Da ist kein zweiter Mandela
Über die „Grüne Welle“ im Iran und über Mussawi (Teil 2)

von Bahman Shafigh

06/09

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Anmerkung zu Teil 2: Das in der Anmerkung zu Teil 1 des Artikels befürchtete Blutvergießen ist jetzt da. Doch ist das nur der Anfang. Wenn ein Wunder nicht eintritt, werden die zahlen, die wir bald hören, alles Bisherige als Peanuts erscheinen lassen. Angesichts der Brisanz der aktuellen Entwicklung verkürze ich diese Analyse und konzentriere mich auf das Wesentliche. Mit der Hoffnung, bald eine ausführliche theoretische Auseinandersetzung mit der gesamten Entwicklung des Islamischen Staats vorzunehmen.

Putsch gegen wen? 

Die Propagandamaschinerie der „Grünen“ behauptet, hinter der Wahlfälschung von Hardlinern stünde ein Putsch. Ob und in wie weit sich bei dem Wahlergebnis überhaupt um eine Fälschung handelt, ist mittlerweile zweitrangig. Von Anfang an hat es hierzu keine, und absolut keine, sachliche Diskussion gegeben. Die Wahrheit hat offensichtlich niemanden interessiert. Die Diskussion an sich ist zwar eine wichtige, da dies den Grad der Entwicklung des politischen Systems im Iran zeigt. Wenn bei einer Wahl so einfach 11 Millionen Stimmen verschoben werden können, dann haben wir es hier mit einer Bananenrepublik zu tun. Iran ist aber alles andere als eine solche Republik. Der Unterdrückungsapparat ist viel komplexer, als diese Annahme unterstellt. Im konkreten Fall dieser Wahlen widerspricht dies außerdem die Aussage von Expräsident Khatami, ein wichtiger Unterstützer Mussawis, in einem Interview mit Newsweek zwei Wochen vor der Wahl, das das iranische Wahlsystem trotz einiger Schwächen eine grobe Wahlmanipulation nicht zulasse; und das er dies aus seiner Zeit als Ministerpräsident schon wisse. Die primäre Frage, die uns hier beschäftigt ist jedoch, gegen wenn dieser Putsch geführt werden sollte? Ist das gegen das Volk gewesen, wie es die „Reformer“ behaupten oder gibt es auch andere Kreise, gegen sie sich die Entwicklung gerichtet hat?

Kurz nach dem TV Duell zwischen Mussawi und Ahmadinedschad veröffentlichten ca. 50 Gelehrten aus Qom - die heilige Stadt und das wichtigste Zentrum des Klerus - eine Erklärung, in der Sie vor einer Wiederholung der Ereignisse der Konstitutionellen Revolution warnten. Unter den Unterzeichnern waren die Unterschriften eine Reihe prominente Ajatollahs zu lesen. Bei der Konstitutionellen Revolution 1905 hat sich der Klerus zunächst auf die Seite der Revolution geschlagen und eine maßgebliche Rolle bei der Zerschlagung der Despotie gespielt. Später, als allmählich die demokratischen Aspekte der Revolution sich zu entwickeln begannen, hat sich ein sehr konservativer Teil des Klerus auf die Seite des Despoten Mohammd-Ali Schah geschlagen und der Revolution offen bekämpft. Als Mohammad-Ali Schah gestürzt wurde, haben die Revolutionäre den stramm reaktionären Groß Ajatollah Scheich Fezlollah Nouri verhaftet und ihn den Prozess gemacht. Er wurde dann auf dem Platz Baharestan öffentlich gehängt. (Ja, auch das hat es im Iran gegeben. Vor über 100 Jahren hat man einen Groß Ajatollah hingerichtet und die Menschen haben gejubelt. Die Rache kam 70 Jahre Später.) Die folgenden Ereignisse nach dieser Hinrichtung führten schließlich zur Machtübernahme von Riza Schah und die Gründung der neuen, säkularen Pahlavi Dynastie, die dann wiederum 1979 stürzte. Bekanntlich war ja Riza Schah ein weltlich orientierter Diktator, der die moderne Lebensweise mit Gewalt durchgesetzt hat. Er hat nicht nur die Macht der Mullahs eingeschränkt, sondern auch eine Reihe Maßnahmen Richtung Säkularisierung der Gesellschaft eingeleitet. Unter anderem hat er das Tragen von Schleier für Frauen verboten. In der Erklärung der Kleriker stand der bemerkenswerte Satz, der Riza Schah habe sich ja auch anfangs als Gläubiger gegeben. Diese Anspielung zielte auf die strenge Religiosität des jetzigen Präsidenten, die ihm solche Putsch Absichten gegen den Islam zu unterstellen erschwert. Man hat offen versucht, die Religiosität von Ahmadinedschad als Tarnung darzustellen. Ahmadinedschad wurde ja schon seit Monaten als Lügner bezeichnet. Also haben die Ajatollahs Angst vor einem Putsch durch Ahmadinedschad. Aber warum? Ist er nicht derjenige, der den eigentlichen Gottesstaat errichten möchte? Warum dann diese Angst? Zunächst versuchen wir die Antwort bei der Wahlkampagne von Ahmadinedschad zu suchen.

