Was ist wirklich an der Wirklichkeit und was immateriell
Neun Erfahrungen aus sozialen Kämpfen mit dem Sozialamt

von Antonin Dick

08-2014

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1.
Meine Kämpfe mit dem Sozialamt dauerten von Herbst 2013 bis Frühjahr 2014. Sie entstanden dadurch, dass mein monatliches Salär, Rente plus Grundsicherung, nicht mehr ausreichte, mein Leben zu bestreiten. Als Kind von aus der Emigration zurückgekehrten Naziverfolgten bin ich unverschuldet in diese prekäre Situation geraten. Über zwölf Jahre, von 1999 bis 2012, pflegte ich meine liebe Mutter Dora Dick sel. A., eine Überlebende des Holocaust, ohne je dafür einen Groschen erhalten zu haben. Den Beruf konnte ich nicht mehr ausüben. Dennoch sagt das Sozialrecht der Bundesrepublik eindeutig, dass Hilfe unabhängig davon, ob der Bürger verschuldet oder unverschuldet in soziale Not gerät, gewährt wird. Ich lag und liege aber mit mehr als einhundert Euro unter der Armutsgrenze. Ich habe eine sozial gestützte Wohnung mit Heizung, kann mich ernähren, um satt zu werden. Und ich habe ein sozialgestütztes Ticket für die öffentlichen Verkehrsmittel in meiner Stadt. Aber da ist der geistige Hunger, alles, was zur gesellschaftlichen Teilhabe zählt: politische, soziale und kulturelle Teilhabe. Muss ich, wenn ich ein Gedicht schreiben will, mir überlegen, ob ich mir Schreibpapier oder Brot kaufe? Kratze es in eine Häuserwand, sagt mir eine innere Stimme, und hör endlich auf mit den maßlosen Übertreibungen. Mir steht die unentgeltliche Nutzung der Stadtbibliothek zu, aber von der Nutzung der Staatsbibliothek bin ich aus Kostengründen ausgeschlossen. Wenn ich an Zusammenkünften politischer oder literarischer Gruppen oder auch größeren Foren teilnehmen will, kann ich mir kein Getränk leisten. Weil ich mich dafür schäme, bleibe ich lieber zu Hause. Oder: Mein Arzt verschreibt mir Hausgymnastik, aber der Erwerb der dazu erforderlichen Gymnastikmatte treibt meine Schulden in die Höhe. Eine Wanderung ins Berliner Umland mit meiner Wandergruppe wird zur unerträglichen finanziellen Belastung. Extrazahlungen bei den öffentlichen Verkehrsmitteln und Einkehr in eine Gaststätte stehen an. Schweigsam wie ein Pilz löffle ich meine Pilzsuppe. Im Grunde genommen bin ich in die DDR, aus der ich emigriert war nach einem Berufsverbot wegen einer Inszenierung einer Theaterperformance gegen das atomare Wettrüsten in Ost und West, angeordnet von einer korrupten Funktionärskaste, die heute noch mit ihren nationalbolschewistischen Versuchsanordnungen ihr Unwesen treibt, nach der Wiedervereinigung wieder zurückgekehrt. Weil wie dort Sättigung garantiert wird. Allen Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen, Grundsicherungsempfängern und Asylbewerbern wird Sättigung garantiert. Das ist zweifelsohne ein Riesenfortschritt. Massenhunger führte zur Herrschaft der Nazis im Jahre 1933. Aber das bloße Gegenteil des Massenhungers kann zu einer Art sozialer Faschismus ohne Nazis führen.

2.
Nachdem ich das Sozialgesetzbuch aufgeschlagen hatte, begann ich, mir Schikanen des Sozialamtes einzuhandeln. „Lege den Finger auf jeden Posten“, sagte das Sozialgesetzbuch mit jeder Zeile. Doch nach einer Weile musste ich passen: „He, Sozialgesetzbuch, du bist voller Aporien.“ Doch es antwortete nicht. Und so lernte ich, dass die Schikanen nicht in der Bosheit meiner Sachbearbeiterin begründet sind, sondern in der Absicht, auf die Aporien einzuschlagen mit ihrer bürokratischen Fliegenklatsche. Ich war nicht gemeint, wenn ich auch Schläge abbekam. Die beiden Wuppertaler Sozialkämpfer Frank Jäger und Harald Thomé stellen nämlich in ihrem „Leitfaden Alg II / Sozialhilfe“ unmissverständlich klar, dass, wenn alle Rechtsvorschriften des Sozialrechts von den ca. zehn Millionen Transferempfängern optimal ausgeschöpft werden, der Staat sofort bankrott wäre. Also muss unterdrückt werden. Also muss gekämpft werden.

