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Filmkritik
THE MATRIX
WAS IST REALITÄT?

von DIETMAR KESTEN

GELSENKIRCHEN, 20. 06. 99  
06/99
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KEANU REEVES lacht nicht; es gibt in MATRIX auch nichts zu lachen. MATRIX ist ein Paralleluniversum, und die Bewohner dieses Planeten leben darin, und ahnen nicht, daß der Boden auf dem sie stehen, unter totaler computergenerierter Kontrolle steht. Hinter der Schiebewand brennt der Himmel: The World Is My Oyster!

Die Geschichte ist eine düstere Zukunftsvision, und darum darf nach mehr als 2 Stunden Kino die Frage gestellt werden, ob es nicht in der Zukunft zu einem reinen Videospiel mutiert, das sich in einem kybernetischen Raum befindet, weil in diesem der Tod des Gehirns im Cyberspace zugleich den des realen Körpers einschließt?

Die Geschichte zu erzählen, ist möglich, aber nicht unbedingt sinnvoll: Ziehen wir die Schlußfolgerung, 'daß der Mensch eine Maschine ist und daß es im ganzen Universum nur eine einzige Substanz in unterschiedlicher Gestalt gibt', behauptete der französische Philosoph LE METTRIE einmal.

Die Gleichung, wonach Tier und Mensch 'aufrecht kriechende Maschinen' sind, die sich selbst aufziehen, ist gar nicht so abwegig, wenn daran gedacht wird, daß die moderne Gesellschaft auf alles Anschläge verübt, was uns einst lieb und teuer war: Geist, Seele, Moralität, Glück, Freiheit und in der Zwischenzeit muß der Freigeist eingestehen, das dafür nur noch pietätloser Spott übrigbleibt: Der Spaß hört auf!!

NEO (KEANU REEVES) ist auserwählt, die apokalyptische Mission zur Rettung der Welt zum Ende zu bringen; diese hängt nur noch an den Energiequellen der Großcomputer, und die Menschen werden für die herrschenden Maschinen gezüchtet. Die Bande der Gesellschaft ist für immer zerstört. Man könnte auch sagen: Es herrscht eine Computer-Maschinenanthropologie, die in der Gleichung aufgeht: Mensch=Maschine=Geist. Es gibt zunächst die Umwelt, in der die Menschen in der MATRIX leben, doch von Minute zu Minute wird immer unklarer, was Realität und was nur Schein istdas macht die Sache nicht einfach oder übersichtlich.

Doch darin stecken hochinteressante Aspekte der modernen Philosophie, die alten Fragen von den Dingen, den Ereignissen in der Umwelt, von der Signale ausgehenbis sie schließlich die menschlichen Sinnesorgane erreichen und dort von spezifischen Sinneszellen registriert werden. Was wäre, wenn das Leben ein einziger Traum wäre, was, wenn wir nur Gestalten im Traum eines anderen wären; was, wenn Furcht, Sehnsucht und Angst nur in einer anderen Welt Realität sein würde, was, wenn Traumwelten, Science-Fiction in Cyber-Zeiten und Parallelwelten nur ein Blendwerk wäre?

Was wäre, wenn künstliche Intelligenz keine 'Hirngespinste' wären, sondern einen elektrochemischen Impuls setzen, der auf das Gehirn übertragen, dort weiterverarbeitet wird, bis er uns in Bewegung setzt? NEO wird von diesen neuronalen Netzen gesteuert, fortwährend (geistig) verändert bis sich sein Gehirn in ein komplexes Aktivitätsmuster verwandelt, und beginnt, auf Bewegungsund Verhaltensorgane Einfluß zu nehmen. Für den äußeren Beobachter ist die ersichtliche 'Wandlung' eines Menschen zum virtuellen Einzelkämpfer vielleicht mit der Einsicht verbunden, daß die vielfältigen Mechanismen, mit der die Moderne Sprechanreize eingerichtet, Abhörund Aufzeichnungsanlagen, Verfahren zum Beobachten, Verhören, Aussprechen und Ausspionieren extrahiert hat, anordnete und institutionalisierteund damit eine ungeheure Beredsamkeit einfordert und organisiert, in relativ kurzer Zeit eine derartige Menge von Ängsten gezüchtet hat, und für die komplexe Ausbreitung ihres Verbindungsnetzes sorgte, daß Anpassungsmannöver und Übertragungsversuche auf eine sowieso schon latente Realangst irgendwann in eine Widerstandsstrategie einmünden, die auf den Menschen sensorisch zurückwirken, und erst dadurch ein Gesellschaftsund Umweltveränderndes Verhalten auslöst bis der Informationskreis für alle Zeiten geschlossen ist.

