Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Sarkozys « Krieg » gegen das Nichtfranzösische
Frankreichs reaktionärste Regierung seit 1944 in Aktion
 

09/10

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Frankreichs « nationaler Krieg gegen die Kriminalität » mitsamt Roma-Abschiebepolitik eskaliert. Aber auch die inländische und internationale Kritik daran nimmt massiv zu. Ein angekündigter Regierungsentwurf für die Ausbürgerung « französischer Straftäter ausländischer Herkunft » wurde inzwischen vorgelegt. Am Samstag, den o4. September protestierten Bürgerrechtler/innen, Gewerkschafter, Antirassismus- und Menschenrechtsvereinigungen gegen den französischen Staatsrassismus und Sarkozys « Sicherheits »offensive seit Ende Juli. Rund 100.000 Menschen demonstrierten in 147 französischen Städten.

An diesem Wochenbeginn ist für Kinder und Jugendliche in ganz Frankreich Unterrichtsanfang: Am vergangenen Donnerstag, den 02. September fanden die Einführungsveranstaltungen statt. Und am Montag und Dienstag dieser Woche sollte der Lehrplan beginnen. Auch wenn der Schuljahresanfang gleich zu Anfang von einem mehrtägigen und stark befolgten Streik des Lehrpersonals, unter anderem gegen die Rentenreform, am 06. und 07. September markiert ist. Aber noch aus anderen Gründen hatten die ersten Schultage im Pariser Vorort Choisy-le-Roi, der südlich der Hauptstadt - an der Seine entlang gestreckt und bereits in der Einflugschneise des Flughafens Orly - liegt, einen besonderen Touch.

So wird eine Turnhalle, die normalerweise von rund 700 Grundschülern genutzt wird, in absehbarer Zeit nicht zugänglich sein. In ihr sind seit Mitte August, mit Zustimmung des KP-geführten Rathauses, siebzig zuvor aus der Umgebung der Stadt polizeilich vertriebene Roma untergebracht. Unter ihnen sind 23 Kinder, im Alter von derzeit anderthalb Wochen bis zehn Jahren. Aus diesem Grund werden mehrere Grundschulen der Stadt zugleich neue Mitschüler haben. Das Rathaus hat beschlossen, für jene Romakinder, die schlecht Französisch sprechen, anfänglich gesonderte Förderklassen einzurichten.

Die Rechnung dafür wird sie direkt an Bildungsminister und Regierungssprecher Luc Chatel schicken, wie KP-Bürgermeister Daniel Davisse am Abend des Sonntag, 29. August erklärte. Zu dem Zeitpunkt sprach er als einer der Redner auf einer Unterstützungskundgebung für die Roma am Eingang der Turnhalle. Dass die Schulkinder vorübergehend keine Turnhalle haben werden und dass die ökonomisch schwache Stadt nun diese Menschen, die durch die Staatsmacht anderswo vertrieben wurden, kurzfristig und ohne Vorwarnung aufnehmen musste, sorgt im Rathaus nicht für Freudenschreie. „Aber wir hatten keine Wahl, wir konnten diese Menschen nicht einfach sitzen lassen“, betonen sowohl der Bürgermeister als auch Vertreter der KP und der örtlichen Sozialdemokratie, die mit regiert, auf der Kundgebung. Dort traten auch Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, der als progressiv geltende und vom Vatikan geschasste Ex-Bischof Jacques Gaillot oder der radikal linken Partei NPA auf. Die Stadtverwaltung bringt den Menschen in der Turnhalle täglich Kaffee und Essen und sorgt dafür, dass die Kinder Zugang zu Spielen haben.

Im Morgengrauen des 12. August räumten starke Polizeikräfte das Wohnwagencamp, in dem die überwiegend aus Rumänien stammenden Roma zuvor auberhalb der Stadt lebten. Sie wurden vor die Wahl gestellt: entweder die angeblich „freiwillige“ sofortige Ausreise nach Rumänien, oder die Zerstörung ihres Hab und Guts ohne alternative Unterkunftsmöglichkeit. Da die Menschen sich weigerten, einer „freiwilligen“ sofortigen Ausreise zuzustimmen, wurden ihre Wohnwagen durch Bulldozer zerquetscht und ihre darin befindlichen persönlichen Gegenstände beschlagnahmt. Die Betroffenen „saben buchstäblich auf dem Asphalt, ohne nichts, als wir hinzukamen“, schildert der Franzose Michel Fèvre von der Solidaritätsvereinigung RomEurope. „Ein Baby hatte 42 Grad Fieber, und wenn wir die Leute nicht rechtzeitig gefunden hätten, dann wäre es zu spät gewesen“. Andernorts hingegen irren noch aus ihren Camps vertriebene Romas in den Wäldern herum und ziehen sich, aus Furcht vor der Polizei, in entlegene Waldgebiete (etwa an den Rändern des Großraums Paris) zurück. Das fördert natürlich weder Kontaktmöglichkeiten zu ihnen noch ihre Chancen auf ärztliche Versorgung oder darauf, durch Erwerbstätigkeit ihr Brot zu verdienen.

Die Notlage wurde im Falle von Choisy-le-Roi durch die Verantwortlichen schnell erkannt. Daraufhin einigten die Unterstützergruppen, die politischen Parteien der links regierten Stadt und die Verwaltung sich auf die schnelle Unterbringung in der Turnhalle.

Dort sind an den Seitenwänden ungefähr zwei Dutzend Matratzen aufgereiht. An der Stirnseite steht ein Tisch mit Tellern und Kochtöpfen, einige Leute essen Hühnchen. Kinder spielen in der Mitte Seilhüpfen. Carola ist eine der Frauen, die vorübergehend hier leben. Mit ihrem Mann und ihren vier Kindern schläft die ganze Familie im Kasten des Fubballtors in der Turnhalle, unter dem zwei Matratzen mit Decken aneinander liegen. „In meinem Wohnwagen war es besser, aber wir hatten keine Wahl“. Seit acht Jahren lebt sie in Frankreich, ständig im Grobraum Paris. Wegen ihrer vier Kinder kann sie nicht erwerbstätig sein, „aber manchmal erhalten wir durch Betteln ein bisschen Geld“, erzählt sie. Ihr Mann lebt als Blumenverkäufer: Er kauft die Pflanzenteile bei Grobhändlern ein und bietet sie auf Märkten zum individuellen Verkauf an. Andere Männer der Gruppe leben oft vom Musikmachen, und sie führen den Teilnehmern der Solidaritätskundgebung am Sonntag Abend auch etwas von ihrer Kunst vor.

