Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Neue Arbeitsrechts-„Reform“
 FO und CGT rufen zum Streik der LKW-Fahrer auf

Teil 22 – Stand vom 06.Mai 2016

05/2016

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Rechtsgerichtete Polizeigewerkschaft will auf der Pariser place de la République demonstrierten, die Platzbesetzerbewegung diskutiert kontrovers über ihre Reaktion – Nuit debout in den Pariser banlieues: Polizeigewalt wichtiges Thema – Nach FO ruft nun auch die CGT zum Streik der LKW-Fahrer gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ auf

Das geplante „Arbeitsgesetz“ hat, mindestens, „Verspätung“. Dienstag, der 03. Mai und Mittwoch, der 04. Mai d.J. waren die ersten beiden Tage der parlamentarischen Aussprache zu dem Gesetzentwurf. Bislang kam die Debatte jedoch nicht über die Grundsatzdiskussion sowie den einführenden Artikel 1 des Entwurfs hinaus. Kein einziger der insgesamt 4.983 vorliegenden Änderungsanträge zum Thema wurde bislang bearbeitet. Aufgrund des gestrigen Feiertags am 05.05.16 sowie des heutigen „Brückentags“ wird die Debatte zu dem Text erst am Montag, den 09. Mai wieder aufgenommen. (Eine Abstimmung der Nationalversammlung zu dem Entwurf war bzw. ist bislang auf den 17. Mai angesetzt. Danach, so ist es geplant, soll er am 11. Juni diese Jahres in den Senat gehen, also ins parlamentarische „Oberhaus“.)

Am kommenden Montag wird es vornehmlich um den Artikel 2 gehen, welcher einen Vorrang des betrieblichen (oder eher, im einzelnen Unternehmen geschlossenen) Kollektivvertrags vor dem Branchen-Kollektivabkommen festschreibt.

Daran beißt sich die Opposition u.a. vom linken, oder sagen wir, halblinken Flügel innerhalb der – gespaltenen – Sozialdemokratie fest. Aus ihren Reihen wird vor „Sozialdumping“ innerhalb einer Branche durch „arbeitgeber“freundliche Abkommen, immer im Zeichen der Erpressung mit dem „Arbeitsplätzeargument“, gewarnt. In der Sache höchst verständlich. Allerdings möchte der Verf. dieser Zeilen dabei seinerseits vor einer „Falle“ warnen. Einen Vorrang des einzelnbetrieblichen Kollektivabkommens gegenüber dem auf Branchenebene gibt es im französischen Arbeitsgesetz nämlich bereits längst, auch wenn es in der bürgerlichen Presse der letzten Tage allem Anschein nach niemand bemerkt hat.

Und zwar seit einem Gesetz vom 04. Mai 2004, das der damalige Arbeitsminister (und spätere Premier zwischen 2007 und 2012) François Fillon auf den Weg brachte und das u.a. in Artikel L.2253-1 bis L.2253-3 des französischen Code du travail festgeschrieben wurde. Es eröffnet, unter einer Handvoll von Bedingungen, einem Vorrang der Betriebs- vor der Branchenvereinbarung Tür und Tor. Würde die Regierung also nun „großzügig“ darauf verzichten, einen solchen Vorrang im geplanten neuen Gesetz ausdrücklich festzuschreiben, diesen Artikel 2 aber einfach durch eine Leerstelle ersetzen, dann bliebe es beim bisherigen Gesetze. Damit wäre der Vorrang der einzelbetrieblichen Vereinbarungen jedoch BEREITS festgeschrieben. Dass die Debatte – sofern sie sich in den bürgerlichen Medien widerspiegelt - sich im Augenblick vor allem darum rankt, ist kein gutes Zeichen. Es droht nämlich, Schlimmeres zu vernebeln.

