Editorial
Über Geschichte und Geschichtslosigkeit

von Karl Mueller

08/2016

trend
onlinezeitung

Am 1.8.2016 begann der "Tagesspiegel" mit dem 1. Teil seiner "Serie Berlin Wahl 2016" zu den  Abgeordnetenhauswahlen am 18.9.2016. Nicht zufällig titelte er seinen Artikel zur Wohnungsfrage: "Der Häuserkampf der Parteien gegen Wohnungsnot", denn - noch nicht solange her - herrschte im Frühsommer 2015  helle Aufregung im bürgerlichen Blätterwald, weil die sogenannte Mietenvolksentscheid-Inititative mit Leichtigkeit 50.000 Unterschriften für ihren sozialpartnerschaftlichen Reformvorschlag eingesammelt hatte. Nicht die Inhalte des Vorschlags schreckten damals das herrschende politische Personal und ihre Verlautbarungsorgane, sondern der Legitimationsverlust, der darin bestand, dass man nicht selber auf solche wohnungspolitischen Befriedungskonzepte gekommen war.

Heute stellt sich die völlig Sache anders dar. Durch geschickte Geheimverhandlungen des Senatspersonals mit den Initiatoren wurde der Volksentscheid abgewürgt und kostenkünstige und systemstabilisierende Vorschläge aus dem Volksentscheid-Vorschlag wurden entnommen. Die Rathausparteien und ihre Opposition ringen nun im Wahlspektakel um die richtige Anwendung dieser Bruchstücke und führen so exakt den Häuserkampf weiter, wie er von den Verhandler*innen der Mieter-Inis immer begriffen worden war: Rendite mit der Miete - aber nicht ganz so hoch ("bitte ehrliche Preise").

Nachdem es dem herrschenden Personal in dieser Stadt gelungen ist, die breite Front gegen ihre Mieten- und Wohnungspolitik, wie sie sich im September 2011 aufstellte, zu zersetzen - viele machen nun Party statt Politik - muss jetzt  der unbelehrbare Rest kriminalisiert werden. Dies spiegelt sich brennglasartig in der fadenscheinigen Inhaftierung von Aaron und Balou wider.

TREND hat den Aufschwung der mietenpolitischen Bewegung bis zu ihrem Niedergang berichtend, kommentierend und mit eigenen Veranstaltungen begleitet. Uns ging es immer darum, die Bewegung  in ihrer Widersprüchlichkeit darzustellen und der dort verbreiteten Grundhaltung entgegen zu treten, auf Geschichtswissen und Gesellschaftsanalye verzichten zu können, da mensch ohnehin im Hier und Jetzt der Strukturen eingeschlossen sei. Natürlich sind die meisten Broschüren, Aufsätze und Filme, die diese Bewegung hervorbrachte, nicht ohne Geschichte und dennoch sind sie geschichtlos. Es wird zwar die eigene Betroffenengeschichte erzählt, aber die Erzählung klebt an einem Gesellschaftsbild, das nur Strukturen aber keine Entwicklung im Sinne eines umfassenden historischen Prozesses kennt. Folglich gibt es auch keine Untersuchungen der spätkapitalistischen Produktions- und Reproduktionsphären, sondern - wenn - nur Meinungen darüber in trauriger Beliebigkeit.

Glücklicherweise gibt es immer noch Reste einer stadtpolitischen Praxis, die sich gegen die kapitalistische Verwertung von Häusern und gegen die entsprechenden Staatfunktionen richtet. Dazu gehören halt auch militante Aktionen und ziviler Ungehorsam.

In dieser Ausgabe veröffentlichen wir eine Replik von DGS auf die jüngsten Schönfärbereien eines untergegangenen voluntaristischen Projekts mit dem anspruchsvollen Namen "Neue antikapitalistische Organisation". Aber auch hier zeigt sich trotz argumentativer Spitzigkeiten und zahloser Stories aus dem Nao-Projekt sowie einer pusseligen NaO-Chronologie, die DGS vorlegt, dass sie das politisch-ideologische Niveau der angegriffenen Positionen selbst nicht überschreitet. Auch bei ihr wird Geschichte auf die Geschichte der NaO-Gruppe reduziert und bleibt daher ein reiner Szenebericht.

Und so fragen sich geneigte Leser*innen wahrscheinlich: Wäre es nicht klüger gewesen, wie Wal Buchenberg & Co. mit ihrem toten Bochumer Programm zu verfahren und die tote NaO einfach in Ruhe zu lassen?

DGS Replik ist ahistorisch und entspricht leider dem linken Zeitgeist, weil sie das NaO-Projekt völlig lostgelöst von der Entwickung des Klassenkampfes und der sich verändernden Klassenstrukturen behandelt. Folglich fehlt auch die selbstkritische Verortung und Bewertung des eigenen Beitrags beim Aufbau und Scheitern des Minizirkels NaO als ideologischer Strömung im linken Spektrum - immerhin trat die AutorIn zu Zeiten des NaO-Projekts für den "revolutionären Bruch"  als Glaubensbekenntnis ein, um dieses Bekenntnis von anderen als Voraussetzung gemeinsamer Organisierung zu verlangen.

Unter ideengeschichtlichen Gesichtspunkten zeigt sich exemplarisch sowohl am Niedergang der antikapitalistischen Wohnungspolitik in Berlin als auch am kläglichen Scheitern der NaO,  dass "Kritische Theorie" und "Strukturalismus" wie ein Alp auf den Gehirnen der Akteur*innen lasten.  Dieser "Marxismus ohne Klassen" (Georg Klauda), der nicht zuletzt in "Geschichte und Klassenbewußtsein" des jungen Lukács gründet, ist mit seinen voluntaristischen Verkürzungen und Enthistorisierungen ein wahrer Nährboden jenes Alps.

"Hast 'Du Geschichte und Klassenbewußtsein' von Lukacs eigentlich gelesen? Und ist jene 'Erledigung' des Buches durch Deborin oder wen sonst auch in deutscher oder einer anderen Sprache als der russischen zugänglich? Sie würde mich aufs höchste interessieren.",  schreibt 1925 Walter Benjamin an Gershom Scholem (W.Benjamin, Briefe, Ffm.1966, Bd.I, S. 396).

Jene von Walter Benjamin bei seiner Suche nach einer dialektisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung erbetenen fundamentalen Kritiken an Lukács reprinten wir seit der diesjährigen Maiausgabe und hoffen, damit einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, den idealistischen Alp aus den Hirnen zu vertreiben. Denn solange es der revolutionären und antikapitalistischen Linken nicht gelingt, den Gedankenkitt aus Kritischer Theorie, (Post-)Strukturalismus und Althusser-Versatzstücken  ideologisch zu besiegen, wird die geschichtslose politische Praxis der Linken  folgenlos zwischen revolutionärem Glaubensbekenntnis und sozialpartnerschaftlicher Politikberatung hin- und heroszillieren.