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Quelle: zoom 1/99

Ein anderer Weg zur Auslöschung
Die Kolumbianisierung des Chiapas-Kopflikts

von Carlos Fazio

05/99
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Entgegen dem, was die offizielle Propaganda verkündet, führt die militärische Belagerung zum Zwecke der Aufstandsbekämpfung durch die Regierung von Ernesto Zedillo im Bundesstaat Chiapas zu einer militärischen Lösung des Konflikts, der den mexikanischen Staat bereits seit mehr als vier Jahren mit der zapatistischen Guerilla konfrontiert.

Seit dem 9. Februar 1995, als Regierungstruppen weit über die zapatistischen Bastionen im Gebiet von Las Cañadas und im Lacandonen-Urwald vorrückten, "um den Subkommandanten Marcos gefangenzunehmen", hat das Militär unter der Beratung des nordamerikanischen Pentagon den Krieg vollständig unter Kontrolle gebracht.

Die Streitkräfte erholten sich mit dieser Vorgangsweise von dem schweren Fehler des Militärgeheimdienstes, der im Mai 1993 und schon davor seine Strategen dazu brachte, die Gruppe, die in Chiapas im Untergrund bereits aktiv war, als einen kleinen bewaffneten Herd anzusehen, den man auf einem beschränkten Gebiet ausfindig gemacht hatte und den man deshalb auch innerhalb kürzerster Zeit auslöschen könnte.

Genaugenommen handelte es sich nach den zwölf Kampftagen im Jänner 1994 um einen doppelten Weg: den der militärischen Einschließung und Verfolgung einerseits und den des Dialogs andererseits besiegelt durch die Abwesenheit von Schüssen, eine situationsbedingte bewaffnete Feuerpause, zu der sich die Regierung gezwungen sah, weil das Militär nicht darauf vorbereitet war, einen Krieg zu führen, wie die Zapatisten ihn vorgesehen hatten: mit Massen armer Indigenas, in Hunderten von kleinen Gemeinden versammelt und in einem weitläufigen Gebiet verstreut; nicht nur in vier Ortschaften, wie das die offiziellen Verlautbarungen wiederholt betonten.

Seit der Offensive im Februar 1995 richtete das Militär seine Stellungen in dem Gebiet neu ein und begann mit dem ABC der Aufstandsbekämpfung: aus dem Aquarium das Wasser lassen, das heißt, die EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) zu isolieren von ihren Basen der zivilen Unterstützung.

Dazu bediente man sich der psychologischen Kriegsführung – oder der Militarisierung des ideologischen Kampfes –, der Sammlung von Geheimdienstinformationen, der zivilen Arbeit – eine militärische Vorgangsweise zur öffentlichen Wohlfahrt, besser bekannt als das klassische "Zahnziehen" - und der so bezeichneten Kontrolle von Siedlungen, die im Fall von Chiapas unter Kriegsvertriebenen und internen Flüchtlingen stattfand, unter denjenigen, deren traumatische Erfahrung von Verwundbarkeit und Terror mit dem Zweck ausgenutzt wurde, sie zu neutralisieren oder zusammenzuschließen, um sie dann in einen internen Gegenpart zu verwandelt, der die Stärke der zapatistischen Bedrohung "ausgleichen sollte".

Diese Art des außerordentlichen, nicht konventionellen Krieges, die vorher von den USA in Vietnam und von den Kaibiles in Guatemala angewandt worden war, ändert den Charakter des Konflikts, der sich in die Länge zieht und zermürbend wirkt. Der Schwerpunkt ist nicht mehr das Schlachtfeld an sich, sondern die politisch-soziale Arena. In dieser Phase war es deshalb ein "Krieg der Kommuniqués und des Internets" wie sich der ehemalige Kanzler und jetzige Finanzminister José Angel Gurría zu propagandistischen Zwecken ausdrückte, als die Regierung versuchte, nach außen hin das Bild zu verkaufen, sie sei an einem "gerechten und würdigen Frieden" mit den Aufständischen interessiert.

