Nach Fukushima
Wende in der Atompolitik?

von der Gruppe "vonmarxlernen"

05/11

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Wie man hört, haben ja alle viel gelernt aus der Fukushima-Katastrophe. Die Welt sei eine andere geworden. Die Kanzlerin hat – mit viel Gespür für gekonnte Öffentlichkeitspolitik, wie ihr von professionellen Meinungsbildnern gleich anerkennend bescheinigt wurde – schnurstracks ein dreimonatiges Moratorium erlassen, um Deutschlands Kernkraftwerke durchzuchecken. Zwar hat dieses prompte Manöver die Wahlergebnisse nicht ganz im Sinne der Regierung rumgerissen, aber tatsächlich scheint ein gewisses Überdenken der deutschen Energiepolitik auf der Tagesordnung zu stehen. Während im Herbst die Behauptungen, „deutsche AKW’s sind sicher“ und die geplante „Laufzeitverlängerung sei „alternativlos für den deutschen Standort“, quasi als Staatsräson galten, wurden nun einige alte Meiler abgeschaltet; eine Ethik-Kommission ist zusammengetreten, um über die Atompolitik generell nachzudenken.

Um was geht es bei der seitdem heftig diskutierten Wende in der Atompolitik?

Die bisherige deutsche Atompolitik

Ein Atomkraftwerk geht kaputt, das führt zu einer anständigen Verstrahlung, die eine dicht besiedelte und industriell genutzte Zone auf Dauer unbrauchbar macht. Das ganze passiert in Japan – also nicht in einer sowjetischen Plan- und Murkswirtschaft, der man ohne weiteres so etwas zugetraut hat, sondern in einem marktwirtschaftlichen, hoch technisierten Land, das sozusagen ist „wie wir“. Das gibt Merkel & Co. zu denken.

Sie und ihre Vorgängerregierungen haben auf Atomkraft als unverzichtbaren Bestandteil des deutschen Energiemix gesetzt, weil das aus der Sicht des Verwalters eines marktwirtschaftlich konkurrenzfähigen Standorts einige unschlagbare Argumente für sich hatte:

  • gebraucht wird für das erwünschte kapitalistische Wachstum eine zuverlässig vorhandene und ständig steigende Menge an Strom – und das zu einem Preis, der die deutsche Exportwirtschaft in den Stand versetzt, weltmarktfähig zu agieren; für dieses Bedürfnis stört sowohl die Abhängigkeit und entsprechende Erpressbarkeit von auswärtigen Lieferanten wie die Verfügung über eine im Land vorhandene, aber vergleichsweise teure heimische Kohle;
  • nach einer entsprechenden staatlichen Anschubsuvention liefern die AKW’s zuverlässig und kostengünstigen Strom. (Zusatzargument für die Kritiker, die das bezweifeln: Die für die Entwicklung wie für die Entsorgung fälligen staatlichen Kosten werden dabei übrigens ebenso viel und so wenig in Rechnung gestellt wie etwa die imperialistischen Kosten, die für die Sicherung stetigen Öl- und Gasnachschubs fällig werden. Es ist sachlich verkehrt, diese Kosten nicht als die unumgänglichen Unkosten zu begreifen, mit denen der Staat die notwendigen Standortbedingungen eines funktionierenden Kapitalismus herbeiregiert und finanziert, und sich stattdessen sich daraus eine volkswirtschaftliche Gesamtabrechnung zu basteln, in der „wir alle“ „unseren“ Produktions- und Konsumtionsprozess bilanzieren.)
  • damit macht Deutschland zugleich die nötige Energieproduktion zu einem eigenen Wachstumsbestandteil, an dem seine großen Kapitale partizipieren (Siemens, RWE etc.); es überwindet den festgestellten Nachteil, ein „rohstoffarmes Land“ zu sein und schafft sich die Verfügung über eine eigene Energiequelle;  
  • durch Export der Atomtechnologie wie auch des inzwischen reichlich erzeugten Stroms werden die nötigen Anfangsinvestitionen verbilligt und gleichzeitig gewinnt man damit Einfluss auf andere Staaten in einer nicht gerade unwichtigen Sphäre;
  • nicht zuletzt hat Deutschland mit der friedlichen Nutzung schon mal in puncto Wissen und Technik entsprechende Vorbedingungen für eine eventuell alternative Nutzung der Atomspaltung erworben.
    Lesetipp: Laufzeitverlängerung für AKWs beschlossen