Nach Rumänien zurück, das möchte niemand von ihnen, meint Carola: „Auf keinen Fall! In Rumänien gibt es gar nichts für Roma: keine Schule, keine Arbeit, keine Wohnung“ - auber in dem, was in der Beschreibung nach einem Ghettoviertel klingt – „und wenn ich mit einem kranken Kind ins Krankenhaus gehe, dann wird es nicht behandelt. Auber, wenn ich zuerst viel Geld bezahlen könnte.“ „Frankreich ist besser“, meinen sie unisono: „Schwierig, aber besser.“ Was erwarten sie von ihrem künftigen Leben? „Eine Arbeit, eine Wohnung – so, wie die Franzosen leben -, Schule für die Kinder, eine bessere Zukunft.“ Die Gruppe von 70 Leuten weist untereinander überwiegend keine familiären Bindungen auf: „Nein nein, wir sind nicht miteinander verwandt“, meint Carola, „wir haben uns hier in Frankreich getroffen“. Bis hierher bot das Leben in der Gruppe besseren Schutz.

Nicht überall freilich läuft es derart gut für die von Zwangsräumung und Ausweisung Bedrohten ab. Auch in der Pariser Vorstadt Fleury – frankreichweit bekannt vor allem für ihre riesige Haftanstalt – fand am Samstag (28. August) eine Solidaritätskundgebung für Roma statt. Auf ihr forderte etwa der frühere KP-Bürgermeister der Stadt, Michel Humbert, den Erhalt zweier Roma—Camps in der Umgebung. Doch der aktuelle sozialistische Rathauschef, Daniel Derrouert, will ihre Räumung.

Demonstrationen in ganz Frankreich gegen „Sicherheits“-Delirium

Am vergangenen Samstag, den o4. September spielten sich in ganz Frankreich Demonstrationen gegen das repressive Delirium, das Nicolas Sarkozy seit einer Tagung im Elysée-Palast am 28. Juli sowie seiner Brandrede in Grenoble vom 30. Juli 2010 ausrief, ab. Laut einer Zählung des Bündnisses UCIJ („Vereint gegen eine Wegwerf-Einwanderung“) wurden in insgesamt 149 größeren und kleineren Städten Protestzüge statt.

Zu den Teilnehmerzahlen variieren, wie üblich, die Angaben: Das französische Innenministerium gibt sie insgesamt mit 77.300 frankreichweit an, davon 12.000 Demonstrierende in Paris. Die Veranstalter sprachen am Samstag am Spätnachmittag von über 100.000 Teilnehmer/inne/n, davon gut 50.000 in Paris. Seitdem präzisierte die Liga für Menschenrechte (LDH), sie habe rund 116.000 Teilnehmer/innen gezählt. Das Bündnis UCIJ seinerseits kam auf 162.000, wobei es weitere kleinere Städte mitgezählt hat, die in der ersten Aufstellung nicht berücksichtigt worden waren. (Vgl. http://www.contreimmigrationjetable.org/spip.php?article920 )

Nur aus sechs französischen Verwaltungsbezirken (von 100) waren vor dem Wochenende keine Demonstrationsaufrufe bekannt, wobei in Einzelfällen auch dort - etwa in den Ardennen und ihrer Bezirkshauptstadt Charleville-Mézières - doch noch kleinere Protestversammlungen vermeldet wurden.

Neben der Pariser Demonstrationen waren Nantes - eine Stadt mit Jahrzehnte alter anarchosyndikalistischer und libertärer Tradition - mit 5.000 bis 10.000 Teilnehmer/inne/n, Bordeaux mit 3.000 bis 4.000, Grenoble mit rund 7.000 sowie Marseille mit (je nach den stark schwankenden Angaben) 2.500 bis 10.000 Personen führend.

In Grenoble marschierte dabei auch der sozialdemokratische Bürgermeister der Stadt, Michel Destot, in der Protestdemonstration mit. Er hat zwar mit erheblichen Phänomenen von Kriminalität in seiner Stadt zu kämpfen - in den späten siebziger Jahren wich die Organisierte Kriminalität von Lyon, wo ihr das Pflaster unter den Füßen heiß, in diese Stadt aus -, aber lehnt die durch Sarkozy unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung just in Grenoble ausgerufene Anti-Bürgerrechts-Offensive scharf ab.

Noch in der zweiten Juliwoche hatte Destot, nachdem es zu einem Toten bei Auseinandersetzungen unter rivalisierenden Gangs oder Dealergruppen in seiner Stadt gekommen war, landesweit Aufmerksamkeit auf die Situation ziehen wollen und einen „Runden Tisch zum Thema Unsicherheit“ (Un Grenelle de l’insécurité) gefordert. Seitdem kurz darauf - in der Nacht des 16. Juli 2010 - der 27jährige Straftäter Karim Boudouda bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Grenoble-La Villeneuve starb und in der Nacht darauf dort siebzig Autos ausbrannten, hatte die französische Zentralregierung zunächst die Scheinwerfer auf Grenoble gerichtet. Dort wurde die Polizeipräsenz buchstäblich militarisiert, nächtens überfliegen Hubschrauber die Hochhaussiedlung La Villeneuve (zwischen 11.000 und 12.000 Einwohner/innen) und strahlen sie mit Scheinwerfern ab. Sondereinheiten der Polizei patrouillieren dort im Rambo-Look und mit maskierten Gesichtern, tagsüber wie nachts. Nächtens müssen die Einwohner von La Villeneuve bei der Rückkehr in ihr Wohnviertel Straßensperren passieren und sich durchsuchen lassen. Bürgermeister Destot hat diese Offensive kritisiert. Ebenso wie zahlreiche Einwohner/innen, die zwar gegen die Gewaltkriminalität von Angehöriger bestimmter in La Villeneuve ansässiger Jugendbanden - ihre Mitglieder werden auf 30 bis 50 geschätzt - eintreten und gerne ihre Ruhe vor ihnen hätten; doch nun selbst das Gefühl haben, in einem militärisch besetzten Gebiet zu leben.

Die Demonstration in Grenoble, die am Samstag rund 7.000 Menschen vereinigte, bestand deswegen aus zwei zunächst getrennten Protestmärschen, die sich späterhin im Stadtzentrum vereinigten. Ein Protestzug ging von der Innenstadt aus. Aber viele „Einwohner von La Villeneuve hatten Wert darauf gelegt, dass eine Demonstration auch von ihrem Stadtteil ausgeht“, wie ,Libération’ (vom 04. September) schrieb. Deshalb ging ein eigener Zug auch von diesem, an der Südostperipherie von Grenoble gelegenen Wohngebiet  aus - das in den siebziger Jahren im Sinne einer progressiven Utopie vom klassenübergreifenden Wohnen errichtet worden war, wohin die Verwaltung aber seit Jahren alle „Problemgruppen“ (von Langzeitarbeitslosen über Punks mit Hunden bis zu „sozial schwachen“ Einwandererfamilien) verschiebt. Zum Abschluss der Demonstrationen vereinigte beide Protestmärsche sich.