َAls am Abend des 3. Juni die Zuschauer ihre Fernsehgeräte einschalteten um die Fernsehdebatte zwischen Ahmadinedschad und seinem Herausforderer Mussawi zu verfolgen, konnten sie ihre Augen nicht trauen. Die beispiellose Offenheit beider Kontrahenten und die Schärfe der Attacken legten einen erbitterten Streit offen, der bis dahin nur unterschwellig vor sich lief. Nach dem Duell haben die bürgerlichen Medien selbstverständlich Mussawi als Sieger der Debatte erklärt. Er hatte Ahmadinedschad scharf kritisiert, ihn als Lügner, abergläubisch, verantwortungslos und Machiavellist bezeichnet und einen anderen Stil für die Politik der nächsten Jahre versprochen. Bemerkenswert war jedoch, dass er keinerlei inhaltliche Auseinandersetzung in die Debatte brachte. Konkret wurde er nur im Bereich der Außenpolitik, wo er eine verantwortungsvolle, bedachte Außenpolitik als Gegenmodell entwarf. Ahmadinedschad hingegen hatte eine völlig überraschende Strategie für sich ausgesucht. Durch die massive Kritik der  sog. Reformorientierten Presse in den Wochen und Monaten vor der Debatte an den Rand gedrängt, hat Ahmadinedschad die Initiative ergriffen und alle seine Gegenkandidaten frontal angegriffen. Sein Kalkül war sehr einfach, wirkungsvoll und zugleich sehr gefährlich. Er hat die Gegenkandidaten als Teil einer Kampagne aller Regierungen vor seiner Zeit gebrandmarkt. In Zentrum seiner Attacke stand ein zentrales Thema: Kampf für die Gerechtigkeit und gegen die korrupte Elite an der Spitze der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Dies alles fokussiert auf Rafsandschani, den mächtigen ehemaligen Präsidenten und derzeitigen Vorsitzenden des Expertenrats und des „Rats für den Interessenausgleich des Systems“. Beide dieser Organe zählen zu den wichtigsten Institutionen des Landes. Sie stehen sogar über dem Parlament. Der Expertenrat ist zwar kein gewöhnliches Parlament und tagt nicht regelmäßig. Er ist aber die Instanz, die den Führer absetzen bzw. auswählen kann. Also hat Ahmadinedschad das Machtzentrum des gegnerischen Lagers ins Visier genommen, in der Hoffnung so die Massen seiner eigenen Anhänger – aber auch die bereite Massen der Verarmten Landbevölkerung bzw. Bewohner der Kleinstädte – mobilisieren zu können. Er hat sich zum Sprachrohr der entrechteten und verarmten Teile der Gesellschaft auserkoren. Mit Erfolg wie die nächsten Tage zeigten.

Ahmadinedschad hat diese Wahlstrategie auch bei seinen nächsten TV-Duellen erfolgreich fortgesetzt. Insbesondere gegen den Kandidaten Karrubi, den er bei der Debatte regelrecht deklassierte und als völlig inkompetente Marionette der Machtzentren um Rafsandschani entlarvte. Nicht zuletzt deshalb hat Karrubi das schlechteste Wahlergebnis erzielt. Seine Demontage glich einer völligen Demütigung. Sogar sein eigener Stabschef Karbastchi, ein enger Vertrauter Rafsandschanis, hat am Wahltag offen für Mussawi gestimmt.