Was der geplante Gesetzentwurf nämlich ZUSÄTZLICH einführen möchte, ist ein Vorrang des Kollektivabkommens im einzelnen Unternehmen nicht nur gegenüber dem Branchenabkommen (das ist angesichts der bestehenden Gesetzeslage beinahe „geschenkt“!), sondern auch gegenüber den Arbeitsverträgen der Lohnabhängigen. Deren Inhalt soll nach unten hinab gedrückt werden können. Und zwar immer dann, wenn eine Kollektivvereinbarung im Namen des „Arbeitsplätze-Arguments“ abgeschlossen wird. Bislang war dies (aufgrund der Rechtssprechung sowie eines Gesetzes vom 14. Juni 2013) möglich, jedoch nur unter relativ eng gefassten Voraussetzungen, und insbesondere nur sofern es darum ging, akut bedrohte Arbeitsplätze vor ihrem Abbau zu „schützen“. (Man nennt dies „defensive Vereinbarung“.) Nunmehr wird ein solches Abkommen – unter ausdrücklichem Verzicht der Lohnabhängigen auf manche ihrer Rechte, vor allem im Arbeitszeitbereich – nach dem vorliegenden Entwurf auch dann abgeschlossen werden können, wenn es darum geht, zusätzliche Arbeitsplätze zu „schaffen“. Die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde übersetzte dies in den letzten Tagen relativ korrekt damit, dass es in einem solchen Falle darum gehe, dem Arbeit„geber“ bei „der Eroberung neuer/zusätzlicher Marktanteile“ zu helfen, also bei einer aggressiven Strategie auf Kosten der Lohnabhängigen in anderen Unternehmen. (Stichwort „offensive Vereinbarung“.) Wird ein solches „offensives“ Abkommen im Namen des hochheiligen Arbeitsplätze-Arguments abgeschlossen und weigert sich ein/e Lohnabhängige/r, mitzuspielen, dann droht ihm oder ihr künftig die Kündigung, sofern das geplante Gesetz in Kraft tritt.

Als „Zugeständnis“ an die Lohnabhängigen diskutieren sozialdemokratische Parlamentarier – ihnen voran der Vorsitzende des „Sozialauschusses“ der französischen Nationalversammlung, Christophe Sirugue, nunmehr über „Begleitmaßnahmen“ zur sozialen Abfederung solcher Entlassungen. Toll! Auf die Leute vom „Sozialausschuss“ ist, nun ja, wirklich Verlass. Und dabei wurde die Einschaltung dieses „sozialpolitischen Ausschusses“ – welcher vom 05. bis 07. April dieses Jahres tagte und den Entwurf an einzelnen Stellen leicht ent-, an anderen Stellen jedoch verschärfte (Stichwort variable Arbeitswochen auf einseitige Anordnung des Arbeit„gebers“ hin, Stichwort Erleichterung betriebsbedingter Kündigung in „Klein“unternehmen bis zu 300 Beschäftigten) – im Vorfeld noch als positive, progressive Alternative gehandelt. Regierungschef Manuel Valls wollte diesen Ausschuss nämlich zunächst „entmachten“ und ihm die Zuständigkeit für den Gesetzentwurf zum Arbeitsrecht zu entziehen. Valls plante ursprünglich, im Februar dieses Jahres, einen eigenen Extra-Ausschuss dafür einzurichten,, von dem er erwartete, dieser sei dem Entwurf gegenüber (noch) freundlicher eingestellt als die bestehende „sozialpolitische Kommission“, in welcher doch einige Expert/inn/en zum Thema sitzen, vor allem aus den Reihen der Sozialdemokratie. Dass dieser „sozialpolitisch Ausschuss“ dann doch die Zuständigkeit behielt, wurde als wichtiger Rückzieher bzw. positives Zugeständnis der Regierungsspitze erwartet. Dass von der Seite jedoch trotzdem nicht allzu viel Gutes zu erwarten ist, erweist sich nun...