Erstmals seit längerem rief frankreichweit auch die sozialdemokratische Opposition zur Teilnahme an den Demonstrationen auf. Ebenso wie zahlreiche NGOs, Antirassismus- und Menschenrechtsvereinigungen, Linkskräfte sowie die Gewerkschaftsdachverbände CGT und CFDT.

An der Spitze der Pariser Demonstration, die am Samstag um 14 Uhr anfing, sollten symbolisch die Romafamilien aus Choisy-le-Roi und ihre dortigen Unterstützer/innen laufen. Anwesende Cafegäste auf einer Straßenterrasse an einem der Boulevards applaudierten vorbeiziehenden Gruppen von Roma - die solchen Beifall absolut nicht gewohnt sein dürften, gewöhnlich haben sie auch in Frankreich keine gute Presse. Einzelne Roma, die offenbar den Ablauf einer Demonstration überhaupt nicht gewohnt waren, versuchten die ihnen anvertrauten Flugblätter zu verhökern: „Einen Euro! Um Essen zu kaufen!“ (Ansonsten sind viele von ihnen mit dem Straßenverkauf von Obdachlosenzeitung betraut, und versuchten ihr Verkaufsverhalten wohl auch auf das Demogeschehen zu übertragen.) Seit Menschengedenken in Frankreich ansässige Sinti und Roma wie die Betreiber des „Zirkus Romanes“ marschierten vorneweg, zusammen mit den eher relativ etablierten „Landfahrer“verbänden und in größter Prekarität lebenden Neueinwanderern aus Südosteuropa.

Allerdings hatte die Demonstration in der Realität keine wirkliche Spitze: Am frühen Nachmittag liefen unzählige kleine Demonstrantengruppe von sich aus, auf relativ ungeordnete Weise, los. 15 bis 20 Minuten lang plätscherte die Demo in ziemlich aufgelockerter Form vor sich hin, bevor im Anschluss die strukturierten Demoblöcke: die Roma und „Landfahrer“verbände, dann die Kollektive der Sans papiers („illegalisierten“ Einwanderer), die Antirassismus- und Bürgerrechtsvereinigungen, dann die Gewerkschaften (einige hundert Anhänger/innen bei der CFDT, ein paar tausend bei der CGT), dann die politischen Parteien von der radikalen Linken bis zum Parti Socialiste. Zum Teil liefen die verschiedene Kräfte auch ungewöhnlich bunt durchmischt, ja wild durcheinander: ein Stück der Kommunistischen Partei mitten in der sozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT, ein bisschen SUD (linke Basisgewerkschaften) mitten im Block der CGT…

Diese anfängliche Unstrukturiertheit deutet darauf hin, dass ein hoher Anteil von Unorganisierten sich unter den Demonstrierenden befanden - prinzipiell ein positives Zeichen. Es handelt sich um die zahlenmäßig stärkste Mobilisierung zu einem antirassistischen Thema seit dem Februar 1997. Damals hatten in Paris weit über 100.000 Menschen gegen das seinerzeit in Verabschiedung befindliche verschärfte Ausländergesetz, die ,Loi Debré’, demonstriert. Voraus ging damals eine mehrwöchige „Warmlaufphase“ mit massenhaft unterstützten Petitionen gegen das Gesetz. In diesem Jahr erfolgte die Mobilisierung zur Demo unmittelbar nach der Sommerpause; und kurz vor einer aller Voraussicht nach riesig ausfallenden Mobilisierung am Dienstag (07. September) gegen die „Rentenreform“ - bei sozialpolitischen Fragen, die unmittelbar die „materielle Verteilungsgerechtigkeit“ berühren, fällt die Mobilisierung erfahrungsgemäß quantitativ weit stärker aus.

Regierungspolitiker wie Innenminister Brice Hortefeux und sein  Kollege im Einwanderungsressort, Eric Besson, zeigten sich jedoch von den Demonstrationen vom o4. September unbeeindruckt. Hortefeux erklärte, es seien „nur einige zehntausend Teilnehmer“ gewesen, und „die Veranstalter müss(t)en wohl enttäuscht sein“. Dies ist zwar Unfug, belegt aber, dass die Regierenden zum Weitermachen wie bisher entschlossen sind.

Sarkozy 2002 - Sarkozy 2010: Höher, schneller, härter

„Es gibt eine klare Verschärfung in der Regierungspolitik“, meint Bürgermeister Daniel Davisse. „Als Nicolas Sarkozy 2002 Innenminister wurde, bestand seine erste Amtshandlung darin, ein Camp von Roma hier in Choisy-le-Roi medienwirksam räumen zu lassen. Es handelte sich damals um 200 bis 300 Leute. Nur, damals wurden die Leute wenigstens nicht einfach auf die Strabe geworfen, sondern es wurden ihnen Plätze in sozialen Notunterbringungseinrichtungen gegeben. Jetzt aber ist man dazu übergegangen, die Menschen einfach ohne nichts auf dem rohen Asphalt sitzen zu lassen.“

Seitdem Nicolas Sarkozy am 28. Juli 2010 einen Gipfel im Elyséepalast abhielt, um auf Zusammenstöbe zwischen französischen „Landfahrern“ und Gendarmen im zentralfranzösischen Saint-Aignan zu reagieren, und seitdem er zwei Tage später in Grenoble einen „nationalen Krieg gegen die Kriminalität“ ausrief, stehen vor allem die Roma im Visier. Insgesamt leben zwischen 9.000 und 15.000 Roma, überwiegend (zu 85 %) aus Rumänien und Bulgarien - also EU-Ländern - zuzüglich der Länder des früheren Jugoslawien, in Frankreich. Das sind erheblich weniger als in Deutschland oder Italien.