Diese staatliche Rechnung mit ihren überzeugenden Positivposten war der leitende Gesichtspunkt dabei, sich dann die durchaus bekannten „Risiken“ der Atomtechnologie zu durchdenken. Wenn es bei dem öffentlich beschworenen Problem  „unserer Stromversorgung“ („Gehen bei uns die Lichter aus?“) darum gegangen wäre, sich morgens ein paar Eier zu kochen und abends im Bett noch zu lesen, dann wäre die Idee, das mit dieser Technik zu bewerkstelligen, vielleicht etwas abwegig. Aber natürlich war allen Beteiligten bis hin zu den Bürgern klar, dass es bei diesem „Problem“ um eine viel gewichtigere Sorge geht – eben um die Grundversorgung der gesamten nationalen Ökonomie mit ihren Konkurrenzansprüchen, von deren Erfolg sich alle abhängig wissen (auch wenn sie sehr unterschiedlich davon profitieren).

Und für diesen Anspruch musste etwas großzügiger mit den fälligen Nebenwirkungen kalkuliert werden.

Ein Kernkraftwerk hat nämlich nicht das Risiko an sich, dass auch mal was daneben geht, wie wenn man sich mit dem Hammer auf den Daumen haut. Es ist nicht mal mit der Explosion in einem chemischen Werk zu vergleichen, deren Folgen auch nicht ohne sind. Beim AKW besteht die gewünschte Wirkung – als Energiequelle zu fungieren – gerade darin, dass man einen ziemlich bemerkenswerten Prozess in Gang setzt. Die Aussagen der Betreiber zeugen selbst davon, dass dessen Steuerung und Kontrolle ein Dauerproblem darstellen, weil er tatsächlich so funktioniert, dass er eine kaum kontrollierbare Reaktion in Gang setzt. Der Vorzug dieser Technik – sozusagen aus einer winzigen Menge Material eine enorme Wärmeentwicklung zu erzeugen – ist insofern auch ihr Problem. Und Entgleisungen der Produktion sind im Fall der Atomtechnologie nicht einfach eine Folge des kapitalistischen Kalküls mit Risiken, die in der Marktwirtschaft für eine gewisse Unfallträchtigkeit an Arbeitsplätzen sorgen, die es ohne das Diktat der Rentabilität nicht geben müsste. Gefährlichkeit und Unkontrollierbarkeit ist vielmehr die „Natur“ dieser Technik,

  • weshalb die Kunst der Ingenieure vor allem darin besteht, diesen Prozess überhaupt nachhaltig unter Kontrolle zu kriegen:
  • weshalb jede Störung auch nicht einfach darin besteht, dass etwas schief geht (ein Nagel krumm gehauen wird, eine Fabrik explodiert), sondern darin, dass dann Strahlung und Wärmeentwicklung nicht einfach per Knopfdruck zu stoppen sind. Die Dimension der möglichen Entgleisung ist räumlich, zeitlich und im Hinblick auf die Art der Schäden schlicht unvergleichlich.

Das wissen AKW-Betreiber und die staatlichen Aufsichtsstellen selbstverständlich sehr genau. Wegen ihrer hochrangigen Gründe – wie gesagt: nicht einfach Versorgung privater Haushalte, sondern eben zuverlässige und kostengünstige Energieversorgung der nationalen Wirtschaft! – wollen sie allerdings auf diese Technik keinesfalls verzichten. Deshalb wird jedes AKW mit diversen Sicherungssystemen ausgestattet, mit Ummantelungen, Kühlkreisläufen usw. Es ist also nicht so, dass Sicherheitsdenken fehlt – davon kann keine Rede sein.
Es ist vielmehr so, dass dieses Sicherheitsdenken selbst die immergleiche Kalkulation beinhaltet: eben die zwischen den Anforderungen des Standorts, den Vorzügen der Atomtechnik und den von daher nötigen und noch bezahlbaren Aufwendungen für die Absicherung. Oder wie es die „Experten“ dann ausdrücken: „Sicherheit ist keine absolute Größe oder absoluter Zustand. Sicher ist eine Anlage, wenn ihr Risiko unter dem Grenzrisiko liegt, und das legt die Gesellschaft fest.“ (Frank-Peter Weiß, Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die der Bundesumweltminister als Gutachter in Nuklearfragen einsetzt, in der SZ vom 2./3.4.2011) „Man kann sich theoretisch bestimmt vorstellen, einen Druckwasserreaktor inhärent sicher zu bauen, aber dann hat er jegliche Wirtschaftlichkeit verloren.“ (Hans-Josef Allelein, Professor für Reaktorsicherheit an der TH Aachen, SZ 2./3.4.2011)

