http://www.bpb.de/wissen/0UGK5Y,0,0,Soziale_Probleme.html

Stephanie Nolen, 28 stories über Aids in Afrika, Piper München 2007

Jonas Bendiksen, So leben wir, Knesebeck München 2008

 

Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.