Sollte sich darin eine gesellschaftliche Realität verstecken, oder ist sie nur eine Scheinfiktion, die mit dem Schlucken einer Pille ('nimm die rote oder blaue Pille' MORPHEUS im Film ein verwissenschaftlicher 'Terrorist'stellt NEO vor die Wahl) Wahrheiten oder Unwissenheiten hervorbringt?

Maschinenmodelle lassen sich teilweise künstlich nachbauen, sie lassen sich an Großrechner anschließen; Gehirne werden in der Zukunft mit Computern simuliert werden es ist also keineswegs übertrieben, die Roboter als unsere kommenden 'nächsten Verwandten' zu bezeichnen. Da hat der Film vieles von dem vorweggenommen, was sich im Modell einer evtl. 'Dekade der Hirnforschung' niederschlagen könnte. Denn die emphatisch ausgerufene Bilanz, die es zu ziehen gilt, muß ernüchternd ausfallen: Was läßt sich erklären; läßt sich das Bewußtsein erklären, die monadischen Charaktere, ein bewußtes Erlebnis alles nur naturwissenschaftliche Fragen?

Neurobiologen, Hirnforscher, Informatiker, Kognitowissenschaftler, Vertreter vieler anderer Disziplinen liefern täglich plausible Hypothesen, Ansätze, Lösungsversuche doch alles erstarrt in der Selbstreferentialität, in der Nabelschau und ist deswegen ungemein irritierend. Der Philosoph DESCARTES meinte noch, daß wir es sind, 'die da denken'. Doch im Zeitalter der künstlichen Intelligenz ist das alles nicht mehr sicher der Mensch handelt nämlich unbewußt, und er nimmt seine Umwelt mehr und mehr unbewußter wahr.

In die MATRIX braucht man sich andere Welten nicht mehr zu erträumen, auch wenn sie sehr trügerisch sind, fantasievoll ausgestattet, errechnet inmitten von Special-Effekten, normativen Bildern und Visionen, halluzinierten Welten, in der mühelos zwischen Geist und Körper kommuniziert werden kannalles ein Traum! Nur ein Traum? Wie sehr sich unser gesamtes Begriffsvermögen durch Technologien beeinflussen läßt, zeigt die MATRIX beklemmend -wir brauchen uns nur noch einzuloggen; schon sitzen wir in den Schaltzentralen der Welt, umgeben von freundlichen Beschützern und unfreundlichen Wegbegleitern.

KARL KOCH in '23' spielte bereits ausgiebig mit der Computerwelt, mit der Datenvernetzung, mit der virtuellen Realität, die für ihn tödlich endete; NEO ist ihm einen echten Schritt voraus: Ein High-Tech-Traum beginnt: Spätestens dann, wenn er in einem anderen 'Ich' ist, beginnt das aberwitzige Spiel: Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken durchrasen seinen Körper seelischgeistige Zustände in einem neurokybernetischen Modell!

Oder kommen seelisch-geistige Zustände gar nicht vor, weil alle vom Traum besessen sind, was LE METTRIE als Quintessenz der Wissenschaft vom Menschen glaubte zu wissen. Wenn 'Seele' und 'Geist' des Menschen nur Hirngespinste sind, oder nur Namen dafür, dann werden andere Erklärungen für menschliches Verhalten notwendig sein in MATRIX jedenfalls werden Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Wünsche mit denjenigen 'intelligenten Maschinen' identifiziert, die omnipräsent sind, und während die Menschen um ihre Energie kämpfen, ist er selber zu einer Energiemaschine geworden abhängig von Computerprogrammen.

Kann man sich seiner selbst sicher sein, der Phänomene, des Selbstbewußtseins; besteht unser Handeln nur noch im physiologisch-physikalischen-biochemischen Bereitschaftspotential, das mit dem Ausführen einer Handlung gleichzusetzen ist, zu dem eine Person den Entschluß faßt, die schwarze oder die grüne Taste zu drücken?