Ohne mit der Wimper zu zucken, stellen die Naturwissenschaftler ihre Forschung und ihre Konstruktionskünste also unter Prämissen, die weniger mit Naturgesetzen als mit politischen und ökonomischen Kalkulationen zu tun haben – und rechnen dann „der Gesellschaft“ vor, mit welcher Wahrscheinlichkeit unter den getroffenen Annahmen und den bezahlbaren Sicherheitsvorkehrungen ein Störfall eintreten kann. Das Ergebnis dieser Rechnung heißt dann „Restrisiko“ – und war in der BRD bisher per staatlicher Definition vernachlässigbar klein.

Lehren aus dem japanischen GAU

Restrisiko ist also keine naturwissenschaftliche Größe, wie man vielleicht meinen könnte, sondern drückt die Kalkulation des deutschen Staats in Sachen Atomenergie aus. Diese Kalkulation wird nun „überdacht“ – und das an den haargenau identischen Maßstäben und Rechnungen wie vorher auch. Insofern ist die Welt keineswegs eine andere geworden.

Klar ist, dass die Staaten, die AKWs betreiben, allesamt eine gehörige Abgebrühtheit in Bezug auf gesundheitliche Schäden ihres teuren Volks drauf haben. Neben der beschriebenen interessierten Errechnung des Restrisikos werden Grenzwerte für die permanent laufende Verstrahlung von Land und Leuten definiert, die auch noch je nach Bedarf veränderbar sind (Arbeiter in AKWs vertragen demnach einfach mehr Strahlung). Aus den entsprechenden Leukämie-Studien in AKW-Regionen können die Verantwortlichen leider keine klaren Schlüsse ziehen – all das ist bekannt und wird im meinungsfreien Dialog seit Jahrzehnten diskutiert.

Solche schleichenden Schädigungen nimmt eine verantwortungsbewusste Regierung also durchaus in Kauf – anders wäre ein Spitzenplatz im globalen Kapitalismus eben nicht zu haben. Aber dass eine Betriebsstörung tatsächlich in einen GAU mündet und einen relevanten Teil ihres schönen Standorts in diesem Ausmaß ruiniert – das sollte natürlich nicht sein.

So weit haben sich die Entscheidungsträger tatsächlich auf die Rechnungen, die sie in Auftrag gegeben haben, verlassen und so weit haben sie sich tatsächlich die bisherigen Vorfälle in Harrisburg und Tschernobyl als Ausnahmen, die es eigentlich nicht geben dürfte, zurechtgelegt. In Three Miles Island soll ein absolut veralteter Reaktortyp schuld gewesen sein, bei den Sowjets selbstverständlich ein unfähiges und überambitioniertes System. Dagegen verfüge man in Deutschland über eine „sichere“ und dazu noch „ständig modernisierte“ Technik – wobei letzteres für sich genommen natürlich jeweils ein Eingeständnis über den Stand von gestern ist.

Nun aber hat es in Japan gekracht, in einem Land, so marktwirtschaftlich und hochtechnologisch wie man selbst. Das hätte – nach all den schönen Rechnungen, die man angestellt hat – nicht sein dürfen.

Allerdings: kaum haben sie sich ein bisschen erschrocken wegen Fukushima, stellen sich die Regierungen dieser Welt auch schon wieder in den Dienst ihrer nationalen Notwendigkeiten. Denn die oben genannten Anforderungen an ihre jeweilige Energiepolitik bleiben selbstverständlich auch „nach Fukushima“ gültig: billige und zuverlässige Zulieferung mit Strom, wann immer er gebraucht wird, ist nun mal eines der wesentlichen nationalen Konkurrenzmittel. Damit aus dem Erschrecken also überhaupt eine praktische Reaktion wird, braucht es ein paar zusätzliche Bedingungen – und das erklärt auch die Unterschiede in den kapitalistischen Ländern.

Japan, als das am härtesten betroffene Land, erklärt ziemlich unmittelbar seinen festen Willen, trotz GAU und aller noch gar nicht absehbaren Folgen an seinen AKWs festzuhalten. Auch Frankreich zeigt sich ziemlich ungerührt – selbst angesichts dessen, dass seine Atomfirmen mit dem japanischen Betreiber Tepco kooperiert haben. Die französische Stromproduktion beruht zu 80% auf AKWs und ist nicht ohne große Kosten und entsprechende Exportverluste umzustellen – also hält Frankreich das deutsche Moratorium für hysterisches Getue und bleibt selbst standhaft.