Wenn es sich auch nur um eine halbe Wahrheit handelte, so bestand für das Militär die Priorität darin, Zeit zu gewinnen, um auf das Verhalten der Zivilbevölkerung und des zapatistischen Feindes mit dem Vorhaben Einfluß zu nehmen, ihre "Verwundbarkeit" auszunutzen: ihre Angst, Not und Enttäuschungen. Das Ziel bestand darin, in dem Gebiet eine aktive Unterstützung verschiedener Teile der Bevölkerung unter zapatistischem Einfluß zu erhalten (die entschlossene Beteiligung von Viehzüchtern, Kaffeepflanzern, der Kirchen etc.) und das geeignete Klima zu schaffen, paramilitärische Gruppen mit indianischen Rekruten entstehen zu lassen, wie "Justicia y Paz", "Los Chinchulines", "Máscara Roja" und ein weiteres Dutzend Todesschwadrone, deren Auftauchen haargenau der Logik der Aufstandsbekämpfung entspricht.

Parallel dazu leitete die Regierung Geldmittel in Millionenhöhe um, damit die "offizielle Wahrheit" aufgebaut wird, indem man in den Medien mit beträchtlicher manichäischer Anstrengung Daten fälschte und verzerrte (Freund-Feind, schwarz-weiß, Ausländer-Indio), die im vergangenen Februar mit einer Fernsehinszenierung im Zapatistendorf La Realidad zu ihrem Höhepunkt gelangte, bei dem die Fernsehsprecherin Lolita de la Vega von TV Azteca und der Hubschrauber der Landesregierung von Roberto Albores die Hauptrolle spielten.

Die xenophobe und chauvinistische Kampagne gegen die Menschenrechtsbeobachter, gegen die Presse und ausländische Intellektuelle sind andere Variablen der auf dem repressiven Weg aufgezwungenen "Wahrheit Zedillos", wie es gerade jetzt mit den Militäreinsätzen gegen die autonomen Gemeinden der zivilen zapatistischen Basen (Taniperlas, Aguatinta) unter dem Vorwand geschieht, daß die lokalen Behörden versuchen, "den Rechtsstaat in Chiapas wiederherzustellen".

Aus der Perspektive der Aufstandsbekämpfung muß man die Diözese von San Cristóbal und ihre Bischöfe Samuel Ruiz und Raúl Vera als "Staatsfeinde" festmachen, die vom Innen- und vom Verteidigungsministerium wiederholtermaßen beschuldigt worden sind, "Mitglieder" der EZLN zu sein; im Fall einer Wiederaufnahme der Verfolgung werden sie dadurch zu militärischen Zielen mit einer permanenten Variable: Sühneopfer zu sein, wenn die Notwendigkeit des Krieges dazu führt, sich eines destabilisierenden Attentats zu bedienen, wie das kürzlich in Guatemala mit der Ermordung von Monsignore Juan Gerardi geschehen ist.

Wie eine geölte und mächtige, autonome Kraft tauchte in diesem Zusammenhang das Militär auf, das die politischen Angelegenheiten den militärischen unterordnet und die offiziellen Standpunkte und Zeitpunkte im Chiapaskonflikt vorgibt.

Derzeit, seit dem Modell schneller Verhandlungen und minimaler Konzessionen – gegenüber dem zapatistischen Bedürfnis nach langen Verhandlungen, die in den Ursachen des Konflikts wurzeln –, bereiten die Befehlshaber der Aufstandsbekämpfung einen neuen Plan vor, den Präsident Zedillo anführt. Einige Kommentatoren schreiben das fälschlicherweise dem "Ideologen" Adolfo Orive zu, einem ehemaligen prochinesischen Linken, der sein Büro im Innenministerium aufgeschlagen hat. Der Plan besteht darin, der EZLN ein neues "Angebot" zu unterbreiten: Man erkennt sie als bewaffnete Gruppe von 300 Mann an, aber man ist lediglich dazu bereit, mit ihnen in ihrer Funktion als "reale militärische Kraft" zu verhandeln. Ein Projekt, das die indigene Bewegung auseinanderzutreiben sucht und die Verhandlungen zum alten bürokratischen Modell zurückführt, das der von Carlos Salinas beauftragte Manuel Camacho während der Dialoge der Kathetrale (1994) angewandt hat. Man behandelt die EZLN als fordernde, bewaffnete und maskierte Bewegung, aber man erkennt ihren Status als kriegsführende Partei nicht an. Was ihre Forderungen betrifft, so bleiben sie am Rand der Tagesordnung und werden von der Regierung von Fall zu Fall "gelöst".

Der Start zur letzten Phase der Strategie war am 22. Dezember 1997 das Massaker von Acteal, als paramilitärische, der Regierungspartei PRI (Partido Revolutionario Institutional) zugehörige Gruppen unter Deckung und mit Ausbildung des Militärs 45 Tzotziles-Indianer rückligs niedermetzelten, während diese in einer Wallfahrtskapelle kniend beteten.

