Wie der Maoismus nach Westberlin kam
Materialien zum Referat

Die Rote Garde

Leseauszug aus: Die Maoisten. Pekings Filialen in Westeuropa
 

06/2016

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.... Die erstmals im August 1968 aufgetretene »Rote Garde Berlin« ist nur über zwei Telefonnummern und das Schüler-Lehrlingszentrum am Kurfürstendamm erreichbar. Ihre anonyme Führungsspitze stellt ein zehnköpfiges »Rote-Garde-Zentralkollektiv« dar, dessen wichtigster Funktionär der am 22. Mai 1941 geborene Volker Magdalinski, wohnhaft in Berlin, Naunynstraße, sein dürfte. Die Zahl der Mitglieder betrug im Spätherbst 1969 rund 130 — der aktive Kern umfaßte davon etwa sechzig bis achtzig Jugendliche — und diejenige der Mitläufer circa 350. Der Kampf der Gruppe gilt sowohl Ost-Berlin als auch Bonn:

»Die SED-Clique hat nichts Besseres zu tun, als dauernd bei faschistischen und kapitalistischen Staaten um die Anerkennung zu betteln und sich an militärischen Besetzungen von "Bruderländern" zu beteiligen... Unser Hauptfeind ist das westdeutsche Monopolkapital und seine Vertreter in Staat und Justiz. Nur die konsequente Anwendung des Marxismus-Leninismus und der Ideen Mao Tse-tungs kann die Herrschaft dieser dunklen Mächte zerschlagen und ihre ständigen Versuche vereiteln, diese wiederzuerrichten.«

Ihr 14seitiges, reich bebildertes Organ »Rote Garde« behauptete, eine Auflage von 40 000 Exemplaren zu haben, was allerdings stark übertrieben erscheint. Zur rotchinesischen Botschaft in Ost-Berlin bestehen Kontakte; ob diese das Blatt auch finanziell unterstützte, ist unbekannt — seit Anfang 1970 tauchte es nicht wieder auf.

In der Öffentlichkeit trat die »Rote Garde« bei der Demonstration gegen den Freisprurh des einstigen NS-Richters Rehse und durch vereinzelte Störversuche bei dem Besuch des USA-Präsidenten Nixon hervor. Am 2. Weihnachtstage 1968 wollte sie mit einigen APO- und SDS-Anhängern — mit denen sie sonst zerstritten ist — »zu Ehren des 75. Geburtstags Mao Tse-tungs« das alte China-Botschafts-Gebäude am Kurfürstendamm besetzen. Die von den Insassen mit Stuhlbeinen Hinausgeprügelten beriefen sich auf eine Legitimation der scheinbar berechtigten rotchinesischen Botschaft in Ost-Berlin und stellten damit die Westberliner Behörden vor etliche zivil-, aber auch völkerrechtliche Probleme.

Ärger bereitete der Kreis andererseits auch der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, was der Vorsitzende Danelius Anfang Juni 1969 sogar den Delegierten der kommunistischen Weltkonferenz in Moskau mitteilte.

Die »Rote Garde« in Hamburg entstand Anfang 1969 unter der Leitung des 19jährigen KPD/ML-Mitglieds Wolf Lauchstaedt, Bahrenfelder Chaussee. Die kleine Gruppe von knapp zwanzig Mitgliedern vermochte bei Demonstrationen allerdings bis zu 300 junge Menschen um sich zu versammeln.

Weitere »Rote Garden« existierten bald in Köln, Hannover, Hildesheim, München und Wuppertal.

Mitte März 1970 aber löste sich die »Rote Garde Hamburg« auf, nachdem »Haschischprobleme, kleinbürgerliche Zänkereien, Disziplinlosigkeit und opportunistische Strömungen« dominierten und es zu größeren Differenzen mit der Führung der KPD/ML gekommen war. Es bildete sich zwar eine neue »Marxistisch-Leninistische Jugend Hamburgs« (MLJH), die aber die Peking-Partei als »Klotz am Bein« ansieht und mehr zu den »Roten Briefen« zu tendieren scheint".

Im April 1970 trafen sich die »Rote Garde«-Gruppen in Frankfurt. Nach den Berichten der Landesverbände verfügt angeblich die Hamburger Gruppe über 60 und der südwestdeutsche Verband über 100 Mitglieder und Sympathisanten; die Vertreter aus Niedersachsen gaben 250 und diejenigen aus Nordrhein-Westfalen sogar 350 Anhänger an. Die »Rote Garde München« berief sich auf eine Zahlenstärke von 80, der Delegierte West-Berlins auf eine von 60 Peking-Junggenossen. Am zweiten Tage indessen verließ die Gruppe Nordrhein-Westfalen aus Protest die Konferenz, die ihr »kleinbürgerlichen Individualismus« vorwarf.

Im Sommer 1970 erschien dann erstmals ein neues »Rote Garde«-Bulletin, das von Ezra Gerhardt, Berlin, Wilmsstraße, unterzeichnet war....

Quelle:
SCHLOMANN, Friedrich-Wilhelm / FRIEDLINGSTEIN, Paulette, Die Maoisten. Pekings Filialen in Westeuropa, Frankfurt/Main, 1970. S.
255ff