Damit waren die Fronten neu definiert. Auf der einen Seite stand der selbst ernannte Volksheld Ahmadinedschad und auf der anderen Seite fast das ganze Establishment des Systems einschließlich eines großen Teils des Klerus. Als Ahmadinedschad seine erste Wahlveranstaltung in Mashad abhielt, war klar, dass seine Mobilisierungsstrategie  gegriffen hatte. Abgesehen von der Tatsache, dass er mit Staatlichen Mitteln Menschen zu seinen Veranstaltungen bringen ließ, war allein das Erscheinen so vieler Menschen beeindruckend. Es zeichnete sich ganz schnell ein Sieg Ahmadinedschads ab. Diese Tatsache wird von den Gegenkandidaten zwar vehement bestritten. Ein Blick auf ihre Wahltaktik auf der letzten Spur des Wahlkampfes zeigt jedoch ein anderes Bild. Nach dem ersten TV-Duell war es Ahmadinedschad gelungen, die Themen zu setzen und der Debatte seinen Stempel zu drucken. Anstatt sich rechtzufertigen, hatte er bei seinem zweiten Duell mit Fakten und Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung seiner Regierungszeit operiert und diese immer wieder mit den Daten andere Regierungen verglichen. Hat man ihm eine hohe Inflationsrate vorgeworfen, so hat er die noch höhere Rate unter Khatami und Rafsandschani gegen gehalten. Dabei hat er ununterbrochen das Thema Gerechtigkeit und Bekämpfung der korrupten Elite geschickt in den Mittelpunkt gestellt. Es war nun klar, dass er bei einem Wahlsieg klaren Tisch machen würde. Insbesondere wenn man bedenkt, dass er die engsten Verwandten von Rafsandschani, seine Söhne, namentlich erwähnte. Dies war dann der entscheidende Anlass, dass Rafsandschani seine Bemühungen verstärkte, ihn an einem Wahlsieg zu hindern. Hinter den Kulissen hat er die im Klerus vorhandenen Ressentiments gegen Ahmadinedschad geschürt, was die oben genannte Erklärung der Gelehrten und ihre Warnung vor einem Putsch zur Folge hatte.

Tatsächlich war es Ahmadinedschad, dass den Einfluss der Geistlichen im Staatsgeschäft stark eingeschränkt hatte. Waren alle Präsidenten vor ihm diesem Klerus hörig, so hat er bei verschiedenen Anlässen dem Klerus offen widersprochen. Er selbst hat zwar enge Verbindung zum dogmatischsten und konservativsten Flügel des Klerus, doch in der Staatsräson hat er gezeigt, dass er dem Führer und seiner eigenen Basis verbunden war. Ein Vergleich und zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Als der „große Reformer“ Khatami Präsident war, besuchte er in Qom den Groß Ajatollah Makarem-Shirazi. Zwei Tage später hat die Regierung den Geburtstag von Zahra, Tochter des Propheten und Mutter von Märtyrer Imam Hussein, zum Feiertag erklärt. Offensichtlich auf Verlangen Groß Ajatollahs. Ahmadinedschad hat aber völlig anderes gehandelt. Einer seinen ersten Entscheidungen als Regierungschef war, den Frauen der Zutritt zu den Fußballstadien zu erlauben. Dies war ein Tabu Bruch höchster Brisant und hat selbstverständlich eine heftige Reaktion beim Klerus ausgelöst. Auch seine eigenen Mentoren haben dagegen protestiert. Ahmadinedschad hat zwar dem starken Druck nicht standgehalten und den Rückzieher gemacht. Doch zeigte die Entscheidung an sich, dass er den Klerikern gefährlich werden könnte. Der zweite Vorfall zeigte diese Gefahr noch deutlicher. Als Ahmadinedschads Minister für Tourismus, Maschaii, vom „israelischen Volk“ sprach, das vom zionistischen Regime zu unterscheiden sei, brach er ein heiliges Tabu der islamischen Republik. Eine beispiellose Welle der Entrüstung beim Klerus war hier die Folge. Das offizielle Sprachjargon des Regimes kennt kein „israelisches Volk“. Hier sind die Israelis alle Besatzer, was auch Terrorattacken gegen zivile Israelis rechtfertigt. Nun hatte ein Minister des Kabinetts einen anderen Ausdruck gebraucht, der zu einer anderen Politik führen würde, nämlich Distanzierung von Anschlägen auf die Zivilbevölkerung in Israel. Dies hat sogar seinerzeit in der Israelischen Presse ein beachtliches Echo gefunden. Die Welle der Entrüstung erstreckte sich landesweit. Jeden Tag hat ein Imam aus einer oder anderen Stadt die Äußerungen Maschaiis verurteilt und seinen Rückzug bzw. Rausschmiss gefordert. Auch eine überwältigende Mehrheit der Parlamentarier sowie eine Schar von Groß Ajatollahs hat dies gefordert. Der Betroffene selbst hat indes seine Äußerungen immer wieder verteidigt. Erst nach Wochenlangem Hickhack hat sich Ahmadinedschad zu diesem Thema geäußert. Und was hat dieser weltberühmteste Holocaust Leugner dazu gesagt? Er hat in der Sache sein Minister in Schutz genommen, die Bevölkerung in Israel als Menschen beschrieb, die aus Notlage von ihren Ursprungsländern nach Israel gewandert seien und vom Zionismus missbraucht würden. Die Krönung seine Stellungnahme war der Satz, dass die Rechtsgelehrten sehr viel Respekt verdienten, die Politik würde jedoch von der Regierung bestimmt und nicht von den Rechtsgelehrten. Damit war allen Klerikern klar, dass ihnen mit diesem Regierungschef den Verlust weitere Machtstellungen drohte. Die Israel Debatte war erst mit der Einmischung vom Führer beendet. Aber auch er hat die Äußerungen Maschaiis nur als ein „Fehler eines Verantwortlichen“ bezeichnet, der von Regierungsgegnern hoch gepfuscht würde. Also zeigte die Scharfe Kante der Kritik nicht Richtung Regierung sondern ihre Kritiker.

