Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Tunesische Migranten in Paris
Erneute Räumung, Konflikt mit der Stadt spitzt sich zu

06/11

trend
onlinezeitung

Zum zweiten Mal hintereinander wurde am vergangenen Freitag (den 27. Mai), im Morgengrauen, ein durch tunesische Migranten in der Hauptstadt Frankreichs besetztes Gebäude polizeilich geräumt. Gegen 7 Uhr früh drangen starke Polizeieinheiten in das seit langen Jahren leerstehende in der rue Bichat, unweit des Pariser Nordbahnhofs, ein.

Bereits am Vortag war es zwei mal zu polizeilichem Eingreifsversuchen gekommen, wobei die Ordnungskräfte behaupteten, „wegen eines Einbruchs“ herbeigerufen worden zu sein. Das Gebäude steht in öffentlichem Besitz und gehört der öffentlich-rechtlichen Gesellschaft AFTAM, die Wohnheime für Immigranten betreibt. Am Freitag Nachmittag demonstrierten etwas unter 100 Protestierenden am Hauptsitz der AFTAM in Paris. 

Die Stadt Paris hatte zuvor die Räumung der einige hundert Meter entfernt liegenden Turnhalle in der rue Fontaine-du-Roi, im 11. Pariser Bezirk, angefordert. Diese Turnhalle liegt in städtischem Besitz und war seit der ersten Maiwoche besetzt. Am vorletzten Freitag hatten Gerichtsbeamte den Einwohner/inne/n - tunesische Migranten, die in den letzten Wochen und Monaten über Italien eingereist waren - den illegalen Charakter ihrer Besetzung amtlich verkündet und die Räumung angekündigt. Um der unmittelbar bevorstehenden Räumung zuvorzukommen, waren die Tunesier in das leere Gebäude in der rue Bichat ausgewichen, das jedoch keine 48 Stunden besetzt blieb. Die Stadt Paris ihrerseits beruft sich darauf, dass sie - im Gegensatz zum Zentralstaat, der die Tunesier nur fortekeln möchte - durchaus etwas für diese Neuzuwanderer tue. Sie spricht von 300.000 Euro (überwiegend an Sachmitteln), die ihnen gewährt worden seien. Konkret nimmt dies jedoch die Gestalt von 150 bis 300 Plätzen in einer Notunterkunft - die für Katastrophenfälle bereit gehalten wird - an, welche die Betreffenden jedoch um 7 Uhr früh mit all ihren Habseligkeiten verlassen müssen und erst am Abend wieder betreten dürfen. Untergebracht werden sie dort also lediglich Nacht für Nacht wie Obdachlose, wobei das Recht auf Unterkunft an jedem einzelnen Abend erneut gewährt werden muss. Eine solche extreme Prekarität hielten sie, auf längere Sicht hin, für nicht menschenwürdig. 

Der französische Zentralstaat, der Herr über die in Paris stationierten Polizeikräfte ist, zeigt sich noch weitaus weniger duldsam gegenüber den tunesischen Neuzuwanderern. Am Samstag Nachmittag des 14. Mai wurde eine nicht genehmigte Demonstration von rund 500 Tunesiern und Unterstützer/innen (überwiegend Autonome, die taktisch mitunter sehr ungeschickt vorgingen und dadurch auch Migranten u.U. gefährderten) mit roher Gewalt aufgelöst. 15 Tunesier und 51 ihrer Unterstützer/innen wurden verhaftet. Die Demonstration wurde sofort nach Beginn eingekesselt. 

LETZTE MELDUNG: Zu Anfang der laufenden Woche besetzten tunesische Migranten in Paris ein neues Objekt: Es handelt sich um ein Gebäude in der Nähe der Métro-Station Botzaris (unweit des Parc des Buttes-Chaumont, im 19. Pariser Bezirk), das noch unlängst im Eigentum des tunesischen Ex-Diktators Zine el-Abidine Ben Ali stand. (Ben Alis Besitztümer sind mittlerweile ja durch den tunesischen Staat sowie durch die EU eingefroren worden.) Am Abend des 31. Mai fand eine erste Solidaritätskundgebung dort statt.

Editorische Anmerkungen

Den Text
erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Er die Fortsetzung des Berichts "Vom Regen in die Traufe" (trend 5/11)