Über 800 von ihnen wurden im Laufe des August nach Rumänien und Bulgarien ausgewiesen, wobei im Falle eines Abschiebeflugs nach Sofia ein Missgeschick unterlief: Die Ausgeflogenen waren überhaupt keine Roma, sondern bulgarische Türken (Pomaken), Angehörige einer anderen Minderheit. Am Ende der ersten Augustwoche hatte Innenminister Brice Hortefeux vermeldet, bis dahin seien 40 Camps von Roma polizeilich geräumt worden; am Freitag, den 13. August waren es ihrer 51. Inzwischen wurde (am 31. August) vermeldet, es seien insgesamt 128 Camps geräumt worden, und knapp 1000 Personen seien ausgewiesen worden.

Laut offizieller Lesart reiste die überwiegende Mehrzahl von ihnen jedoch angeblich „freiwillig“ aus. So lautet jedenfalls die juristische Fiktion, denn EU-Bürger/innen zwangsweise auszuweisen, ist ansonsten rechtlich vergleichsweise kompliziert. (Die Regierung möchte die juristischen Möglichkeiten dazu nun erheblich erleichtern und, neben der „Störung der öffentlichen Ordnung“, auch „Mehrfachdiebstähle“ und „aggressives Betteln“ als Ausweisungstatbestände einführen.) Den durch die Regierung gezogenen, angeblichen Zusammenhang dieser Abschiebungen zu Kriminalität und „Unsicherheit“ belegt schlichtweg nichts. Am Abend des 29. August meldeten die Internetseiten von ,Le Monde’ und ‚Le Nouvel Observateur’, „kein einziger“ der jetzt nach Rumänien Ausgewiesenen sei zuvor als straffällig polizeilich gemeldet gewesen. Das rumänische Innenministerium in Bukarest präzisiert, dies sei ausweislich der persönlichen Daten weder bei der französischen noch bei der rumänischen Polizei der Fall.

Sogar der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen befand am selben 29. August (beinahe), dass man hier auf Schwächeren herumtrampele. Zwar findet natürlich auch er, dass die Roma aus Südosteuropa keinen Platz in Frankreich hätten, und beklagt die europäischen Freizügigkeitsregeln als ursächlich für „das Problem“. Dennoch spöttelte er über die Regierungspolitik, sie könne sich nur an leichten Gegnern beweisen: „Die Roma schieben nicht auf Polizisten, und sie zetteln auch keine Unruhen an, wenn sie abgeschoben werden sollen.“ Und er zog ferner eine, ausgesprochen schiefe, Parallele: In den Autofahrern (als angeblicher „Melkkuh der Nation“) und den Roma habe die Regierung einfache Gegner gefunden[1].

Dem Alten Le Pen ging es dabei vornehmlich darum, andere Gruppen von Einwanderern oder Franzosen mit Migrationshintergrund stärker ins Visier zu nehmen, dennoch ist symptomatisch, dass selbst er die Roma für ungefährlich erklärt. Dies hinderte seine Partei freilich nicht daran, ihrerseits mit perfiden Sprüchen gegen die Roma zu hetzen. In Reaktion auf eine kleine Solidaritätsdemo von rund 500 Personen, die am 04. September auch in Hénin-Beaumont (der wahlpolitischen Hochburg von Marine Le Pen in Nordostfrankreich, im früheren Bergbaurevier Pas-de-Calais) stattfand, erklärte der örtliche Parteiführer Steeve Briois: „Die Politbonzen sollen die Roma doch bei sich (zu Hause) aufnehmen!“ Jean-Marie Le Pen selbst erklärte seinerseits am 05. September, die Roma seien „der Baum, der den Wald verstellt/verdeckt“, die Regierungspolitik solle sich stattdessen einmal der afrikanischen und arabischen Immigranten annehmen[2].

Diese Politik hat zu heftigen Protesten im Inland wie auf internationaler Ebene geführt. Auch wenn Innenminister Brice Hortefeux Mitte August 10 noch gegenüber ‚Le Monde’ höhnte, hier protestiere nur ein ganz „kleines Milieu von Politaktivisten und Medienleuten“, das sei die gutmenschelnde „ Linke der Milliardäre“, so hat die Opposition gegen diese Politik doch längst überraschend breite Kreise gezogen. Auch in das katholische Milieu hinein und selbst bis in den gemäßigten Teil des bürgerlichen Lagers. In einem Leitartikel unter der Überschrift „Sarkozy und die Katholiken“ berichtete die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ am 24. August über erhebliche Verwerfungen im christlichen Milieu, vor dem Hintergrund dieser Politik (vgl. http://abonnes.lemonde.fr ) An anderer Stelle war auch von „tektonischen Spannungen“ innerhalb der - bürgerlichen - Rechten die Rede. (Anmk.[3])

Zweifel sogar im Regierungslager

Der Abgeordnete der Regierungspartei UMP aus Versailles, Etienne Pinte, der bisher für eine moderat-humanistische Linie in der Einwanderungspolitik stand (jedoch innerhalb der Regierungsrechten zunehmend Einzelpositionen verfocht), hat nunmehr beispielsweise angekündigt, seiner Partei definitiv den Rücken zu kehren. Ebenso stellt die christlich-soziale, dem Papst nahe stehende und in gesellschaftspolitischer Hinsicht eher konservative Politikerin Christine Boutin sich und ihren Anhänger/inne/n die Frage eines solchen Austritts. Auch Amine Benalia-Brouch, ein junger Vorzeigepolitiker mit Migrationshintergrund, der Anfang September 2009 (vor genau einem Jahr) Opfer rassistischer Sprüche von Innenminister Brice Hortefeux geworden war[4], hat inzwischen im August 2010 die UMP verlassen.

Am Montag, den 30. August erklärte sogar der als notorisch geldgierig und eitler Fatzke bekannte Aubenminister Frankreichs, Bernard Kouchner, er sei von Zweifeln erfasst worden und habe aus diesem Grund „vorübergehend an Rücktritt gedacht“. Im Anschluss habe er den Gedanken jedoch verworfen, denn „das hätte den Roma auch nichts genützt“. Außerdem wäre Rücktritt ihm als „Fahnenflucht“ erschienen. Der frühere Premierminister Dominique de Villepin – der freilich auch durch seine langjährige politische Rivalität mit Nicolas Sarkozy motiviert sein dürfte – sprach, mit Hinblick auf die Abschiebungen von Roma sowie die Sprüche Sarkozys zur „Ausländerkriminalität“, in ‚Le Monde’ von „einem Flecken der Schande auf unserer Flagge“. Daraufhin warf Premierminister François Fillon ihm vor, Schindluder mit der Nationalfahne zu treiben. Innenminister Brice Hortefeux sprach von einer „moralischen Verfehlung“ de Villepins. Und der Vizepräsident des rechtsextremen FN, Bruno Gollnisch, pflichtet ihm bei, die Kritik des früheren Premierministers sei „völlig verantwortungslos“. Allerdings sei dies nicht als Zustimmung zu den „schwachen Mabnahmen“ (mesurettes) der Regierung zu werten.