Der kriminelle Schlag gegen eine Gemeinde von Kriegsflüchtlingen der Gruppe "Las Abejas" (es waren keine zapatistischen Basen, sondern christliche, demokratische, gegen die Großgrundbesitzer gerichtete Anhänger eines Verhandlungswegs) war eine unverkennbare Kriegshandlung, begangen, um in der Bevölkerung Schrecken zu verbreiten. Ein zweites Ziel bestand darin, dem Militär in den Gebieten unter zapatistischem Einfluß eine Neupositionierung zu verschaffen. Das Oberkommando hat die Region innerhalb von drei Tagen mit Kampfeinheiten überschwemmt und um die autonomen Gemeinden und in einigen Gebieten "Vernichtungsringe" eingerichtet, in denen der Geheimdienst die Mehrzahl der Guerillaelite vermutete (La Realidad, im Lacandonen-Urwald; im Gebiet Las Cañadas, Ocosingo, Altamirano und Marqués de Comillas). Der Ring hat sich geschlossen.

Mitten in der Propaganda folgt der neu entfachte offizielle Diskurs einem Muster, der darauf hinausläuft, den Status und die Handlungsträger des Konflikts zu ändern. Acteal war das Produkt eines "alten" Konfliktes "innerhalb der Gemeinden" mit "religiösem" Anschein, urteilte innerhalb von zwei Tagen Justizminister Jorge Madrazo.

Scheinbar hörten die Regierung und das Militär in diesem Szenarium auf, Teil des Konflikts zu sein. Sie präsentierte sich als Vermittler in einem "Krieg", der sich innerhalb verschiedener irregulär bewaffneter Gruppen abspielte. "Die EZLN ist die größte paramilitärische Gruppe in Chiapas", sagte Zedillo in Venezuela, indem er das Gesetz vergaß, dem er 1995 zugestimmt hatte, wo er sie als "überwiegend indianische Gruppe, die ihr Mißfallen erklärt hat", bezeichnet hat.

Die Paramilitarisierung des Krieges, schon früh im Jahr 1996 angekündigt, wurde von General Mario Renán Castillo aufgebaut, dem ehemaligen Kommandanten der VII. Militärzone in Chiapas, der im Fort Bragg, USA, einen akademischen Titel in psychologischer Kriegsführung erhielt. Zusammen mit der Fuerza de Tarea Arcoiris (einer Lufteinsatz-Elitetruppe, den nordamerikanischen Green Barrets vergleichbar) führte Castillo den Plan Chiapas 94 des Verteidigungsministeriums durch, der empfahl, "Selbstverteidigungsgruppen" zu bilden, das heißt, indigene paramilitärische Kräfte, die damit betraut sind, das Gebiet vom "Schrecken und Einfluß" der Zapatisten zu säubern.

Die gegenwärtige Terrorpolitik der Regierung nimmt sich vor, die Kräfte im Kampf "auszugleichen" und ein revolutionäres Phänomen mit tiefen sozialen Wurzeln in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. Das hat einen zusätzlichen Vorteil: Man schafft einen mexikanischen "Gegenpart", damit dieser gegen die EZLN kämpft, und er dient dem Militär als ideales Alibi, das so die politischen Kosten, den "schmutzigen Krieg" direkt anzuführen, nicht selbst tragen muß.

Den Rest macht die Propaganda: Das Militär, das bis zum Massaker in Acteal als Teil des Konflikts und als Kraft der Unterdrückung und Eindämmung auftrat, hat sich in eine "neutrale" und sogar "versöhnende" und "schiedsrichterliche" Kraft verwandelt, was die Streitkräfte auf einem glitschigen Abhang positioniert: Sie verstehen sich als "Retter des Vaterlands", ein Syndrom, das bei manchen Streitkräften in der Region noch immer vorhanden ist.

Vier mögliche Lösungen

Die gegenwärtige Offensive der Regierung in Chiapas, die sich einseitig auf Gewalt, politische Maßnahmen und auf einen intensiven Einsatz von Propaganda stützt, erlaubt die Vorraussage von vier möglichen Szenarien:

  1. Der sogenannte "30-Stunden-Ausweg". Er deutet auf einen Plan zur Auslöschung der Kommandantur der EZLN innerhalb dieses Zeitraums hin. Die chirurgische Vorgangsweise nach dem Modell "Entebbe", die einer Gruppe von "harten" Generälen zugeschrieben wird, die dem Kabinett der Seguridad Nacional angehören, würde auf der Grundlage funktionieren, daß die EZLN "den ersten Schuß abgebe".