Deutschland dagegen wägt ab zwischen seiner sehr dichten und industriell genutzten Besiedlung und den Schäden, die ein atomarer „Unfall“ dafür hätte, sowie den Kosten seiner weit fortgeschrittenen Stromproduktion aus Windkraft, Solarenergie usw. Die deutsche Regierung kann also tatsächlich alternative Rechnungen aufmachen – also denkt sie sich ihre bisherige Abwägung mit Kosten und Nutzen durch, „bewertet“ tatsächlich einige Risiken neu und schaltet tatsächlich ihre sieben ältesten Möhren ab. Rückwärts betrachtet liegt durchaus ein gewisses Eingeständnis über die mit aller Macht in der öffentlichen Meinung und gegen Demonstranten durchgesetzten Behauptungen von gestern, die da hießen: bei „uns“ geht es selbstverständlich um in jeder Hinsicht gesicherte naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisse, „unsere Kernkraftwerke“ sind durch stets Modernisierung auf dem neuesten Stand und gegen alle Risiken gefeit, die nationale Stromversorgung ist „alternativlos“ auf den Beitrag der Atomkraft angewiesen.

Keine ganz unwichtige Rolle in der neuen Kalkulation spielt die Überlegung, dass sich ja vielleicht jetzt, wo weltweit über alternative Energieproduktion nachgedacht wird, doch endlich der neue deutsche Exportschlager zu  seinem Recht kommt. Was in Kopenhagen noch gescheitert ist, kriegt vielleicht durch den nuklearen Super-GAU der Japaner einen neuen Schub – wer weiß!

Dem gegenüber stehen allerdings die alten schönen Rechnungen mit den AKWs, die man auch nicht leichtfertig beerdigen will. Am Ende kommen dann auch noch die lästigen Wähler ins Spiel. Wenn eine politische Neubewertung erfolgt ist, wird man sich mit Sicherheit auf „ihren Willen“ berufen, nachdem man jahrelang den Verführungen des Populismus getrotzt und die staatliche Atompolitik gegen die Abneigung der Wähler durchgesetzt und mit aller verfügbaren Öffentlichkeitsmacht auf sie eingetrommelt hat.

Man merkt also ganz klar, dass die Kanzlerin es nicht ganz einfach hat mit ihren Entscheidungen. Wie auch immer die deutsche Energiepolitik mit ihren Notwendigkeiten zukünftig verfahren wird – in jedem Fall wird es wohl begründet sein. Dafür gibt es nämlich die entsprechenden Kommissionen. Da ist erstens die Reaktorsicherheitskommission (RSK), die bereits einen "Anforderungskatalog für anlagenbezogene Überprüfungen deutscher Kernkraftwerke unter Berücksichtigung der Ereignisse in Fukushima-I (Japan)" entworfen hat – sprich: den nötigen Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und (bezahlbarer) Sicherheit mit den neuesten Daten, die der japanische GAU geliefert hat, durchkalkuliert. Und da ist zweitens die Ethikkommission, in der Kirchenleute, Philosophen und Soziologen der Kanzlerin zur Seite stehen und über „den Menschen“, seinen „unstillbaren Hunger nach Energie“ und die Risiken von „Natur“ und „Technik“ – also auf allerhöchstem Abstraktionsniveau! – diskutieren. Eine Entscheidung über die Ausgestaltung des deutschen Energiemix könnte man durch viel stirnzerfurchtes Abwägen darüber, wie viel Risiko sich unsere „Risikogesellschaft“ zumuten will, zwar nie und nimmer gewinnen. Dafür aber eine Eins-A-Demonstration gegenüber dem in Sachen Atomkraft leicht skeptischen Volk, dass Deutschland und sein Merkel es sich mit diesem Problem wirklich nicht leicht machen, dass bei der Diskussion dieser Frage nur hohe und allerhöchste Maßstäbe zu gelten haben und dass all das bei den anerkannten Autoritäten dieser Gesellschaft bestens aufgehoben ist. „Druck von der Straße“ ist also komplett überflüssig!  

Editorische Hinweise

Der Text wurde uns von dern AutorInnen für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt. Erstveröffentlicht wurde er auf deren Website: http://www.vonmarxlernen.de