Zeitgeschichte
Vor 60 Jahren wurde "Stalinstadt" gegründet

Eine kleine Materialsammlung von Karl Mueller

09/10

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Leseauszug aus: Andreas Ludwig, Eisenhüttenstadt, Potsdam 2000, S. 29f
Nachdem die SED die Grundsatzentscheidung tur den Bau eines eigenen, neuen Hüttenwerks in der DDR beschlossen hatte und der Standort an der Oder festgelegt worden war, begann man, die örtlichen Bedingungen näher zu untersuchen. Innerhalb der örtlichen Rahmenbedingungen plante man zunächst den Aufbau des Hüttenwerks auf dem ehemaligen Gelände der DEGUSSA, das, am Oder-Spree-Kanal gelegen, infrastrukturell bereits erschlossen war. Nur war die dort vorhandene Fläche zu klein, um spätere Werkserweiterungen zu realisieren. Von den verschiedenen Planungsvarianten, die im Industrieministerium ausgearbeitet worden waren, wurde schließlich ein Standort längs des Oder-Spree-Kanals nördlich der Verbindungsstraße zwischen Fürstenberg und Schönfließ ausgewählt, der auf einer landwirtschaftlich kaum genutzten, durch niedrigen Kiefernbewuchs und Heide geprägten Fläche den Wasser- und Schienenanschluß für den Materialtransport ermöglichte, die Kühlwasserzufuhr garantierte und genügend Erweiterungsflächen bot.


Stalinstadt Sommer 1960

Siehe auch Teil 2
Nachgereichte Ergänzungen:
Kurt W. Leucht - Diener vieler Herren & Tamara Bunke / Kinder- und Jugendjahre

Eine Regierungsdelegation, der auch ein Vertreter der Sowjetischen Kontrollkommission und der Geologischen Landesanstalt angehörten, legte den Standort bei einer Geländebesichtigung am 30. Juli, nur eine Woche nach dem SED-Parteitag, fest. Das Werk erstreckte sich später auf einer Länge von 2 Kilometern entlang des Kanals. Die Planungsarbeiten waren unmittelbar nach dem III. Parteitag der SED im Juli 1950 begonnen worden und der Beginn der Projektierungsarbeiten sowie der Geländeaufschluß erfolgte ab August 1950. Bereits in der ersten Augusthälfte hatten Industrieminister Selbmann und Planungsminister Rau die Aufnahme der Arbeiten veranlaßt, offensichtlich noch bevor die provisorische Regierung der DDR am 17. August den förmlichen Beschluß über das Fünfjahrplangesetz und damit auch den Bau des EKO gefaßt hatte.

Noch im August 1950 begann das Zentrale Entwurfsbüro der metallurgischen Industrie, erst Anfang 1950 gegründet, mit den Projektierungsarbeiten für die Hochofenanlage und am 18. August 1950, einen Tag nach dem Regierungsbeschluß, eröffnete Minister Fritz Selbmann die Baustelle des EKO. Die Berichte über den Festakt verweisen auf den übergeordneten politischen Zusammenhang, der der EKO-Gründung zugeschrieben wird: zum einen war der 18. August der Todestag des Führers der KPD, Ernst Thälmann, der 1944 im Zuchthaus Brandenburg von den Nationalsozialisten ermordet worden war. Selbmann ging in seiner Ansprache auf diesen Zusammenhang ein. Zum anderen wurde das neue Werk in diametralem Gegensatz zur Stahlindustrie des Westens gesehen, als Beitrag zum friedlichen Wiederaufbau und als Eigentum des Volkes: „Flicks ehemaliges Stahlwerk in Riesa ist jetzt unser Stahlwerk, die Maxhütte in Unterwellenborn unsere Maxhütte, Dohlen unser Stahlwerk. Auf den Trümmern seines früheren Stahlwerks Brandenburg haben wir ein neues Stahlwerk gebaut. Auch hier bauen wir ein Werk des Volkes und den Friedens. Dieses neue ... Werk wird an der Oder-Neiße-Friedensgrenze als ein sichtbarer Zeuge des Friedens und der Freundschaft mit unseren Nachbarvölkern stehen."

Zur Legendenbildung um die Gründung des EKO gehört auch eine angebliche Wette. Selbmann hatte für jeden Axthieb, der für das Fällen der ersten Kiefer als Symbol für die Baustelleneinrichtung nötig war, einen Kasten Bier versprochen. Die Arbeiter hätten eine besonders zähe Kiefer ausgesucht, heißt es, oder in einer anderen Version, man habe die Axt stumpf geschliffen. Jedenfalls benötigte Selbmann einige Schläge und die legendäre Axt befindet sich heute in der Sammlung des Werkarchivs der EKO Stahl GmbH.