    Die Truppenverlegungen folgten nach Acteal der Taktik, bis in die Berge in die Rückzugsgebiete der Guerilla vorzustoßen, und die Soldaten traten mit den Milizangehörigen und den zapatistischen Elitetruppen in "Blickkontakt", während spezielle Lufteinsatzkommandos (die neuen GAFE-Einheiten des Militärs) die Gebiete durchkämmten, wo die Verstecke des geheimen indigenen Kommandos vermutet werden. Die Vorkehrungen sind getroffen, und die Generäle in Chiapas warten nur auf den Einsatzbefehl; in diesem Fall wäre es nicht schwer, eine Provokation vorzubereiten und der EZLN den "ersten Schuß" zuzuschreiben.

  2. Die einseitige Verfügung, den Konflikt durch die Annahme des sogenannten "Zedillo-Gesetzes" für indigene Angelegenheiten zu beenden. Scheinbar festgefahren, würde diese Lösung, angereichert mit Werbespots und Regierungspropaganda in der Presse, auf die Wohltaten des präsidentiellen "Friedens" und auf die unterschwellige, gelenkte Vorgangsweise Nachdruck legen, daß sich "die EZLN nicht an den Verhandlungstisch setzen will". Diese Lösung würde mit einem Millionenprogramm daherkommen, um mit den "Gründen" (wirtschaftlichen, sozialen und politischen) aufzuräumen, die zum indigenen Aufstand geführt haben, und eine Amnestie aller paramilitärischen Gruppen beinhalten.

    Da man sich ausrechnet, daß die EZLN nicht akzeptieren würde, als paramilitärische Kraft zu gelten, träfe die Amnestie nur die bewaffneten Banden der PRI. Gleichzeitig würden die Zapatisten durch die automatische Aufhebung des "Gesetzes zur Eintracht und Befriedung" neuerlich als "Delinquente" gelten, denen gegenüber sich die Regierung rechtlich verpflichtet sähe, sie zu verfolgen oder ihnen gewaltsam gegenüberzutreten, womit die Regierung die militärische Lösung neuerlich legitimiert sehen würde.

  3. Die Option der "Relativierung und Verlängerung der Sackgasse". Das bedeutet, daß die Sachen so bleiben, wie sie sind, undefiniert, aber mit einer militärischen und politischen Wechselbeziehung, die die Regierungsseite mit der Kontrolle über Chiapas beläßt.

    Das ist eine Stufe, auf der die Regierung an der Spaltung der indigenen Bewegung weiterarbeiten würde, indem sie sich staatlicher Mittel bedient, um die Führer der sozialen und politischen Organisationen und unabhängige Gewerkschafter miteinzuschließen, während sie die günstige Gelegenheit der Wahlen ausnutzt (in diesem Jahr finden in Chiapas Lokalwahlen statt), um die Widersprüche zwischen den Zapatisten und der PRD (Partido Democrático Revolucionario) zu vergrößern.

  4. Ein "Prozeß der Kolumbianisierung" in Chiapas. Das heißt, es zwingt sich die Logik der unkontrollierten paramilitärischen Gewalt auf, die alle politischen Räume zunichte macht – ein "Szenarium des Chaos", das den Gruppen an der Macht zugute kommt, die hinter dem aufsehenerregenden Mord an Luis Donaldo Colosio stehen, die vor dem entscheidenden Wahlkampf im Jahr 2000 aus der "Wahl der Angst" abermals Kapital schlagen könnten, durch die bereits Ernesto Zedillo an die Macht gelangt ist. Ein Szenarium, das mit den ersten beiden zusammen auf lange Sicht eine größere direkte Verflechtung des Pentagon ermöglichen würde, wie es in Kolumbien bereits der Fall ist.

Carlos Fazio

Carlos Fazio, geb. in Montevideo, lebt als Journalist und Schriftsteller in Mexiko-Stadt und gilt als einer der angesehensten Kommentatoren politisch-strategischer Angelegenheiten Lateinamerikas.

Jüngste Veröffentlichungen:

  • Samuel Ruiz, el caminante (1994),
  • El tercer vínculo. Desde la teoría del caos a la teoría de la militarisación (1996).

Der Beitrag erschien in "Le Monde Diplomatique" 12/98, mexikanische Ausgabe, und wurde übersetzt von Georg Oswald.

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