Alles erscheint künstlich errechenbar zu sein, das GÖDEL-ESCHER-BACH Prinzipum es paradox zu formulieren: Die Handlungsentscheidungen sind längst gefallen, und wenn eine bewußte Intention ausgebildet erscheint, ist sie in diesem Augenblick keine Realität mehr.

Wir haben uns verloren im Datenraum, der Cursor zeigt uns den Weg, eMails bringen uns ans Ende der Welt, wir empfangen, obwohl wir wissen, daß das, was sich über Bits und Bytes als Energiemenge einen Weg bahnt, uns schon 200 Millisekunden voraus ist. Kausale Grundlagen für Handlungsentscheidungen wird es wohl immer weniger geben: Der Mensch im Netz! Und alle folgen den Computerprogrammen das ist so steril, daß die MATRIX wieder manipulierbar erscheint. Und die irrealen Rebellen hacken munter darauf los; sie sind Hacker, die mit ihren Gehirnen das tun, was sich so schön in den 'chirurgischen Eingriffen' der NATO niederschlug: Drücken sie Taste, und zwar, wann und wo sie wollen! Die Experimentatoren der SoftwareAgenten haben inmitten einer virtuellen Realität eine irrealen Platz, umgeben sich mit einem elektrophysiologischen Gehirn, mit dem sie Ereignisse in ihrer Schein-Umwelt beeinflussen können und stimulieren diese mit übemenschlichen, sogar übernatürlichen Geschwindigkeiten. Das ist schon wieder so irrational, daß der Begriff der 'Vernunft' dauernd vor den Augen verschwindet. Wenn eine schöne Lederlady zu Karatekämpfen ansetzt, im Kung-Fu-Stechschritt reihenweise 'Kopfagenten' ausschaltet, nahezu mühelos die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzt, sich im Wirbel der Zeitströme mit Gewehrkugeln herumschlägt; dann ist der Plan die Handlung, die Handlung die Ausführung.

Ein rationales Seiendes ist eins, dessen Überzeugung man eher durch Worte als durch Zwang verändert: Menschliche gegen künstliche Intelligenz der Tod des selbstbestimmten handelnden Menschen ist im Cyberspace mit dem Ende des realen Körpers vorprogrammiert. Gespräche lassen sich nicht mehr durch Argumente beeinflussen; die künstliche Welt geht eben am Gehirn vorbei und schafft sich ein Gehirn in der MATRIX; ursachenlos, nicht mehr in einer kulturellen Umwelt lebend.

Erinnern ist Erkennen: Wenn Erinnern keine Vergessenskatastrophe bleiben soll, dann ist es ein Fehlschluß, die 'Krone der Schöpfung' als technisch beliebig manipulierbar darzustellen; doch das erscheint nur als ästhetisierende Theorie der Computer ist die Belohnung für den neuzeitlichen Menschen, der mit ihm zwischen Fernsehen und Buchkultur stehend seine endgültigen Gitterstäbe gewählt hat.

Hirnforscher und Neurobiologen, das computerisierte Technopol haben die Realität längst verändert, abgebildet, verfilmt, und immer wieder ein bißchen mehr normalisiert: Weil das Gehirn wohl diesen permanenten Stimulus benötigt, um eine Maschine zu werden, Sprache zu verstehen, zu produzieren und mit anderen in den kommunikativen Austausch zu treten, deshalb ist der Wachzustand der Traumzustand, das In-Sich-Versunkene, der Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. Atemberaubend ist es allemal: Der Wahrheit sind mehr als enge Grenzen gesetzt; ständig klingeln Telefone, Zahlen stürzen in sich zusammen, Scheinwelten werden aufgetan, eine schier endlose Reise durch Raum und Zeit läßt Verfolger in Häuserschluchten stürzen die Kamera fängt bedrohliche Bilder ein.

Neurotechnisch zugerichtete Labormonster erreichen den Träumenden, der die ironische Erlösungsgeschichte zerhackt bis alle Welt glaubt, daß jeder neurokybernetische Vorworf der Verhaltensmodelle ins Leere abdriftet.