Die Grundsteinlegung für die Stadt erfolgte am 21.8.1950.
(Quelle: Chronik der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Teil III, Berlin, 1967, S. 258)

Andreas Ludwig a.a.O., S. 39f
Die ersten vier Wohnkomplexe, in den 50er Jahren errichtet, sind der Kern der Stadt. Was heute als in sich geschlossener Stadtgrundriß erscheint und dem Betrachter einen kompakten Eindruck vermittelt, war eine Abfolge unterschiedlicher Phasen und Vorstellungen von dem, was als Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats einmal entstehen sollte. Die ersten Jahre des Aufbaus der Wohnstadt waren von mehrfachen Wechseln der Verantwortlichkeit, voneinander abweichender Planungen, daher oft verspäteter Projektierungsunterlagen und in der Folge vom Zwang zu Improvisation geprägt. Bauverzögerungen und Arbeitsmangel, dann wieder stoßartige Kampagnen zur Aufholung von Planrückständen und Arbeitskräftemangel wechselten einander ab. Deutlich sichtbar ist die Stadt bis heute gerade in ihrem Zentrum unvollständig geblieben, auch dies eine unmittelbare Folge von Unklarheiten und Trendwenden in der Stadtplanung.

Nur auf den ersten Blick ist Eisenhüttenstadt der „letzte Monolith", eine aus einem Guß geplante und gebaute Stadt. Bei genauerer Betrachtung lassen sich die einzelnen Phasen der Vorstellung von Stadt, wie sie sich in den 50er Jahren allmählich herausbildeten, nachverfolgen. Gerade weil die Stadt in dieser Zeit erst im Entstehen begriffen war, ist sie das wichtigste Beispiel für die gesamte DDR-Entwicklung dieses Zeitraums. Gerade in ihren ersten Wohnkomplexen zeigt Eisenhüttenstadt die Phasen der Suche nach einer der sozialistischen Gesellschaft angemessenen Form.
Zugleich ist das Erreichte dieser frühen Jahre eine außerordentliche Leistung angesichts fehlender Vorplanungen und der materiellen Möglichkeiten, die nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges alle Planungseuphorie begrenzen mußte. Die äußerst verwirrenden Planungsabläufe vor allem der ersten Jahre sind erst in jüngster Zeit systematisch rekonstruiert worden,46 für die Zeitgenossen mag dagegen allzu oft der Eindruck von Unfähigkeit und Schlamperei vorgeherrscht haben.

Der Aufbau des Werkes und der dazugehörigen Wohnstadt wurde von Ulbricht auf dem III. SED-Parteitag im Juli 1950 als unmittelbar bevorstehend angekündigt. Entgegen den Planungsvorläufen für das Hüttenwerk bestanden für die Wohnstadt keine Vorarbeiten. Erst schrittweise wurde in langwierigen Auseinandersetzungen herausgearbeitet, daß für das Werk eine eigene Stadt errichtet werden würde und keine der üblichen Wohnsiedlungen, an welchem Standort sie entstehen sollte, wer für die Planungen verantwortlich war. Zunächst war das Industrieministerium, Planer und Investitionsträger des Werkes, nach sowjetischem Vonbild auch für die Errichtung der Stadt verantwortlich, bald jedoch, vor allem in Verbindung mit den zunehmenden Auseinandersetzungen um die Leitlinien des Städtebaus, das Aufbauministerium. Das Aufbaugesetz und die 16 Grundsätze des Städtebaus aus dem Jahre 1950 bildeten die Voraussetzung. Wie diese Grundsätze zu verwirklichen waren, wußte zunächst niemand. Weder bestand beim Aufbauministerium eine Planungsorganisation, noch eine konkrete Vorstellung, wie die Wohnstadt einmal aussehen sollte. Dennoch bestand die gemeinsame Grundauffassung, daß die negativen Folgen des kapitalistischen Städtebaus unterbunden werden sollten. Eine funktionsgerechte Ausstattung zum Wohle der Bewohner stand im Mittelpunkt.
Zunächst hatte der Architekt Franz Ehrlich im Auftrag des Industrieministeriums Planungen für eine Wohnstadt erarbeitet, die Anfang November 1950 in ihren Umrissen fertiggestellt worden waren. Diese Planungen wurden verworfen, obwohl wesentliche Grundgedanken für die neue Stadt von späteren Planern übernommen wurden. Damit war der erste Kurswechsel vollzogen, bevor überhaupt ein einziger Stein vermauert war. Was war geschehen? Franz Ehrlich war der Architekt des Industrieministeriums, das für den Aufbau des EKO zuständig war und auch die Planungshoheit für die Wohnstadt beanspruchte. Dies stieß jedoch auf den Widerstand des Ministeriums für Aufbau, das seinen Planungsapparat 1950 erst langsam entwickelte und nun konsequent Anspruch auf die Zuständigkeit in allen Baufragen und damit auch für die künftige Wohnstadt beanspruchte. Während Ehrlich noch plante, organisierte das Aufbauministerium im Oktober 1950 einen städtebaulichen Wettbewerb, an dem sich ausgewählte Architekten beteiligten und dessen Ergebnisse in überarbeiteter Form die erste Planungsgrundlage für die neue Stadt bildeten. Dahinter stehen Fragen der Organisationsstruktur im neuen Staat, vermutlich jedoch auch Eitelkeiten. Sollten Stadt und Werk aus einer Hand konzipiert werden und in der Folge die Industrie zuständig sein, wie dies in der Sowjetunion bei entsprechenden Großvorhaben der Fall war, oder sollte eine eigenständige Gestaltungshoheit des Aufbauministeriums gelten und damit stärker kulturelle Fragen ins Spiel kommen? Sollte also das industrielle Prinzip oder das repräsentative Prinzip den Vorrang erhalten?