Arbeitsministerin Myriam El Khomri ihrerseits argumentierte in den letzten Tagen, ihr Gesetzentwurf werde falsch interpretiert und missverstanden; er bedrohe das Günstigkeitsprinzip nicht. (D.h. die bis zum Gesetz vom Mai 2004 geltende Regel, wonach zwischen zwei Normen grundsätzlich die für die Lohnabhängigen günstigere Anwendung findet – seit dem Gesetz vom Mai 2004 gilt jedoch zwischen Betriebs- und Branchenabkommen der Vorrang des Ersteren statt des Günstigkeitsprinzips.) Denn der Gesetzentwurf räume nach wie vor dem Gesetz vor den Betriebs- und Branchenabkommen den Vorrang ein. Dies stimmt zwar, bedeutet jedoch nicht viel, denn nur wenige Bereiche des Arbeitsrechts sind ausschließlich im Gesetz geregelt. Die Tatsache, dass dem Entwurf zufolge Betriebs- bzw. Unternehmensabkommen ungünstiger (für die Lohnabhängigen) sowohl als die Branchenvereinbarung als auch gegenüber den einzelnen Arbeitsverträgen ausfallen kann, ist bei weitem schlimm genug.

LKW-Fahrer im Streik?

Eine Berufsgruppe, deren Arbeitsniederlegung ggf. beträchtliche Auswirkungen auf die Ökonomie des Landes – ja, im zugespitzten Falle gar tatsächlich eine „blockierende Wirkung“ – haben könnte, sind die LKW-Fahrer. Insofern ist es absolut nicht unwichtig, dass diese Beschäftigtengruppe nun gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ in Bewegung zu kommen scheint.

Nach der (nicht unbedingt als progressiv einzustufenden) Branchengewerkschaft des Dachverbands FO/Force Ouvrière droht nunmehr auch die Branchensektion der CGT mit einem Streik der Fernfahrer gegen die geplante „Reform“ im Arbeitsrecht. Vgl. in der bürgerlichen Presse: http://www.lepoint.fr, oder bei linken Medien: http://www.revolutionpermanente.fr

Ihr Streik könnte u.U. wirklich eine durchschlagende Wirkung haben, falls er auch noch mit einem Ausstand der Eisenbahner zusammenfallen sollte. Diese demonstrieren am kommenden Dienstag, den 10. Mai in Paris vom Montparnasse-Bahnhof aus gegen die geplanten bahninternen Zumutungen für die dortigen Lohnabhängigen, besonders im Bereich der Arbeitszeitpolitik. Ab 16 Uhr an dem Dienstag sollen sie sich zusammen mit der Platzbesetzerbewegung auf der Pariser place de la République einfinden. Und falls sich auf Unternehmensseite nichts rührt, wollen die Eisenbahner/innen erneut ab dem 17./18. Mai streiken, dieses Mal auch längerfristig. Die CGT-Eisenbahner (die innerhalb des Dachverbands CGT in den letzten Wochen eine eher rechtslastige Position einnahm und in Sachen Ausweitung der Kämpfe aufs Bremspedal trat & tritt) will dann drei Tage hindurch streiken. Andere Kräfte, wie die linke Basisgewerkschaft SUD-Rail, rufen für den Fall jedoch zu einem unbefristeten Streik auf, über dessen Fortführung dann alle 24 Stunden in Vollversammlungen beraten werden soll (grève reconductible, wörtlich „verlängerbarer Streik“). Und sie rufen dazu auf, die Rücknahme des geplanten „Arbeitsgesetzes“ mit in den Forderungskatalog der Bahnbeschäftigten zu integrieren. Bislang beschränkt dieser sich weitgehend auf bahninterne Streitpunkte.

Die Platzbesetzerbewegung ruft nun dazu auf, parallel dazu und in möglichst vielen Sektoren ab dem 18. Mai ebenfall zu „verlängerbaren Streiks“ aufzurufen und diese zu unterstützen.

Polizeigewerkschaft läuft auf dem besetzten Platz auf.. ?

Jener 18. Mai ist aber auch das Datum, zu dem eine rechtsgerichtete Polizeigewerkschaft – Alliance, Mitglied des Verbands der Gewerkschaften höherer und leitender Angestellter CFE-CGC(1) – auf die Pariser place de la République zu einer Kundgebung aufruft. Vgl. http://www.lemonde.fr/ oder http://www.francetvinfo.fr

