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Visionen eines Kriegtreibers
Stichworte für den "Fischer-Plan" zur Zerschlagung Jugoslawiens?
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T940420.185 TAZ Nr. 4293 Seite 10 vom 20.04.1994
Daniel Cohn-Bendit
Zwei Jahre Verbrechen auf dem Balkan, und Europa ist immer noch in   manisch-depressiver Untätigkeit gefangen Was haben wir getan!


Es scheint so, als würde Bosnien oder, besser gesagt, die militärisch- politische Durchsetzung großserbischer Träume zum Seismographen der europäischen Stimmungslage am Ende des Jahrhunderts. Wie ist es zu verstehen, daß wir seit nunmehr fast zwei Jahren in einer manisch-depressiven politischen Verfassung die schrecklichen Verbrechen auf dem Balkan erleben, verdrängen und vergessen? Europäische Politiker, die europäische öffentliche Meinung und die überwiegende Mehrheit der Menschen in Europa verfolgen in einem selten erlebten Einklang das Ballett der Ereignisse und speisen diese so in ihren Gemütszustand ein, daß sie sich an jedem Strohhalm festhalten, um eine erneute Vertiefung depressiver Stimmungen zu verhindern.

Die Herren Milosevic, Karadzic, Mladic planen, organisieren und exekutieren ihre ureigensten Träume, die uns als Alpträume erreichen, mit denen wir sichtbar weder politisch noch gesellschaftlich fertig werden können. Wir registrieren die Opfer, zählen die Vergewaltigten, sammeln Waisenkinder auf, behandeln einige Verletzte, kritisieren kroatische nationalistische Töne und Taten, und insgeheim hoffen wir, daß die Muslime endlich einsehen, daß ihre Lage zwar verzweifelt und dies sicherlich mehr als ungerecht ist, aber daß sie endlich damit aufhören, um Hilfe zu rufen, vor allem, daß sie aufhören, sich zu wehren, und daß sie als Opfer, wie gedemütigt und geschändet auch immer, endlich ein Einsehen haben mit unserer gebeutelten Befindlichkeit und diesen Krieg beenden.

Es ist nicht mehr nachvollziehbar, wie wir auf Ereignisse wie Gorazde reagieren. Gestern waren sie die Größten, die UNO-Nato-Helden, die Herren Rose, Akashi und wie sie alle heißen mögen, denn es hat doch mit Sarajevo wunderbar geklappt. Und die Profipolitiker schubsen uns, die "Kriegstreiber", in die Ecke der hirnlosen Moralisten, die schön mäkelten: "Spät, spät, ... hoffentlich nicht zu spät ..." Denn sie, die großen Kinkel, Clinton, Kosyrew, Hurt und Juppé hatten's doch gebracht. Sie haben zwar gewartet, gezögert, aber diplomatisch strukturiert, organisiert, geschlichtet und gebündelt, um endlich in Sarajevo die Früchte ihrer politischen Bemühungen zu ernten. Zum Nulltarif, mit wenig Einsatz, nach schwierigen, ja, auch zugestanden: deprimierenden Verhandlungen, war es endlich soweit. Bis ... bis ... bis die Jämmerlichkeit einer Politik, die Entscheidungsunfähigkeit von Politikern einen Namen erhielt, ein Gesicht, eine Farbe, einen Geruch: Gorazde. Und schon sind wir, nach der manischen Hochphase Sarajevo, wieder depressiv, hilflos. Da kommentiert eine große Zeitung: "Den Serben nicht gewachsen: ... Überhaupt hat man den Eindruck, als seien die westlichen Vermittler dem Serbenführer Karadzic und seinem Patron in Belgrad nicht gewachsen" (FAZ, 19. April 1994).

Man hört und staunt. Die Weltgemeinschaft soll einem isolierten, sogar von seinem Beschützer Rußland nicht mehr verstandenen, durchgeknallten Haufen nicht mehr gewachsen sein. Aber warum? Weil die Serben wissen, wofür sie kämpfen, die Bosnier zwar, wofür sie sterben, aber wir nicht, wie man Leben verteidigen muß oder wenigstens, uns nicht dazu entschließen können. Manchmal hängt die Weltgeschichte vielleicht nur an einem seidenen Faden. Denken wir uns, General Morillon wäre anstelle von Sir Rose noch als Oberkommandierender in Sarajevo in Amt und Würden, und er hätte erneut seine "Ich beschütze Euch"-Nummer in Gorazde inszeniert. In seinem Troß CNN, ein paar Fotografen und Journalisten. Dann hätten wir nicht nur diese unerträglichen Bilder serbischer Generäle mit Feldstechern, serbische Kanoniere und serbische Panzer gesehen, sondern auch die Opfer, die Menschen in Gorazde. Wir hätten gesehen, daß dort einige hundert Männer, Frauen und Jugendliche, wie einst im Ghetto von Warschau, gegen den "unabwendbaren" Gang der Geschichte sich auflehnen.

Wir hätten gesehen, daß, wie einst im Ghetto von Warschau, sie kaum noch Munition und Waffen haben, um zu kämpfen. Wir hätten die panischen Augen von Kindern gesehen, die uns fragen: Warum? Dann hätte kein UNO-Vermittler, kein Politiker, keine Weltöffentlichkeit den Gang der Dinge aufhalten können, denn diese Bilder hätten die Welt erschüttert, die Nato-Flugzeuge hätten über Gorazde nicht umgedreht, sondern ihre Ziele gesucht, gefunden, und schon wären wir von unserer Depression befreit worden.