Richter spielen nicht mit; Sozis auch nicht länger  

In mehreren Städten, wie in Nantes und Lille, machten unterdessen die Gerichte der Regierungspolitik einen kleinen Strich durch die Rechnung und weigerten sich, Zwangsräumungen von Roma für rechtskonform zu erklären. Um EU-Bürger auszuweisen – sofern sie nicht unter erheblichem Druck und gelockt mit 300 Euro Rückkehrprämie „freiwillig“ ausreisen -, benötigt der Staat einen Rechtsgrund. Ihn liefert häufig die „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“, etwa durch illegales Campieren. Allein die Tatsache, dass Roma weit auberhalb der Stadt ohne Genehmigung ihre Baracken oder Wohnwagen aufschlugen, sei kein triftiger Rechtsgrund, urteilten etwa Ende vergangener Woche Richter im nordfranzösischen Lille.

Die Bürgermeisterin von Lille, Martine Aubry, begrübte das Urteil ausdrücklich. Und in ihrer Rede, die sie Nachmittag des 29. August als sozialistische Parteichefin zum Abschluss der „Sommerakademie“ ihrer Partei in La Rochelle hielt, bezog sie sich darauf. Aubry sprach von „Sammelflügen der Schande“. Und sie insistierte: „Im Frankreich von Voltaire, von Victor Hugo und Emile Zola (...) gilt: Wenn man die Rechte einiger Menschen verletzt, sind die Rechte aller bedroht.“

Zumindest ein Teil der sozialdemokratischen Parlamentsopposition hat offenbar beschlossen, auch in dieser Frage nun wirklich auf Oppositionskurz zu gehen. Dies ersparte es Martine Aubry freilich nicht, beim Schlagabtausch mit der konservativen Opposition durch diese der Heuchelei oder „Doppelbödigkeit“ geziehen zu werden: Die regierende Rechte beruft sich darauf, dass das durch Aubry geführte Rathaus von Lille noch im Juli 2010 - also kurz vor der Ausrufung von Sarkozys Kampagne gegen Roma & „Landfahrer“ sowie des „nationalen Kriegs gegen die Kriminalität“ - die Räumung eines illegal errichteten Roma-Camps im Umland von Lille gefordert habe. Als Bürgermeisterin der nordfranzösischen Stadt habe Aubry sich mit dieser Bitte an die Gerichtsbehörden gewandt. Die Regierungspartei UMP unterstrich die Peinlichkeit, dass Aubry ihr zufolge völlig anders handele denn rede. Die Stadt Lille dementierte allerdings energisch; doch aus ihren dabei gewählten Worten wird deutlich, dass man ein bisschen wie auf rohen Eiern wandelt.

In Wirklichkeit handelt es sich nicht um ein Ansinnen der Stadt Lille selbst, sondern um einen Antrag, den die Kommune Villeneuve-d’Ascq am 19. Juli 10 an den Umlandverband von Lille (,LMCU’) richtete und den der Umlandverband - mit dem Rathaus der Regionalmetropole an der Spitze - unterstützte. Dabei ging es jedoch konkret darum, die Räumung eines bestimmten Grundstücks, der zuvor durch Roma besetzt worden war, zu erreichen. Die Stadt Lille und der Umlandverband haben inzwischen aber betont, dass es keinen inhaltlichen Zusammenhang zu Sarkozys Offensive gebe, sondern einen wichtigen Unterschied: Hierbei sei es nur darum gegangen, die Roma dazu zu bewegen, einen Landstreifen zu verlassen und sich lieber woanders anzusiedeln. Im Gegensatz dazu betreibe Sarkozy die Räumung unzähliger Camps in kurzen Zeiträumen und verfolge dabei das Ziel, die Roma nicht nur zu deren Umzug, sondern zum Verlassen des Staatsgebiets zu zwingen. Dieses politische Ziel mache man sich nicht zu eigen. Und seit Ende Juli 10, also der Ausrufung von Sarkozy Anti-Roma-Kampagne, habe man deswegen alle Anfragen und Anträge auf Räumung von Roma-Wohnwagensiedlungen von bestimmten Grundstücken eingestellt.[5] 

Zumindest seit der Ausrufung von Nicolas Sarkozys „kriegerischer“ Kampagne, und in Reaktion darauf, hart Martine Aubry sich nun klar zum grundsätzlichen Bleiberecht der Roma auf französischem Boden positioniert. Aubrys weiter rechts stehende innerparteiliche Rivalen, Ségolène Royal und Dominique Strauss-Kahn, haben sich jedoch nicht so klar in diese Richtung geäubert. Die Blair-Anhängerin Royal betonte Ende August 10 in Reaktion auf die Regierungsoffensive zu den Themen „Unsicherheit und Ausländerkriminalität“, dass „Sicherheit kein rechtes Thema“, sondern angeblich ein ur-sozialdemokratisches Anliegen sei. Allerdings kritisierte auch sie in den letzten Wochen Sarkozys rassistische Akzente. Ihr bisheriger „rechter Arm“ innerhalb des Parteiapparats, der Bürgermeister von Dijon, François Rebsamen (der als einer der wenigen sozialdemokratischen Protagonisten offen gegen eine Teilnahme an den Demonstrationen vom o4. September eintrat), ging noch einen Schritt weiter. Er erklärte auch im aktuellen Kontext (Ende August) offen, dass er die Position von Bürgermeistern, die die Zwangsräumung von Roma auf dem Territorium ihrer Städte fordern, unterstütze.[6]

Öffentliche Meinung: In zwei größere Blöcke gespalten

Aubrys neuem Oppositionskurs kommt zugute, dass sich die öffentliche Meinung entlang von Sarkozys Politik der Abschiebungen und des „nationalen Kriegs gegen die Kriminalität“ in zwei ungefähr gleich große Blöcke polarisiert hat. Am Donnerstag, den 26. August publizierte die politisch moderate Boulevardzeitung ‚Le Parisien’ eine Umfrage, der zufolge 48 Prozent der Befragten die Roma-Abschiebungen befürworteten und 42 Prozent sie ablehnten. Sicherlich hat die Tatsache, dass die Angelegenheit in den letzten Wochen stark politisiert und kontrovers debattiert wurde, die Zahl der erklärten Gegner in die Höhe schnellen lassen: Unter dem Jahr, wenn Ausweisungen von Roma unspektakulär und nicht von kriegerischen Tönen begleitet stattfinden, ist die offene Opposition dagegen bei weitem nicht so stark. Auch die scharfe Kritik, die aufgrund der ablehnenden Haltung der katholischen Kirche bis hinein in tief bürgerliche Kreise geht, hat dazu beigetragen. Allerdings hat Kardinal André Vingt-Trois - der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz - am 31. August den Innenminister Brice Hortefeux getroffen, um den Konflikt herunterzukochen. Im Anschluss erklärte der Kardinal, er möge „kein politisches Match“ mit der Regierung über die Roma-Abschiebungen austragen[7]. Nunmehr wurde am Sonntag, den 05. September bekannt, dass der Kardinal Vingt-Trois in naher Zukunft (zweifellos im Laufe der Woche, möglicherweise an diesem Dienstag) auch im Elysée-Palast empfangen werde.