Dabei geht es ihr einerseits darum, den „Bullenhass“ (la haine des flics) anzuprangern, den man der Protestbewegung zuschreibt, sowie die Zahl verletzter Polizisten zu denunzieren. Diese beträgt frankreichweit ihr zufolge seit dem Beginn der Protestbewegung rund 300. Allerdings muss diese Angabe – sofern sie zutrifft – mit anderen Zahlen in Relation gesetzt werden. Allein bei den beiden „Aktionstagen“ vom 28. April und 1. Mai dieses Tages gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ wurden frankreichweit zwischen 500 und 1.000 Protestierende verletzt. In der Hauptstadt Paris allein waren es rund 100, davon sechs schwere Verletzungen (unter ihnen zwei abgerissene Finger eines Demonstration). Seit dem Beginn der Proteste im März 2016 wurden in Paris laut Angaben des Medical Team der Protestbewegung bislang 340 Menschen – auf Seiten der Sozialbewegung – verletzt. Hinzu kommen oft willkürliche Festnahmen, die weniger diejenigen treffen, die etwa Glasbruch begehen (wie immer man solchen nun bewerten möchte!), sondern einfach jene, die nicht schnell genug laufen. Hinzu kommt die gezielte Repression gegen „harte Kerne“ der Sozialbewegung. In Nanterre westliche von Paris wurden insgesamt 47 Oberschüler/innen wegen Besetzungsaktionen aus der Zeit von vor den Schulferien (diese umspannten die beiden letzten Aprilwochen) polizeilich vorgeladen. 13 von ihnen wurden Ende vergangener Woche prompt in Polizeigewahrsam genommen, und Anfang der Woche begannen erste Richtervorführungen in Eilverfahren.

In Wirklichkeit ist die Position von Alliance allerdings ein wenig ambivalenter. Denn einerseits kritisiert die rechtsgerichtete Polizeigewerkschaft, die 1995 gegründet wurde, die Demonstranten oder jedenfalls die Bösen unter ihnen. Andererseits wendet sie sich auch gegen die Regierung, mit einer Kritik, die darauf hinausläuft, dass man sie nicht die Richtigen verhaften lasse und dass man die Repression besser dosieren und zielgerichteter gegen „Straftäter“ ausrichten müsse (vgl. etwa http://www.bfmtv.com/ ). Dies ist ein polizeilicher Standpunkt, trifft sich jedoch tendenziell sogar mit dem ,was auch die CGT-Police sagt – die den Demonstrationen grundsätzlich eher freundlich gesonnen gegenüber steht, jedoch auch ihren Dachverband wg. zweier polizeikritischer Plakate (vgl. unseren Teil 21) kritisiert, vgl. http://www.lefigaro.fr/f - Im Hintergrund steht dabei bei ihr tendenziell die Mutmaßung, hinter den Glasbrechern stünden gezielt eingesetzte Provokateure, weshalb man die Repression von der Masse der Protestierenden weg- auf diese umlenken müsse. Nun ist die Wirklichkeit jedoch reichlich komplizierter; es gibt (mutmaßlich bezahlte) Provokateure, das Medical Team berichtet etwa über Fälle, hinter denen Leute Wurfgeschosse auf die Polizei richten und kurz darauf die Seiten wechseln und hinter deren Reihen verschwinden. Es gibt jedoch auch einen wachsenden Unmut bei vielen v.a. jungen Menschen, in Anbetracht der Repressionserfahrungen seit März dieses Jahres, der sich manchmal auf diverseste Weise Bahn bricht. Und es gibt auch politische Aktivistenkreise, die tatsächlich daran glauben, ein politischer Sieg gegen Staat & Kapitel werde über einen militärischen Sieg gegen die Polizei erreicht (was allerdings aussichtslos und eine Illusion sein dürfte, man muss sich zweifellos vor einer „Militarisierungsfalle“ hüten!). In Anbetracht dieser Komplexität dürfen wir uns solche Versuche eines Plädoyers für die „gute“, „richtige“ Repression sicherlich nicht zu eigen machen. Auch wenn sie von der CGT-police kommen.