Auf diesem Hintergrund ist die Warnung von Rechtsgelehrten während des Wahlkampfes zu Verstehen, das Land stehe vor ähnlichen Verhältnissen wie bei Konstitutionellen Revolution, die dann zu einem Putsch von Riza Schah führte. Der neue Schah in diesem Szenario war kein anderer als Ahmadinedschad. 

Der unaufhaltsame Aufstieg des … 

Doch dies alles half nicht. Die Welle der Mobilisierung, die Ahmadinedschad mit seiner offensiven Strategie erreichte, war so groß, dass es die Gegner beängstigte. Der Ton wurde rauer und die Attacken heftiger. Eine nie da gewesene Polarisierung in der Gesellschaft zeichnete sich ab, bei der das Bildungsbürgertum mehr und mehr für Mussawi Partei ergriff und das einfache Volk für Ahmadinedschad. Je näher dieser Sieg rückte, umso mehr würde das Reformlager unruhiger. Die Scharfen Attacken aus Ahmadinedschads Lager gegen die Machtelite, die offen widerrechtliche Anschuldigen über dies oder jene Bestechungsaffäre der Günstlinge publik machten, haben zunehmend die Angst des alten Establishment erweckt, bald um ihr Hab und Gut, ja gar Leib und Leben fürchten zu müssen. Die Wucht der Kampagne war so groß, dass die Justiz des Landes diese Gesetzesverstöße nur leise ahnden musste. Mehr zu machen, war sie nicht in der Lage. In dieser angespannten Situation erschien der offene Brief von Rafsandschani an Khamenei.

Am 8. Juni schrieb Rafsandschani im unerwartet scharfen Ton ein Brief an Khamenei, in dem er die Hetze der Ahmadinedschads Leute gegen sich und seine Familie beklagte und die Gefahr beschwor, die aus dieser Kampagne für Klerus ausgeht. Rafsandschani hatte in diesem Brief nicht mal die Formalien eines Briefverkehrs eingehalten und Khamenei vorwarf, versagt zu haben. Rafsandschani beließ es nicht bei den Vorwürfen und drohte offen einen Aufstand mit den Worten: „Ich erwarte von Ihnen, dass sie diese Position räumen, damit das Feuer gelöscht werden kann, dessen Rauch man bis in die Atmosphäre sieht. Ich erwarte, dass gehandelt wird, um gefährliche Verschwörungen zu vereiteln“. Spätestens jetzt musste allen klar sein, dass von einem normalen Wahlausgang keine Rede mehr sein konnte. Rafsandschanis Brief zeigte deutlich, dass das Lager um ihn einen Wahlausgang zu Gunsten Ahmadinedschads nicht akzeptieren würde. Zugleich war dieser Brief ein letzter Versuch, die sich abzeichnende Niederlage abzuwehren und den Wind mit einem Rückzieher des Führers zu Gunsten Mussawi zu drehen. Doch der Führer blieb stumm, der Brief unbeantwortet. Der Affront von Rafsandschani folgte eine Klatsche vom Führer, die Spaltung des Systems in zwei unversöhnlichen Lagern wurde zementiert. Es war klar, dass der Unterlegene das Ergebnis nicht anerkennen würde. Egal wer diese Unterlegene auch sei.