Am Freitag, den 27. August verlas der sehr zornige Erzbischof von Toulouse, Robert Le Gall, vor 4.000 Pilgern im Wallfahrtsort Lourdes eine Botschaft. Darin heibt es: „Auch sie gehören zum Menschengeschlecht. Sie sind unsere Brüder wie so viele andere. Ein Christ kann sie nicht vergessen.“[8] Er bezog sie auf die Roma, doch die Passage stammt im Original aus einem Brief vom August 1942, in welchem sein Amtsvorgänger Jules-Géraud Saliège einen Schutz für die bedrohten Juden forderte. Regierungssprecher Luc Chatel tobte am Sonntag, hier würden total unzulässige historische Parallelen gezogen. Eine Gleichsetzung der geschichtlichen Situationen wäre sicherlich grundfalsch – auf die Abgeschobenen warten bei ihrer Ankunft keine Gaskammern -, und auch der Bischof von Toulouse hat seine Äußerungen inzwischen in diesem Sinne präzisiert (tatsächlich habe er natürlich nicht das Schicksal beider Gruppen in letzter Konsequenz gleichsetzen wollen). Aber Anklänge an die Rhetorik des Vichy-Regimes bei der regierenden Rechten heben derzeit zahllose Beobachter hervor. Dass eine gröbere Regierungskampagne sich in einem Aufwasch gleichzeitig gegen zuwandernde Roma und gegen die – seit dem 15. Jahrhundert im Land ansässigen – französischen „Landfahrer“ oder einheimischen Sinti richtet, wie seit Ende Juli 2010, ist tatsächlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht dagewesen. (Auch wenn die Diskriminierung der französischen „Landfahrer“, die erst im Juni 1946 - also deutlich nach Kriegsende - aus den Internierungslagern frei kamen, auch danach sicherlich nicht endete.)

Am folgenden Tag, nachdem die Umfrage des Parisien’ eine im Wesentlichen in zwei Hälften gespaltene öffentliche Meinung gezeigt hatte, publizierte das konservative Blatt Le Figaro’ am Freitag (27. August) eine eigene Befragung. Demnach stimmten angeblich zwei Drittel den Abschiebungen der Roma zu. Einmal mehr war diese Umfrage der Tageszeitung – die in den letzten Monaten in vielerlei Hinsicht offen propagandistische Funktionen für die Regierung übernimmt – jedoch methodisch heftig umstritten. Unter anderem wurden in der Fragestellung Roma, also EU-Bürger, mit „illegalen“ Migranten und Straffälligen wild durcheinander geworfen.

Internationale Kritik

Nicht zuletzt opponieren auch international viele Stimmen, nicht zuletzt die rumänische und die bulgarische Regierung, der Europarat und die EU-Kommission – welch letztere Frankreich an die für Bürger der Union geltenden Freizügigkeitsregeln erinnert – gegen die französische Abschiebepolitik. Am Dienstag, den 31. August musste Frankreich, vertreten durch den Staatsekretär für Europa-Angelegenheiten (den UMP-Schleimi Pierre Lellouche) und Einwanderungsminister Eric Besson, seine Politik vor Repräsentanten der EU-Kommission verteidigen. In deren Namen meldeten Justizkommissarin Viviane Reding und die europäische Kommissarin „für innere Angelegenheiten“, Cécilia Malström, unüberhörbare Bedenken an. Der Sprecher von Justizkommissarin Viviane Reding, Maxime Newman, erklärte dazu: „Die Roma sind europäische Bürger, sie haben die gleichen Rechte wie alle. Die Integration der Roma muss überall in Europa stattfinden, in ihren Herkunftsländern, den Aufnahmeländern, wir sprechen mit allen Mitgliedsländern. Eine vollständige Integration muss in jedem Mitgliedsstaat stattfinden.“ Auch im Europaparlament kündigte sich Anfang September eine kontroverse Aussprache zu dem Thema an. Ausdrücklich begrüßt hat die französische Abschiebepolitik hingegen die in Italien mitregierende, rechtsradikale (und rassistisch-separatistische) Lega Nord.

Ähnlich wie die oben zitierten EU-Kommissionsmitglieder äuberte sich zuvor am 28. August der tschechische Aubenminister Karel Schwarzenberg, der in Prag erklärte: „Die Weise, in der Sarkozy rumänische Bürger abschiebt, steht im Widerspruch zum Geist und zu den Regeln der Europäischen Union.“ Dieses Vorgehen wurde auch am Vortag durch das 18köpfige UN-Expertenteam, das über die Einhaltung der Internationalen Konvention zur Beseitigung der Rassendiskriminierung von 1965 wachen soll, scharf kritisiert. Der Ausschuss übergab am Freitag, den 27. August seine „Empfehlungen“ an Frankreich, nachdem bereits bei der Anhörung einer französischen Regierungsdelegation am 11. und 12. August deutliche Kritik geübt worden war. Unter anderem wird Frankreich in den Empfehlungen explizit dazu aufgefordert, die Abschiebung von Roma zu „vermeiden“[9]. Seit längerem hat es keinen derart offenen Konflikt zwischen einem UN-Gremium und der französischen „Staatsräson“ gegeben, sicherlich nicht seit den Atomwaffentests Frankreichs auf dem Mururoa-Atoll (die ab 1996 eingestellt wurden) und vielleicht sogar seit dem Algerienkrieg nicht.