Man muß sich vorstellen, worum es in Gorazde geht. Die Serben brauchen eine Straße, um nicht den Umweg über Montenegro fahren zu müssen, um ihre Nachschublinien und Verbindungen von einem Teil Serbiens zum anderen Teil Serbiens organisieren zu können. Wegen dieser Straße nahmen sie 100.000 Menschen als Geiseln. Aber, Schwamm drüber. Gorazde wird vergessen, und es gibt ja nur noch zwei, drei Enklaven. Das bedeutet leider für uns einige weitere penible Tagesthemen und Brennpunkt-Sondersendungen, aber das Ende ist schon in Sicht. Und all diejenigen, die seit Jahren zynisch vom Ausbluten sprechen, fühlen sich bestätigt, "es war nichts zu machen".

Was haben wir gemacht? Es gibt in Bosnien eine weiße, blauhelmgeschmückte Besetzung des Landes. Wir ernähren seit Anfang des Krieges sowohl die Opfer als auch ihre Henker. Kein Bauer in Bosnien kann auch nur eine Kartoffel auf dem Markt verkaufen. Sie hängen alle an unserem Tropf. 50 Prozent der Hilfsmittel werden von serbischen Freischärlern und der serbischen Armee für den eigenen Gebrauch beschlagnahmt. Wir haben mit unserer unentschiedenen Politik wahrscheinlich den Krieg verlängert. Wir haben zu viel geholfen, um die Serben nicht schnell genug gewinnen zu lassen, und wir haben zu wenig geholfen, um die Serben letztlich daran zu hindern, zu gewinnen. Wie immer, in Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Diese Binsenwahrheit stellt uns vor eine quälende Entscheidung, die wir jetzt nur noch, bewußt oder unbewußt, treffen müssen. Entweder zwingen wir die Bosnier, die weiße Fahne zu hissen, brechen jegliche Unterstützung, sei es humanitäre, politische oder militärische, ab und akzeptieren die von Karadzic diktierten Bedingungen eines Vertrages von Pale. Gleichzeitig verpflichten wir uns, in Europa alle Männer, Frauen, Kinder, Krüppel und wahnsinnig gewordenen Bosnier als Flüchtlinge aufzunehmen, die in einem Homeland Bosnien nicht leben wollen.

Oder wir denken das Undenkbare, erinnern uns, daß Zivilisation einen Preis hat, und stellen Karadzic und Milosevic ein Ultimatum. Die UNO-Truppen werden aus Bosnien abgezogen, das Waffenembargo für Bosnien wird aufgehoben, und die Nato übernimmt die militärische Aufgabe, per Luftangriff die Serben zu zwingen, einen Teil der eroberten Gebiete zurückzugeben. Unsere Superdiplomaten setzen sich an einen Tisch mit den Russen, vereinbaren verbindlich als Diktat eine neue Landkarte in Bosnien, teilen diese Karte den Kriegsparteien mit und führen nach 48 Stunden, wenn es notwendig ist, diesen Plan militärisch aus.

Die Bosnier müssen ein Territorium erhalten, das lebensfähig ist, auch wenn - und das sage ich, weil ich weiß, daß eine Geschichte von zwei Jahren politischer Mittelmäßigkeit nicht zurückzudrehen ist - ein Teil der serbisch-ethnischen Eroberungen dafür anerkannt werden muß. Als erstes wird dann von der Nato Pale bombardiert. Und hier wären wir an dem Punkt angelangt, an dem mich die meisten für verrückt erklären. Europa ruft alle Serben in Uniform dazu auf zu desertieren, und es wird ihnen garantiert, daß sie in Europa Schutz und Unterstützung für sich und ihre Familien bekommen. Die westlichen Medien werden dazu aufgefordert, per Satellit Sondersendungen in serbischer Sprache über die Realität des Krieges zu vermitteln. Schließlich soll die russische Führung integriert werden in diese Kampagne, damit sie den Serben signalisiert, daß ihnen jegliche Unterstützung entzogen wird, wenn sie nicht auf die Bedingungen eingehen.

Die Bombardierung von Pale würde sicherlich schreckliche Folgen haben. Aber ich glaube nicht, daß die Verblendung in der serbischen Bevölkerung und in der serbischen Armee einer solchen Entschlossenheit standhalten würde. Ich verlange von keinem Politiker, daß er sich für die zweite Möglichkeit entscheidet. Aber ich verlange von denjenigen, die gewählt wurden, um zu entscheiden, daß sie uns sagen, für welche der Alternativen sie plädieren oder was sie sonst für Vorschläge haben. Daß sie uns bloß nicht erzählen, daß alles sehr kompliziert sei! Ich verlange von den Medien, daß sie klar Position beziehen, damit die Menschen in Europa selbst zu einer Entscheidung kommen. Wir müssen raus aus unserer manisch-depressiven Lähmung. Entweder - oder.

Es gibt Situationen in der Geschichte, wo man das Schreckliche beenden muß, indem man Schlimmes tut, um noch Schlimmeres zu verhindern. Wir müssen uns nur bewußt dieser historischen Herausforderung stellen. Ich habe mich entschieden, auch wenn ich mich nicht wohl dabei fühle. Aber, hätten sich vor 50 Jahren Menschen nicht entschieden, wäre ich nie geboren worden. Der Preis war Dresden, der Erfolg Hitlers Niederlage. Daniel Cohn-Bendit Stadtrat im Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt/Main

Nachbemerkung: Unterstreichung von uns (Red. trend)

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