Nun könnte man meinen, dass der Amtsinhaber Ahmadinedschad ja keine Angst zu haben brauchte, da er ja Kraft seines Amtes alle Mitteln der Manipulation in der Hand hatte. Eine solche Manipulation ist im Grunde möglich. Es ist jedoch fast unmöglich, eine Manipulation in dieser Größenordnung zu vertuschen. Diejenigen, die dies ständig wiederholen, unterstellen dem System ein primitiver Stand der Entwicklung. Dem ist aber doch nicht so. Das Wahlsystem der Islamischen Republik ist ein hoch Entwickeltes. Die Wahlmanipulation erfolgt nicht i.d.R. bei Stimmenauszählung oder bei der Stimmabgabe, sondern davor und mit Mitteln der Politik und der Auswahl der Kandidaten. Allein Mussawi hatte mehr als 40000 Wahlbeobachter bei den Wahlurnen, was eine Manipulation in der behaupteten Größenordnung sehr erschwert, wenn es sie nicht unmöglich macht. Die entscheidende Frage ist, warum überhaupt ein Mussawi oder ein Karrubi die Wahl gewinnen sollte? Was hatten die Kandidaten überhaupt anzubieten, das sie gegen einen Demagogen wie Ahmadinedschad wählbar gemacht hätte?

Wir haben bereits erwähnt, dass bei den Fernsehdebatten kein Wort über die konkreten Zustände der verarmten Teile der Bevölkerung seitens der Kandidaten fiel. Erst nach dem Ahmadinedschad dieses thematisierte,  versuchten die anderen Kandidaten sich zu positionieren und dies mit möglichst wagen Worten und mit möglichst wenigen programmatischen Aussagen. Drei Monate vor der Wahl hatte die Regierung eben dieses Ahmadinedschads den gesetzlichen Mindestlohn auf ca. 260.000 Toman oder 260 € (wir runden 1000 Toman = 1 Euro) festgelegt. Kurz davor erschien die offizielle Statistik über die Armutsgrenze in Teheran. Laut dieser Statistik lag diese Grenze für Teheran bei ca. 800 €. Also ein klarer Fall für jeden der Ahmadinedschads falschen Verheißungen und Versprechen entlarven wollte. Doch keiner der 3 Kandidaten hat bei diesen Debatten das Thema angesprochen oder angedeutet. Im Gegenteil, sie waren bemüht, auch bei ihren Debatten zu den wirtschaftlichen Themen die Kluft zwischen dem Lohnniveau und der Armutsgrenze zu verschweigen um ja nicht falsche Erwartungen zu wecken. Staatlich nahe stehende Institutionen schätzen die Anzahl der Arbeiter in den Betrieben mit mehr als 10 Beschäftigten, für die eben dieser Mindestlohn als Basis gilt auf ca. 65% aller Beschäftigten. Abgesehen hiervon, leben und arbeiten Millionen von Menschen in den Klein- und Kleinstbetrieben  mit Löhnen unterhalb dieses Mindestlohns. Doch dies alles war den Kandidaten nicht erwähnenswert genug.