Bei manchen der Regierenden in Südosteuropa schimmert bei ihrer Kritik sicherlich auch eine Konzeption durch, die darin besteht, froh zu sein, wenn die Roma weniger im eigenen Land und stärker beim Nachbarn sind. Gerade die französischen Konservativen machen sich diese Vision jedoch zuvörderst zu eigen. Hatte doch ein ostfranzösischer Kommunalpolitiker in Lothringen im Jahr 2009 die Roma offen mit Nuklearmüll verglichen und über die nötige „Lastenteilung“ unter den Kommunen gesprochen. (Anm.[10]) Ende August erklärte ein führender Politiker der regierenden Rechten in Frankreich, Eric Raoult, es sei ihm „lieber, wenn die Roma nach Spanien oder Italien gehen“, als dass sie nach Frankreich kämen. (Vgl. http://www.lejdd.fr )

Die Roma sind wohl jene Minderheit, die stärker als jene andere in ganz Europa hin- oder hergestoßen wird. An diesem negativen Zustand des Herumgestoßenwerdens dürfte sich, jedenfalls in naher Zukunft, absehbar (trotz gegenläufiger schöner Absichtserklärungen mancherorts) auch nichts ändern. Die französische Politik tut ihrerseits Alles dazu, dass es so bleibt.

Ausbürgerung straffälliger Franzosen:
Bestätigt bei „Gewalt gegen Träger der Staatsautorität“,
 Rückzieher bei der „faktischen Polygamie“

Neben den Roma-Abschiebungen bildet der Plan, bestimmten Personenkreisen aufgrund ihres – etwa straffälligen – Verhaltens die einmal erworbene französische Staatsbürgerschaft zu entziehen, das zweite Standbein der seit Ende Juli eingeläuteten „Sicherheits“offensive der Rechtsregierung.

Dazu hat Innenminister Brice Hortefeux nun einen Entwurf vorgelegt, den er während seiner Urlaubszeit ausgearbeitet hat. Ihn hat die Tageszeitung ,Libération’ am Freitag, den 27. August zuerst öffentlich gemacht. Er soll noch im September 10 vom Parlament debattiert, und in das dann zu verabschiedende verschärfte Einwanderungsgesetz integriert werden. Das Papier sieht - in seiner ursprünglichen Fassung, bevor es nun am 06. September wieder erheblich eingedampft wurde, siehe unten - zweierlei gesetzliche Neuerungen vor. (Vgl. auch bspw. http://tempsreel.nouvelobs.com/)

Zum Einen soll französischen Straftätern, die seit maximal zehn Jahren die Staatsbürgerschaft Frankreichs erworben hatten, selbige Staatsangehörigkeit wieder entzogen werden können. (Rechtliche Bedingung dafür wäre, dass die betreffende Person noch eine andere, zweite Staatsbürgerschaf besitzt. Denn das geltende Staatsbürgerschaftsrecht wie auch internationale Regeln verbieten es, eine Person bewusst „staatenlos“ werden zu lassen, da internationale Vereinbarungen erfordern, die Anzahl der „Staatenlosen“ möglichst nicht wachsen zu lassen.)

Voraussetzung dafür soll entweder eine rechtskräftige Verurteilung zu mindestens fünf Jahren Haft oder aber ein tätlicher Angriff auf einen Repräsentanten der Staatsautorität – von der Polizei über den Feuerwehrmann bis zur Rechtsanwältin - sein. Das ist in etwa die moderatere Abwandlung einer Forderung, die der rechtsextreme Front National in seinem Wahlprogramm für 2007 erhob. Allerdings wollte der FN bereits bei einer Verurteilung zu mindestens sechs Monaten (ohne Bewährung) ansetzen. In einer Reaktion auf Hortefeux’ Vorhaben forderte der konservative Abgeordnete und Scharfmacher Thierry Mariani am Wochenende seinerseits eine Ausweitung auf „alle Verbrecher “, ohne nähere Einschränkung. In ihrer Rede vom Sonntag, den 29. August ging die sozialistische Parteichefin Martine Aubry ebenfalls darauf ein, mit den Worten, es verstobe gegen die Verfassung, „zwei französische Staatsbürger für dieselbe Verfehlung unterschiedlich zu bestrafen“. Tatsächlich garantiert deren Artikel Eins „die Gleichheit aller Citoyens vor dem Gesetz“, und dies ausdrücklich „unabhängig von Herkunft, Rasse oder Religion“.

Die zweite geplante Novelle betrifft die Personen, die der „faktischen Polygamie“ beschuldigt werden, also des Zusammenlebens in einer mehrköpfigen Ehe – jedoch ohne Trauscheine. Auch ihnen soll die Ausbürgerung drohen, ginge es jedenfalls nach Innenminister Hortefeux. Auf diese Idee kam bislang auch der Front National in seinem Programm noch nicht; auf der Titelseite von ,Le Monde’ hatte sich denn auch ein Berater Nicolas Sarkozys folgender Tatsache gerühmt: „Selbst Le Pen ging noch nie so weit“. Mit diesen Worten zitiert die Zeitung jedenfalls in ihrer Ausgabe vom 07. August 10 einen „Sarkozy nahe stehenden Intellektuellen“, dessen Name ungenannt bleibt.

Polygame Eheschliebungen sind in Frankreich ohnehin verboten und werden, sofern im Ausland geschlossen, auf französischem Boden mitsamt all ihren Rechtsfolgen nicht anerkannt. Es dürfte einen kleinen harten Kern von vielleicht einigen hundert Personen geben, die formelle Eheschliebungen etwa vor einem Imam vornehmen lassen, aber die Standesämter der Republik davon nicht unterrichten. Da dies in der Privatsphäre geschieht, lässt es sich freilich schlichtweg nicht nachweisen. Es sei denn, der Staat soll künftig intensiv in eben jene Privatsphäre hineinforschen können.

Brice Hortefeux hat jedoch seit April dieses Jahres diesem Phänomen, ausgehend von einem mutmablichen Fall im westfranzösischen Nantes, den Kampf angesagt. Und er führt ihn mit dem Eifer eines Privatkriegs. Nun möchte er die „faktische Polygamie“ – jene ohne Trauschein – sowohl als strafbewehrtes Delikt, mit einer Strafandrohung von bis zu fünf Jahren Haft, als auch als Tatbestand zur Rechtfertigung eines Entzugs der Staatsbürgerschaft einführen. Auch Regierungskollegen des Innenministers halten dies jedoch für „wenig praktikabel“, da man bei Formen des Zusammenlebens ohne standesamtliche Hochzeit eben nur schwer wissen könne, in welchen Strukturen Personen miteinander verbunden sind. Einwanderungsminister Eric Besson hat sich bereits von dem Vorhaben distanziert (noch im Laufe des 27. August) und erklärt, ein Staatsbürgerschaftsentzug in solchen Fällen komme nur „ausnahmsweise“ in Frage.