Sei es, wie es sei: Dass die rechtsgerichtete Gewerkschaft Alliance nun (am besagten Datum 18. Mai, ab zwölf Uhr mittags) ihrerseits die place de la République besetzen und von dort aus demonstrieren möchte, wird in breiten Kreise als (r)echte Provokation gewertet. Am gestrigen Donnerstag Abend – 05. Mai – debattierte die Vollversammlung, die mit 1.000 bis 1.500 Teilnehmenden mittelgroß ausfiel, lange und hitzig darüber. Die Positionen reichten (an den beiden Extremen) von „Wir müssen mit den Polizisten fraternisieren, wir können sie für unsere Sache gewinnen und gemeinsam mit ihnen gegen die Regierung demonstrieren“ bis hin zu der Vorstellung, den Platz mehr oder minder militärisch zu halten. Dazwischen lag eine ganze Masse von Vorschlägen und Konzepten, vom friedlichen Sit-in auf dem Platz über Protesttransparenten am Rande, über die Idee eines oder mehrerer ,Die-ins’ (mit Hinlegen von Personen, die sich zuvor mit blutroter Farbe bemalen) entlang der Demonstrationsroute der Polizeigewerkschaft. Manche schlugen auch vor, den Auflauf einfach „zu ignorieren“, um „nicht in die Falle zu laufen“, und am Abend des Tages einfach auf den Platz zurückzukehren. Diese Debatte ist derzeit absolut nicht abgeschlossen...

Polizeigewalt Thema in den banlieues

Am vergangenen Mittwoch, den 03. Mai hatte der Verfasser beschlossen, einmal mehr - nach einem jüngsten Abstecher in Malakoff südlich von Paris - einer Nuit debout-Versammlung einer der Pariser banlieues (Vor- oder Trabantenstädte) beizuwohnen. Dieses Mal fiel die Wahl auf das geradeaus nördlich von Paris gelegene Saint-Denis.

Dort hatten sich am 13. April erstmals rund 400 Menschen zu einer „wachen Nacht“ getroffen. Damals fiel die Mobilisierung zusammen mit einer Besetzungsaktion von Eltern in zahlreichen Schulen der Stadt, gegen Unterrichtsausfälle durch die Nicht-Ersetzung von Lehrkräften und allgemein gegen die Vernachlässigung des Départements (d.h. des ärmsten Verwaltungsbezirks in Frankreich, ohne Überseegebiete, neben dem ländlichen Armutsraum Limousin). Doch in den folgenden Wochen erlahmte die Mobilisierung ein wenig. Dazu trug bei, dass der Verdacht einer Verbindung mit dem – von, vereinfachend ausgedrückt, „Reformkommunisten“ geführten – Rathaus von Saint-Denis aufkam. Dieses liegt räumlich direkt neben dem Versammlungsort, im Schatten der Basilika der Stadt (dort liegen Generationen französischer Könige beerdigt). Eine Anmelderin der ersten „Nacht“-Kundgebung am 13. April war zudem als Angestellte im Rathaus beschäftigt, und der Einfachheit halber hatte man dieses um die Zur-Verfügung-Stellung von Schirmdächern gebeten. Doch das Gerücht einer vorgeblichen Abhängigkeit vom Rathaus schadete der Protestbewegung. Darauf reagierte diese nun, indem sie an diesem Mittwoch gänzlich auf jegliche Hilfe auf dem Rathaus, auch rein materieller Natur, verzichtete.

Als ich eintreffe, kommt zur Theorie bereits die Praxis hinzu: Rund 200 Menschen drängen sich am Eingang der Basilika, um diese zu besetzen. Es geht darum, den Protest von Wohnungslosen aus der Stadt zu unterstützen. Zu ihnen zählt eine Gruppe von Menschen, die bis zum 18. November 2015 in Sozialwohnungen (zum Teil wohl auch in squats) in einem relativ heruntergekommenen Gebäude in der 48, rue du Corbillon in Saint-Denis lebten. An jenem 18. November 2015 kam es jedoch zur Erstürmung des Gebäudes durch Eliteeinheiten der französischen Polizei, weil sich einer der Teilnehmer – sogar der führende Kopf – der Pariser Mordattentate vom 13. November des Jahres nebst Komplizen dort verschanzt hatte. Die Polizei nahm keine Rücksicht auf Verluste, sondern hielt mit der Bleispritze drauf, was das Zeug hielt. 5.000 Schuss Munition wurden binnen weniger Stunden abgefeuert. Dabei wurden auch die Wohnungen einer zweistelligen Zahl von Menschen schlichtweg zerstört. Das Hauptproblem ist jedoch, dass ihnen bis heute keine Ersatzwohnungen angeboten wurden, sondern sie in provisorischen Behelfsunterkünften hausen müssen.