Außerdem sank die Anzahl der Beschäftigten ohne einen festen Arbeitsvertrag in den letzten Jahren kontinuierlich zu geschätzter 20% aller Beschäftigten. Über 80% der Arbeiter arbeiten nur mit zeitlich befristeten Verträgen, die nach 3 Monaten ablaufen. Überall im Land die hire und fire Politik. Auch dies war kein Thema für die Kandidaten. Sie haben sich zwar über die Teuerung und der daraus entstehende Druck beklagt, es aber penible vermieden, dies in konkrete Verbindung zu der Masse von Arbeitern zu bringen. Selbstverständlich fand auch die Tatsache keine Erwähnung, dass unzählige Arbeitskämpfe in den Jahren der Regierung Ahmadinedschad brutalst unterdrückt wurden. Auch dass bei der Maiveranstaltung im Teheran kurz vor der Wahl über 170 Arbeiter geschlagen, verhaftet, schikaniert und gefoltert wurden, war für diese Kandidaten nicht der Rede wert genau so wie der Zustand, dass die Regierung Ahmadinedschad das  Koalitionsrecht der Arbeiter konsequent ignoriert und diejenigen einbuchtete, die dies doch gewagt hatten und eine Gewerkschaft gründen wollten. Also warum sollten z.B. die Arbeiter einen Mussawi oder einen Karrubi ihre Stimme geben? Dies wurde auch aus der Stellungnahme der Busfahrergewerkschaft Vahed zu den Wahlen deutlich, die überhaupt eine Beteiligung an den Wahlen in Frage stellte, geschweige denn eine Wahlempfehlung zu Gunsten der Gegenkandidaten abzugeben.

Dort wo Mussawi konkret wurde, z.B. im Bereich der Außenpolitik zielte er ganz deutlich auf die Stimmberechtigten aus der Mittelschicht, in dem er Ahmadinedschad vorwarf durch eine abenteuerliche Außenpolitik das Ansehen Irans in der Welt geschadet zu haben, was zur Folge hätte, dass die Iranischen Staatsangehörigen nur noch in wenige Länder ohne Visum einreisen dürften und überall auf den Flughäfen schlecht behandelt würden. Das dies dem armen Mann und der armen Frau auf dem Lande und in den Slums völlig egal ist, der/die nicht mal das nötige Geld für eine warme Mahlzeit mit Fleisch zusammenbringt, dürfte klar sein. So war es auch Ahmadinedschad, der diese Missstände ansprach und die Beseitigung dieser Missstände durch seine Gerechtigkeitspolitik versprach. Er, der selbst für diese Missstände genau so verantwortlich war wie seine Vorgänger, hatte die Gelegenheit, sich als Retter der Armen darzustellen. Dies war die zweite Linie der Polarisierung. Einerseits die Polarisierung innerhalb des Systems und andererseits entlang der Klassen. Man könnte in die Versuchung kommen, von Venezuelanischen oder Bolivianischen Verhältnissen zu sprechen. Es ähnelte aber mehr den Zuständen in Thailand der Taksin Zeit. Mit dem Unterschied, dass im Iran der  mächtige Militärapparat der Pasdaran und die höchste Instanz des Staates hinter dem selbst ernannten Volksheld standen, was dem armen Taksin fehlte. Hinzu kommt der Reaktionäre Charakter Ahmadinedschads, der wiederum die Lage im Iran von allen anderen Ländern mit ähnlicher Polarisierung unterscheidet. Doch davon weiter unten.

Und so kam es, dass die jetzigen Helden der „Grüne Welle“ schon im Vorfeld wussten, dass sie die Wahl an den Urnen nicht gewinnen konnten. Die letzten Tage des Wahlkampfes waren voll von gegenseitigen Vorwürfen der sog. Reformkandidaten Mussawi und Karrubi. Mussawis Wahlstrategen haben alles darauf gesetzt, Karrubi zu einem Verzicht zu bewegen, worauf hin seitens Karrubi scharfe Attacken gegen Mussawi und Rafsandschani folgten. Die Behauptung jedoch, der jeweilige Kandidat mit angeblich überwältigender Mehrheit die Wahlen gewinnen würde, wurde immer wieder gestellt, um die Erwartungshaltung hochzuschrauben. Erst der Schock der Niederlage schweißte die Unterlegenen wieder zusammen. Es mag sein, dass die Regierung den Wahlausgang manipulierte. Doch nötig hatte Ahmadinedschad es nicht. Diese Wahl war schon vorher entschieden. 

Im 3. Teil befassen wir uns mit der Charakteristik von Ahmadinedschads Politik, der Ausbruch des Protests und die Bedeutung der gegenwärtigen Entwicklung für den Westen. Anschließend werde ich versuchen die Linien einer gemeinsamen linke Strategie zu entwerfen und zur Diskussion stellen.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor am 20.6.09.