Planungsleitlinien von "Stalinstadt" bildeten  die "16 Grundsätze des Städtebaus", die am 27. Juli 1950 von der DDR-Regierung erlassen worden waren:

Die Stadtplanung und die architektonische Gestaltung unserer Städte müssen der gesellschaftlichen Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik, den fortschrittlichen Traditionen unseres deutschen Volkes sowie den großen Zielen, die dem Aufbau ganz Deutschlands gestellt sind, Ausdruck verleihen. Dem dienen die folgenden Grundsätze:

  1. Die Stadt als Siedlungsform ist nicht zufällig entstanden. Die Stadt ist die wirtschaftlichste und kulturreichste Siedlungsform für das Gemeinschaftsleben der Menschen, was durch die Erfahrung von Jahrhunderten bewiesen ist. Die Stadt ist in Struktur und architektonischer Gestaltung Ausdruck des politischen Lebens und des nationalen Bewußtseins des Volkes.
     
  2. Das Ziel des Städtebaues ist die harmonische Befriedigung des menschlichen Anspruchs auf Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung. Die Grundsätze der Methoden des Städtebaues fußen auf den natürlichen Gegebenheiten, auf den sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen des Staates, auf den höchsten Errungenschaften von Wissenschaft, Technik und Kunst, auf den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit und auf der Verwendung der fortschrittlichen Elemente des Kulturerbes des Volkes.
     
  3. Städte 'an sich' entstehen nicht und existieren nicht. Die Städte werden in bedeutendem Umfange von der Industrie für die Industrie gebaut. Das Wachstum der Stadt, die Einwohnerzahl und die Fläche werden von den städtebildenden Faktoren bestimmt, das heißt von der Industrie, den Verwaltungsorganen und den Kulturstätten, soweit sie mehr als örtliche Bedeutung haben. In der Hauptstadt tritt die Bedeutung der Industrie als städtebildender Faktor hinter der Bedeutung der Verwaltungsorgane und der Kulturstätten zurück. Die Bestimmung und Bestätigung der städtebildenden Faktoren ist ausschließlich Angelegenheit der Regierung.
     
  4. Das Wachstum der Stadt muß dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit untergeordnet werden und sich in bestimmten Grenzen halten. Ein übermäßiges Wachstum der Stadt, ihrer Bevölkerung und ihrer Fläche führt zu schwer zu beseitigenden Verwicklungen ihrer Struktur, zu Verwicklungen in der Organisation des Kulturlebens und der täglichen Versorgung der Bevölkerung und zu betriebstechnischen Verwicklungen sowohl in der Tätigkeit wie in der Weiterentwicklung der Industrie.
     
  5. Der Stadtplanung zugrunde gelegt werden müssen das Prinzip des Organischen und die Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur der Stadt bei Beseitigung ihrer Mängel.
     
  6. Das Zentrum bildet den bestimmenden Kern der Stadt. Das Zentrum der Stadt ist der politische Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung. Im Zentrum der Stadt liegen die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten. Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt.
     
  7. Bei Städten, die an einem Fluß liegen, ist eine der Hauptadern und die architektonische Achse der Fluß mit seinen Uferstraßen.
     