3.
Die französische Dichterin und Erzählerin Marguerite Duras schrieb in ihrem Buch „Sommer 1980“, in dem es auch um die polnische Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“ geht: „“Wer isst, gilt als freier, als genügsam-fügsamer Mensch. Der genügsam-fügsame Mensch braucht über nichts mehr zu klagen, vorausgesetzt, er kann essen, soviel ihm beliebt. Der Mensch in den sozialistischen Ländern erscheint somit eingeschränkt auf eine Definition, die sich auf die Nahrungsaufnahme begrenzt. Denn die Gesellschaft benötigt nichts so sehr wie ihn, diesen wohlgenährten Menschen, um den Sozialismus aufzubauen. Nun ist es aber nicht so, dass im selben Maße, wie der Hunger beim Menschen einen Zustand des Leidens und der Unfruchtbarkeit hervorruft, die Abschaffung dieses Leidens einen Zustand des Glücks und der Fruchtbarkeit bewirkt. Der Zustand des Gesättigtseins ist ein Zustand ohne Interesse; indes müsste er ein natürlicher Zustand sein, der dem Menschen das Nachdenken über sich selbst ebenso erschlösse wie seine wesensmäßige Einsamkeit, sein Unglück, seine Intelligenz, welche letztere auch die Sehnsucht nach seinem legendären Hunger, seinen Misserfolgen, seiner uranfänglicher Unbehaustheit umfasst. Hier aber, wo der wohlgenährte Mensch ein Ziel verkörpert und der sozialistische Sieg über den Hunger allenthalben zu einer wichtigen Rechtfertigung erhoben wurde, macht sich der wohlgenährte Mensch schuldig gegenüber dem eigenen Leben, das heißt, schuldig machen sich die andern, in seinem Namen. Seit jeher gilt der Hunger als Skandal, aber niemals seine Ausbeutung.“

