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Editorial

DDR 1989
Geschäftsaufgabe schützte vor Konkurs

von Karl-Heinz Schubert

06/99
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Mauerfall Jubileumsmünze

Zur Zeit rauchen uns die Köpfe bei der Sichtung des Materials für unsere Dokumentation, mit deren Veröffentlichung wir im trend anläßlich des 10. Jahrestages der Mauerlöcherung im November 1989 in den nächsten Wochen beginnen werden.

Nach langem inhaltlichem Ringen hat sich eine gemeinsame Einschätzung hinsichtlich des Niedergangs der DDR und ihrer Auflösung in die BRD herausgebildet. Es handelt sich dabei nicht um eine ausgereifte Position, sondern eher um Arbeitsthesen, die sich mit Sicherheit durch die Arbeit am Gegenstand verändern werden. Von daher fällt es auch leichter damit zu beginnen, daß wir zunächst mal formulieren, was wir nicht vertreten.

Vor allem lehnen wir eine unter Linken häufig anzutreffende Einschätzung ab, daß die DDR von außen zerstört und gleichsam zwangsweise an die BRD angeschlossen wurde. Hier scheint es doch eher so zu sein, daß die überwiegende Mehrheit der DDR-Bevölkerung bewußt den Weg "Heim ins Reich" antrat.

Bewußt das Falsche zu wollen, treibt - wenn dies die Massen tun - viele Linke in den Erklärungsnotstand. Hier helfen dann Manipulations- und Verschwörungstheorien. Das Arsenal reicht von einer völlig verkürzt aufgelegten Kritischen Theorie bis zu banalen Verschwörungstheorien im Gewand sogenannter materialistischer Analysen.

Daß die Leute mit dem "falschen Bewußtsein" schließlich doch das Richtige taten, hat bei uns keine Bestürzung hervorgerufen, denn so dolle war die DDR in echt nicht, obgleich sie sich durchaus auf wenigen gesellschaftlichen Feldern gegenüber der BRD überlegen zeigte - jedenfalls was Sauberkeit und Pflichtbewußtsein, Aufrichtigkeit und Heimatliebe anbelangte. Hier handelte es sich by the way um das "richtige Bewußtsein" für funktionierende nationalstaatliche Planwirtschaften. Nur leider funktionierte die der DDR ebensowenig wie die der anderen realexistierenden sozialistischen Staaten. Deshalb handelten die DDRlerInnen mit dem richtigen Bewußtsein grundfalsch, als sie zunächst daheim nach einer neuen Geschäftsführung zu suchen begannen. Dies trieb das führende Personal nur an, die Aufgabe des Geschäfts unverzüglich einzuleiten, um dem drohenden Konkurs zuvor zu kommen.

So wurde aus "Wir sind das Volk" alsbald "Wir sind ein Volk", was dem Wunsch nach neuem, erfolgreicherem Führungspersonal griffig Ausdruck verlieh. Von daher gäbe es eigentlich wenig zu dokumentieren. Zumal dies dies seit Wochen die bürgerlichen Medien aufs trefflichste besorgen.

Dennoch. In solchen gewaltigen Umbruchsituationen verschaffen sich Minderheiten, vor allem widerborstige, bisweilen Gehör und entwickeln interessante Konzepte und Experimente, konkrete Utopien einer menschengerechten Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. So was passierte auch in der Zeit zwischen Mauerlöcherung im November 1989 und den Volkskammerwahlen im Frühjahr 1990. Das werden wir versuchen zu dokumentieren.

Wenn auch der emanzipative Gehalt dieser Versuche - etwa in der Form von Bürgerkomitees - unbestritten ist, so bezweifeln wir im Gegensatz zur telegraph-Redaktion, daß sich in diesen Formen Tragfähiges für zukünftige gesellschaftliche Umwälzungen finden ließe. Das Positive dieser Versuche bestand gerade nicht in der posthum zum Mythos verdichteten Tragfähigkeitsvermutung, sondern in der Tatsache, das anderes als der Mainstream zu denken möglich und realistisch war. Kurzum: daß gesellschaftliche Umwälzungen immer auch Suchbewegungen nach alternativen Lebensform hervorrufen, in denen Aufruhr und Revolte für eine freie Gesellschaft aufkeimen.

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