  8. Der Verkehr hat der Stadt und ihrer Bevölkerung zu dienen. Er darf die Stadt nicht zerreißen und der Bevölkerung nicht hinderlich sein. Der Durchgangsverkehr ist aus dem Zentrum und dem zentralen Bezirk zu entfernen und außerhalb seiner Grenzen oder in einem Außenring um die Stadt zu führen. Anlagen für den Güterverkehr auf Eisenbahn und Wasserwegen sind gleichfalls dem zentralen Bezirk der Stadt fernzuhalten. Die Bestimmung der Hauptverkehrsstraßen muß die Geschlossenheit und die Ruhe der Wohnbezirke berücksichtigen. Bei der Bestimmung der Breite der Hauptverkehrsstraßen ist zu berücksichtigen, dass für den städtischen Verkehr nicht die Breite der Hauptverkehrsstraßen von entscheidender Bedeutung ist, sondern eine Lösung der Straßenkreuzungen, die den Anforderungen des Verkehrs gerecht wird.
     
  9. Das Antlitz der Stadt, ihre individuelle künstlerische Gestalt, wird von Plätzen, Hauptstraßen und den beherrschenden Gebäuden im Zentrum der Stadt bestimmt (in den größten Städten von Hochhäusern). Die Plätze sind die strukturelle Grundlage der Planung der Stadt und ihrer architektonischen Gesamtkomposition.
     
  10. Die Wohngebiete bestehen aus Wohnbezirken, deren Kern die Bezirkszentren sind. In ihnen liegen alle für die Bevölkerung des Wohnbezirks notwendigen Kultur-, Versorgungs- und Sozialeinrichtungen von bezirklicher Bedeutung. Das zweite Glied in der Struktur der Wohngebiete ist der Wohnkomplex, der von einer Gruppe von Häuservierteln gebildet wird, die von einem für mehrere Häuserviertel angelegten Garten, von Schulen, Kindergärten, Kinderkrippen und den täglichen Bedürfnissen der Bevölkerung dienenden Versorgungsanlagen vereinigt werden. Der städtische Verkehr darf innerhalb dieser Wohnkomplexe nicht zugelassen werden, aber weder die Wohnkomplexe noch die Wohnbezirke dürfen in sich abgeschlossene isolierte Gebilde sein.

    Sie hängen in ihrer Struktur und Planung von der Struktur und den Forderungen der Stadt als eines Ganzen ab. Die Häuserviertel als drittes Glied haben dabei hauptsächlich die Bedeutung von Komplexen in Planung und Gestaltung.
     
  11. Bestimmend für gesunde und ruhige Lebensverhältnisse und für die Versorgung mit Licht und Luft sind nicht allein die Wohndichte und die Himmelsrichtung, sondern auch die Entwicklung des Verkehrs.
     
  12. Die Stadt in einen Garten zu verwandeln, ist unmöglich. Selbstverständlich muß für ausreichende Begrünung gesorgt werden. Aber der Grundsatz ist nicht umzustoßen: In der Stadt lebt man städtischer, am Stadtrand oder außerhalb der Stadt lebt man ländlicher.
     
  13. Die vielgeschossige Bauweise ist wirtschaftlicher als die ein- oder zweigeschossige. Sie entspricht auch dem Charakter der Großstadt.
     
  14. Die Stadtplanung ist die Grundlage der architektonischen Gestaltung. Die zentrale Frage der Stadtplanung und der architektonischen Gestaltung der Stadt ist die Schaffung eines individuellen, einmaligen Antlitzes der Stadt. Die Architektur verwendet dabei die in den fortschrittlichen Traditionen der Vergangenheit verkörperte Erfahrung des Volkes.
     
  15. Für die Stadtplanung wie für die architektonische Gestaltung gibt es kein abstraktes Schema. Entscheidend ist die Zusammenfassung der wesentlichen Faktoren und Forderungen des Lebens.
     
  16. Gleichzeitig mit der Arbeit am Stadtplan und in Übereinstimmung mit ihm sind für die Planung und Bebauung bestimmter Stadtteile sowie von Plätzen und Hauptstraßen mit den anliegenden Häuservierteln Entwürfe fertig zu stellen, die in erster Linie durchgeführt werden können.