4.
Der Vorsitzende der Linkspartei kündigte kürzlich an: „Wir werden die Armut skandalisieren.“ Lange vorher habe ich mit meinen veröffentlichten Reports, Petitionen und Analysen meine Existenz skandalisiert, und ich bin bis an die Grenze der Selbstentblößung gegangen. Vor allem mit der Expertise „Ein Sozialfall. Heimgesuchte Fremde in der Nähe. Heimgekehrte Emigranten in der Fremde. Fremdgekehrte Emigranten in der Heimat.“ Ich habe meine biographische Besonderheit, das Schicksal eines Verfolgtenkindes, das in den deutschen Nachkrieg geworfen wird, weil seine kommunistischen Eltern am Aufbau eines antifaschistischen und demokratischen Deutschland teilnehmen wollten, in die Zentren der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gestellt, nicht zuletzt durch die Veröffentlichung bei TREND. Das Sozialamt muss mir aufmerksam zugehört haben, obwohl ich nichts davon erfahren habe, denn ich spürte plötzlich seine Bereitschaft, mir auf vielfältige Weise helfen zu wollen, vor allem dadurch, dass es mir via sozialrechtliche Neubewertung meiner publizistischen Tätigkeit, die der Aufarbeitung der Quellen des Faschismus gewidmet ist, meine Lage wesentlich verbessert hat. Der gesellschaftliche Wert meiner publizistischen Arbeiten zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus wurde erstmals vollgültig anerkannt. Aber es ist zu bezweifeln, ob dies ohne Selbstskandalisierung, die mich große Überwindung gekostet hat, geschehen wäre. Der Grundvorgang ist verallgemeinerbar. Jeder unter die Armutsgrenze Gefallene in dieser Republik möge von sich erzählen. Er sollte die Besonderheit seines Unglücks und seines Unvermögens darstellen und veröffentlichen. Im kleinen Kreis, in sozialen Netzwerken, in Foren, in Medien, in wissenschaftlichen Umfragen. Jetzt kommt es darauf an, dass jeder dieser Depravierten klarstellt, dass er über genügend biographisches Kapital verfügt, um Individualität zu leben. Dass er bereit ist, seine wertvollen Erfahrungen mit seinem gefährdeten Lebensprozess weiterzugeben. „In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren“, führen Marx und Engels im „Manifest der kommunistischen Partei“ aus, um dann das Bild des Gesellschaftlich-Neuen zu entwerfen: „In der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozess der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern.“ Wir könnten heute schon damit anfangen, wenn alle Depravierten bereit wären, ihre Armutserfahrungen zu kommunizieren, zu vergesellschaften. Diese vielen individuellen Lebensprozesse sollten das Licht der Welt erblicken. Sie sind aufgehäufte soziale Arbeit von Ausgegrenzten, die in der Statistik der bezahlten sozialen Arbeit gar nicht vorkommt. Das und nur das wird auf die Gesellschaft verändernd einwirken. Nicht das Predigen über die Gesellschaft, die es so gar nicht gibt, wozu die Deutschen, vor allem linke Deutsche neigen, denn nach Nietzsche sind die Deutschen ein theologisches Volk. Es gilt, den archimedischen Hebel der eigenen Existenz zur lebendigen Anschauung zu bringen: für sich, für andere. Das ist keine Frage der Stärke. Jeder kann das. Auch ein Gebrechlicher. Ein Kranker. Gerade der. Und wenn es in Form eines einzelnen Gedichts geschehen sollte. Alles erste, offene und über sich selbst hinausgehende Reden im Stillen oder im öffentlichen Raum birgt die Kraft zu einem Gedicht, und ein Gedicht umgreift das Universum in einem Individuum, dem gesellschaftlichen wie dem naturwüchsigen.

5.
Die Exekutive war in dem Konflikt stets bemüht, sich nicht das Gesetz des Handelns aus der Hand nehmen zu lassen. Legislative und Jurisdiktion galten ihm, dem administrativen Mittelpunkt, als konzentrische Kreise des Handelns. Hier gab es Interessengleichheit mit mir, denn ich wollte auf jeden Fall eine Konfliktlösung mit dem Amt, nicht gegen es, weil ich als entscheidende Größe bei Konfliktlösungsprozessen grundsätzlich das Vertrauen ansehe. So vermied ich von vornherein den Gerichtsweg, den ich durchaus hätte beschreiten können. Mit meiner Petition an die Bezirksverordnetenversammlung rief ich zwar die Legislative auf den Plan, aber ich wusste natürlich, dass hierzulande Legislative und Exekutive aufs Engste miteinander verbunden sind.

6.
Die Arbeitsgruppe „Aktives Altern und Sozialschutz“, die ich gründete und die zur Erarbeitung der Expertise geführt hat, hat sich aufgelöst. Die Kraft der Menschen wird geschluckt vom Kräfte raubenden Alltag auf der Suche nach Gerechtigkeit. Sie wird geschluckt von den gewaltigen Energien, die nötig sind, diese gewaltigen Schwungräder des massengesellschaftlichen Räderwerkes mit den fünf Hauptspeichen Arbeit, Gesundheit, Soziales, Bildung und Armee in Gang zu halten. Es wird nach Mitteln und Wegen zur Neubelebung dieser wichtigen Arbeitsgruppe gesucht. Bedrängte Individuen müssen sich solidarisch zusammentun, um nicht unterzugehen. Es ist aber schwer, eine solche Gruppe am Leben zu halten. Ein nicht geringer Teil des hiesigen gesellschaftlichen Lebens ist vermachtet. Die Freiräume werden geringer. Die Freiheit des Individuums wird ganz offensichtlich von einem Riesenhaufen aufgehäufter sozialer Arbeit, die niemand kennt, geschluckt.