Die Besetzung eines historischen Orts wie der Basilika ist natürlich dazu geeignet, Aufsehen auch über den Platz hinaus zu erwecken. Nach einer halben Stunde trifft jedoch die Bereitschaftspolizei (CRS) ein, um drei oder vier Zivilpolizisten der BAC (Brigades anti-criminalité) zu entsetzen. Diese hatten sich hinter der Kirchentür verbarrikadiert, um das Eindringen weiterer Protestierer/innen – fünf bis sechs Menschen befanden sich innerhalb des Kirchenraums – zu verhindern. Die Polizei (CRS) fährt ihre Schilde aus, drückt die Menschen vor der Kirchentür zur Seite. Doch ein erster Anlauf scheitert, die Menschenkette ist stärker, und die Polizeibeamten ziehen ab. Doch nach zwanzig Minuten kommen sie mit Verstärkung wieder. Nun gelingt es ihnen, die Kette zu reißen. Wer nicht freiwillig weicht, fliegt auf allen Vieren die Treppe vor dem Eingang zur Basilika hinunter. Nach weiteren zwanzig Minuten ist alles vorbei. Doch Dutzende von Einwohner/innen haben sich rund um den Schauplatz gesammelt.

Danach fährt die Nuit debout-Veranstaltung im Sitzen fort. Gezeigt wird ein Film über Polizeigewalt, mit einer Einführung von Amal Bentounsi, die sich sehr zu diesem Thema engagiert, auch auf der PARiser place de la République. Ihr Bruder wurde am 21. April 2012 in der Pariser Vorstadt Noisy-le-Sec durch die Polizei erschossen. Er war ein mehrfach vorbestrafter Urheber von Eigentumsdelikten, doch wurde er von hinten in den Rücken erschossen und nicht „in Notwehr“ – wie der polizeiliche Todesschütze behauptete. Letzterer wurde dennoch vor einem halben Jahr gerichtlich freigesprochen, nachdem auch die Staatsanwaltschaft in der Verhandlung eine fünfjährige Haft (mit Bewährung) sowie eine Verpflichtung zu psychiatrischer Behandlung gegen ihn beantragt hatte. Dieses Skandalurteil, so sehen es jedenfalls viele, regte viele zu weiterem Engagement an.

Polizeigewalt, Rassismus und ähnliche Themen sind hier in Saint-Denis noch stärker prägende Themen der Platzbesetzung, als in der Pariser Kernstadt. Knapp 100 Menschen bleiben bis kurz vor Mitternacht.

Mindestens fünfzehn Pariser Vorstädte haben inzwischen ihre eigene Nuit debout. Als nächste plant nun auch Nanterre, am kommenden Wochenende ihre erste Platzbesetzungsveranstaltung zu organisieren.

1) Die CFE-CGC ist ein eigenständiger Dachverband. Über fünfzig Prozent seiner Sympathisant/inn/en stimmen traditionelle für die bürgerliche Rechte, es handelt sich also um keinen ausgesprochen linken oder progressiven Verband. Allerdings legt die CFE-CGC bisweilen bei Streitpunkten, die seine eigene Klientel betreffen, eine gewisse Radikalität an den Tag – denn die höheren Angestellten sind von der Auspressungspolitik und Jagd nach maximaler „Produktivität” in den Unternehmen sowie extrem ausgedehnten Arbeitszeiten besonders betroffen. Am Dienstag, den 03. Mai veranstaltete die CFE-CGC in der Nähe der französischen Nationalversammlung eine eigene Kundgebung gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ mit einigen hundert Teilnehmer/innen – in Sicht- und Hörweite der in Nummer 21 unserer Serie erwähnten Protestkundgebung u.a. der CGT und der Union syndicale Solidaires, jedoch getrennt von ihr. Zur Letztgenannten hatten neben der CGT und SOlidaires auch FO und die FSU (Zusammenschluss von Bildungsgewerkschaften) aufgerufen.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.