Am Montag, den 30. August ging selbst Premierminister François Fillon in ähnlicher Weise auf Distanz. Am Tag zuvor hatte die politisch moderate Boulevardzeitung ,Le Parisien’ (Sonntags-Ausgabe vom 29. August) ein Interview mit Ex-Premierminister Jean-Pierre Raffarin publiziert, der darin wortreich beklagte, dass Präsident Sarkozy „spaltet statt sammelt“[11]. Einem wachsenden Teil des bürgerlichen Blocks schien es offenkundig nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein. Daraufhin mussten nun einige Klärungen innerhalb des Regierungslagers erfolgen.

An diesem Montag, den 06. September war dazu ein Gipfeltreffen von Regierungspolitikern im Elysée-Palast anberaumt worden. Nicolas Sarkozy sollte dabei die Entscheidung zwischen den Standpunkten seines Innen- (Brice Hortefeux) und den härten Positionen seines Einwanderungsministers (Eric Besson) treffen. Um die Mittagszeit fiel die Entscheidung: Die Polygamie ist von den künftigen Ausbürgerungs-Regeln nun doch nicht betroffen, sie bleibt ausgeklammert. Die Ausbürgerung wird demnach künftig allein die Urheber von (versuchten oder vollendeten) Totschlagsdelikten an Polizeibeamten und anderen Staatsdienern betreffen. Dies hatte Präsident Nicolas Sarkozy als eine Art „Schiedsrichter“ zwischen der Linie Besson und der Linie Hortefeux beschlossen; vgl. http://www.lefigaro.fr/  Allerdings hat Nicolas Sarkozy für die Fälle „faktischer Polygamie“ zugleich angeordnet, „verschärfte Sanktionen für eine betrügerische Erschleichung von Sozialleistungen“ zu schaffen. (Gedacht ist dabei an „falsche Alleinerziehende“, die in Wirklichkeit Angehörige unerklärter Polygamiefamilien seien.) 

Dabei dürfte wohl die Erwägung mit den Ausschlag gegeben haben, dass ein solches politisches Symbol - wie es der Staatsbürgerschaftsentzug in „faktischen Polygamiefällen“ gewesen wäre - in der Praxis kaum hätte reale Anwendungsfälle finden können. Aufgrund der Schwierigkeit, die „de facto bestehende Polygamie“ in der Privatsphäre konkret nachzuweisen, wäre dies nur sehr schwer umsetzbar gewesen. Und jemandem die Staatsbürgerschaft unter dem Vorwurf „unerklärter Polygamie“ zu entziehen, dürfte im Zweifel schwerere Beweispflichten nach sich ziehen, als „nur“ eine behördliche Sperrung von Sozialleistungen unter demselben Vorwurf. (Im letzteren Falle dürfte es in der Praxis eher an den betroffenen Familien liegen, nachzuweisen, dass sie in Wirklichkeit nicht in „faktischer Polygamie“ leben. Deswegen dürfte in Zukunft wohl auch an diesen Weg gedacht werden. Bei einem Staatsbürgerschaftsentzug hätten zumindest manche Richter/innen wohl ein bisschen strenger darauf geachtet, dass auch wirklich handfeste Beweiselemente vorgelegt werden.)

Jene, die an diesem Punkt Bedenken bezüglich der Pläne Hortefeux’ hatten, konnten geltend machen, dass man an dieser Stelle der rechtsextremen Opposition eine offene Flanke hätte bieten müssen: Diese hätte auf Dauer einmal mehr geltend machen können, dass man auf Regierungsseite „zwar symbolkräftig Aktionen ankündigt, den Worten dann aber keine Taten folgen“. Nun wird dieselbe extreme Rechte allerdings wohl den „Verrat“, in Gestalt des Fallenlassens dieses Symbols, geltend machen - allerdings hatte sie bislang selbst diese Idee vor der Regierungsrechten noch gar nicht gehabt, so dass ihr der Protest an dem Punkt auch verhältnismäßig schwer fällt.

In jedem Falle handelt es sich um hochgradige Symbolpolitik. (Beinahe egal, welche Personengruppe die Möglichkeit der Ausbürgerung letztendlich betrifft; real dürfte es sich nunmehr nur noch um einen bis zwei potenzielle Betroffenenfälle pro Jahr handeln.) Wobei weniger die einzelnen Mabnahmen von Bedeutung sind als die von ihnen beförderte Botschaft: „Strafwürdiges Verhalten und Herkunft hängen eng miteinander zusammen“ und „Zu viele schlechte Erwerber beschmutzen die französische Staatsbürgerschaft“. Als „ein politisches Flugblatt“ wertete dementsprechend der Juraprofessor Guy Carcassonne am letzten Augustwochenende in ,Le Parisien’ den Entwurf aus dem Hause Hortefeux.

Unterdessen hat der Rechtsaubenflügel der Regierungspartei bereits mit neuen Forderungen nachgelegt. Am Sonntag, den 29. August trat der - als Hardliner bekannte – südostfranzösische UMP-Abgeordnete Thierry Mariani mit dem Ansinnen hervor, die medizinische Versorgung für „illegalisierte“ Einwanderer einzuschränken. Bislang wird ihnen, seit dem Jahr 2000, eine ärztliche Grundversorgung in Gestalt der Aide médicale d’Etat (AME) gewährt. Zuvor hatten sich in den neunziger Jahren Netzwerke von Ärztinnen und Ärzten gebildet, die „,illegalisierte“ Migranten auch ohne Krankenversicherung versorgten.

Die Einführung der AME zu Beginn des Jahrtausends diente einem Imperativ öffentlicher Gesundheitspolitik: Nur, wenn auch „Illegale“ bei ernsten Beschwerden ohne Furcht zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen, kann die Ausbreitung potenziell bedrohlicher Epidemien und ansteckender Krankheiten leichter vermieden werden. Mariani aber ist diese staatliche Unterstützung ein Dorn im Auge. Er will nun ihre Kosten zum Teil auf die Betroffenen umwälzen und zumindest eine stärkere „finanzielle Selbstbeteiligung“ von ihnen verlangen. Damit dürfte er zwar Gesundheitspolitiker auch im bürgerlichen Lager gegen sich wissen. Allerdings kann er an eine Passage in Nicolas Sarkozys Brandrede von Grenoble vom 30. Juli anknüpfen. Der Präsident hatte sich darin empört, dass „Illegalen“ Rechte und Leistungen zustünden.

FUSSNOTEN

 

Editorische Anmerkungen

Der Autor stellte uns seinen Artikel für diese Ausgabe zur Verfügung.