Weit gefehlt: Das 'Licht der Vernunft' bleibt die computerisierte Welt, die Apokalypse, die in die Moderne eingebunden und terminologisch synthetisiert ist. 'Erleuchtet' ist zum Schluß niemand. In Bezug auf die Metaphern, mit der der Film umgeht (Weltfluchten, (Schein-)Realitäten, Bilder, Mythen, Geschichten, Figuren und Handlungsstränge), ist alles surreal. NEO sagt einmal 'Es ist alles nicht so real! in sympathischerweise ist das trotzdem konsequent gedacht: Der Mensch bleibt eine Maschine! Nur, von wem er erleuchtet wird, dürfte bis ans Ende der Welt unklar bleiben.

MATRIX setzt alles auf's Spiel, womit wir gelernt haben, umzugehen: Komik, Mimik, Gestik, Gewalt, Zerstörung, Rausch, Liebe (wenn es sie gibt?), Zugehörigkeit, Romantik, Poesie ein komplettes Gedächtnisund Vergessensdrama bahnt sich an. 'Denn alles was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht', läßt GOETHE MEPHISTOPHELES sagen MATRIX hat diese monumentalische Geschichtsbetrachtung bestens verstanden, es hat sie frei Haus geliefert, die großen Computergestalten, die vernetzten Ereignisse, die dunklen Grundierungen vom Tod der Megamaschine Mensch. LA METTRIE meinte, vom Menschen als eine Art 'erleuchtete Maschine' reden zu müssen.

Sollten wir uns von dieser Gleichung MENSCH=MASCHINE=GEIST provoziert fühlen?

Weg mit allem Vergangenen! Es gibt keine Wahrnehmung mehr, keine Wahrnehmung der Realitätsie findet sich wieder in den tiefsten Schichten des Menschheitsgedächtnisses; wir folgen dem digitalen Code; Kinobilder zielen darauf ab, Weltflucht und Realität zu vermengen; alles wird zum Bildschirm, der beliebig zu (ver-)ändern ist: Das kausale Netz hat keinen Platz mehr in unserem Modell alles erscheint aufgehoben und untergeschoben, ehrenrührige und unverzeihliche Vergeßlichkeit bricht sich Bahn; hemdsärmelig und pragmatisch; das Leben ist ein Videospiel, ein Rausch, eine Orgie von Gewalt Zerstörung, das Ende!!

Sollten sich alle tiefsten philosophischen Fragen mit der MATRIX erledigt haben? Offenbar fällt der neuzeitlichen Philosophie zur Frage des exklusiven Bewußtseins nicht mehr viel ein. Vielleicht hat sich der Film deswegen auf diese Frage gestürzt?

Es gibt keine Bewußtseinswissenschaftalles nur Multimediaproduktionen? Wenn ein Raunen und Rauschen aus weiter Ferne an das Hörorgan der Zuschauer dringt, liegt ein Schleier der Abwesenheit auf die Tagträumer; Untote bekommen Schauspielerpreise verliehen, die Träumerei liegt auf den Wiesen der Kindheit begraben: Das Röhrensystem, durch das der Schaltplan des Weltrechners in die Tiefe stürzt, wird wie im Sturm genommen, taucht an anderer Stelle in neuen Scheinwelten wieder auf.

MATRIX nimmt einen wie ein Orkan gefangen, und wenn die Fußgängerzone der Scheinwelt betreten wird, steht TERMINATOR vor einem, runderneuert, bizarre Beklemmungen hervorrufend. Kunst, Kultur, Realität, Fiktion, entstanden in den Gehirnen von Software-Designern? Egal, darum geht es nicht, es geht auch nicht um Gummi, Glatzen, Sonnenbrillen und Lack-Leibchen.

Es geht schlicht um eine virtuelle Realität, um die Zukunft des autistischen Wahnsinns, daß jemand ein Loch ins Glasfenster schießt und gleichsam wieder metaphorisch-formalistisch zukleistert; es geht um das wahre Unglück in einer falschen Welt.

Anmerkung: THE MATRIX läuft seit dem 17. 06. in den Kinos. Regie: LARRY/ ANDY WACHOWSKI. Darsteller: KEANU REEVES (spielte in SPEED an der Seite von SANDRA BULLOCK) als NEO, CARRIE-ANNE MOSS (TRINITY), LAURENCE FISHBURNE, JOE PONTOLIANO und HUGO WEAVING; Spieldauer: 136 Minuten; Soundtrack mit; PROPELLER HEADS, MINISTRY, CHEMICAL BROTHERS, RAGE AGAINST MACHINE.  

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