7.
Her mit einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle? Hier konfrontiert sich der Schrei nach Gerechtigkeit mit den Aporien des Sozialrechts. Und zerstört die Illusionen und Spiele der politischen Eliten. „Zerstörend ist denn auch die Gerechtigkeit, die destruktiv den konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechts Einhalt gebietet“, schrieb Walter Benjamin zwei Jahre vor Hitler. Aber kann dieser Schrei nach Gerechtigkeit, der sich gegen das soziale Recht auflehnt, mehr sein als ein kommunistisch gedachtes Gegenmittel gegen die Fallstricke des Sozialrechts der bestehenden Ordnung? Mehr als eine wichtige Drohung gegenüber Übermut und Tollwut des entfesselten Kapitalismus? Sollte man tatsächlich diese Idee des bedingungslosen Grundeinkommens in die Praxis umsetzen? Landen wir da nicht alle im angeblich guten Staat, also wieder in einem Staatssozialismus mit dem wohlgenährten Menschen im Mittelpunkt der Gesellschaft? Da war die sozialamtliche Kommune klüger, um nicht zu sagen lokal-kommunistischer, als es mich aus einem drohenden Rechtsstreit regelrecht herauszog, indem es meine zusätzliche publizistische Tätigkeit fortan nicht mehr als unselbständige, sondern als selbständige Arbeit einstufte, und dies mit dem Vorzug für mich, dass mir diese zusätzliche Arbeit hundertprozentig als Freibetrag zuzüglich zur Grundsicherung anerkannt wird. Also eine Spezialregelung schuf vergleichbar mit der für Langzeitarbeitslose. Aber dieses Ergebnis musste erkämpft werden. Es war dem Sozialamt zu Beginn der Auseinandersetzungen ebenso wenig bewusst wie mir. Es war eine individuelle Lösung nach einem monatelangen harten Ringen zwischen zwei gleichberechtigten Akteuren, in welchem Biographie, Arbeitsvermögen und die Kraft des veröffentlichten Lebensprozesses auf der einen und der gebündelte staatliche Wille zur Beherrschung der sozialrechtlichen Aporien auf der anderen Seite als spontan wirkende Konfliktkräfte zur Geltung kamen. Mein Fazit: Jenseits der abstrakten Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens könnte man die Lebensbedingungen der Transferabhängigen sofort spürbar humanisieren: Erhöhung des Transfersatzes um den Betrag, der nötig ist, damit die Betroffenen nicht mehr der Armut anheimfallen. Und dies mit dem zusätzlichen Effekt, dass man der Schwarzarbeit das Wasser abgräbt. Dass man den Riesenhaufen aufgehäufter sozialer Arbeit minimiert. Dass individualisierte sozialamtliche Lösungen auch individualisierte sozialamtliche Lösungen bleiben und nicht Gefahr laufen, einem sozialen Erlöser in die Hände zu fallen.

8.
Ich weiß nicht, ob ich mich ohne den drohenden Hunger den modernen französischen Zivilisationskritikern angenähert hätte, die ihre Handys und Laptops wegwerfen und in solidarischen Gruppen eine außerkapitalistische Lebensweise erproben. Annäherung an Rousseau. Annäherung an das Naturrecht. Annäherung an Rimbaud, der in seinem Gedicht „Feste des Hungers“ der Diktatur des Verbrauchs den Kampf ansagt. Auch wir, die wir unter die Armutsgrenze gedrückt werden, aber eben so, dass wir gerade noch als Gesättigte davonkommen, profitieren von der Diktatur des Verbrauchs. Wir haben uns daran gewöhnt, uns gemein zu machen. Wir werden von den Diktatoren des Verbrauchs davor geschützt, auf die südliche Hemisphäre des Erdballs zu fallen, wo Krieg und Hunger herrschen. Wir sollen vergessen wie sie. Rimbaud rebellierte gegen diese Korruption: „Hunger, zieh dass frohe Gift / Der Winden aus; / Iß die / Steine, die die Armen brechen, / Quadern alter Kirchenmale, / Kieselkinder, diluviale, / Brote, verstreut im grauen Tale!“

9.
Reiche den Menschen der südlichen Hemisphäre die Hand, indem du dein Gedicht in die Häuserwände ritzt, höre ich wieder die innere Stimme, ein Gedicht über die im grauen Tale. Ein Gedicht auf Papier ist fast schon so etwas wie Verrat, findest du nicht auch?

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Weitere Artikel von Antonin Dick zu diesem Thema:


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