Quelle: Ministerialblatt der DDR Nr. 25 vom 16.9.1950

Andreas Ludwig a.a.O., S. 45ff
Parallel zu den bereits laufenden Planungen des Industrieministeriums schaltete sich das Aufbauministerium ein. Legitimiert durch die Verabschiedung der 16 Grundsätze und des Aufbaugesetzes, die ihm die Planungshoheit zusprachen, zog es die Kompetenzen beim Aufbau der Wohnstadt an sich. Zunächst ging es um die Lage der Stadt. Etwa Mitte Oktober wurden durch das Aufbauministerium fünf Standorte geprüft. Erstens ein Gelände nördlich Fürstenbergs entlang der Straße nach Vogelsang, das bis heute nicht bebaut ist, zweitens eines südlich der Straßenverbindung Fürstenberg-Schönfließ im Bogen des Oder-Spree-Kanals und beiderseits der Bahnlinie nach Guben; dort befindet sich heute der VI. und VII. Wohnkomplex sowie das Fürstenberger Industriegelände. Dritter Standort war ein Gebiet südöstlich von Fürstenberg zwischen Kanal und Oder, wo sich damals wie heute das Auengebiet des Flusses erstreckt. Viertens westlich der Pohlitzer Seen und nördlich des Pohlitzer Mühlenfließes, auch heute noch ein Waldgebiet am nördlichen Rand des EKO. Fünftens schließlich ein Gelände südlich von Schönfließ, das sich im Osten vom Oder-Spree-Kanal bis zu den Diehloer Bergen im Westen erstreckt. Anfangs wurde der Standort westlich der Pohlitzer Seen bevorzug, auf den sich auch die erste Siedlungsplanung Ehrtichs bezog. Kurze Zeit darauf, als am 20.10.1950 das Gelände erneut von einer Kommission besichtigt wurde, einigte man sich auf den fünften Standort, da das ursprünglich favorisierte Gelände zu weit von Fürstenberg entfernt lag und eine städtetechnische Erschließung zu teuer geworden wäre.

Doch damit war die Sache noch keineswegs entschieden. Das Industrieministerium machte geltend, daß der gewählte Standort auf einem Abbaugebiet von 100 Millionen Tonnen Braunkohle gelegen sei, das etwa 20 Jahre später abgebaut würde. Es ging letztlich um die Frage, welches Industrieprojekt den Vorrang erhalten sollte, die Kohle oder der Stahl. In diesen Auseinandersetzungen mußte Ministerpräsident Otto Grotewohl vermitteln, so daß letztlich erst am 14. November 1950 ein Beschluß des ZK der SED über den Standort der Wohnstadt zustande kam. Die „wichtige politische und gesellschaftliche Lage bei Fürstenberg" gab den Ausschlag. Die Kohleabbaugrenze begleitete die Entwicklungsplanung Eisenhüttenstadts jedoch weiterhin: 1956 mußte die Bergbaugrenze nach Süden verschoben werden, bevor eine Erweiterung der ursprünglich geplanten Kernstadt durch einen V. Wohnkomplex in Angriff genommen werden konnte.

Während der Standort der Stadt nunmehr drei Monate nach Beginn der Rodungsarbeiten auf dem Werksgelände feststand, wurde über die Stadtplanung und das Aussehen weiterhin diskutiert. Noch während der erste Stadtentwurf des Industrieministeriums entwickelt wurde, schrieb das Aufbauministerium einen beschränkten Wettbewerb aus, an dem drei ausgewählte Architekten teilnahmen. Keiner der Entwürfe konnte befriedigen, so daß der Siegerentwurf von Kurt Junghanns durch einen Architekten des Aufbauministeriums, Otto Geiler, noch im Oktober 1950 überarbeitet wurde. Dieser Plan wurde dann von einem Expertengremium der Deutschen Bauakademie am 8.2.1951 diskutiert. Die Kritik war so stark, daß die Planung für die Wohnstadt nun an Richard Paulick und seine Meisterwerkstatt an der Bauakademie übertragen wurde. Bereits Ende Februar wurde bei einer weiteren Besprechung auch dieser Entwurf wieder so stark kritisiert, daß die Planung an einen anderen Architekten überging, Kurt W. Leucht. Die Kontroversen fanden schließlich am 14.4.1951 ein Ende, als unter Beisein des Aufbauminsters Lothar Bolz der Leucht-Entwurf mehrheitlich angenommen wurde....

...Als die ersten Wohnungen der Wohnstadt im Spätsommer 1951 bezugsfertig waren, erwiesen sie sich als den Vorstellungen der Politiker wie der Öffentlichkeit wenig entsprechend. Otto Grotewohl war bei einem Besuch in der Stadt offensichtlich erschüttert, in der Betriebszeitung des EKO wurden sie als „schmucklose Kästen" beurteilt59. Die Bewohner dieser Wohnblöcke kritisierten, daß es nicht genügend Raum für ihre Möbel gäbe. Bei einem Besuch Walter Ulbrichts am 18. Januar 1952 wurde die Kritik öffentlich gemacht und von Ulbrich noch dahingehend ergänzt, daß die Häuser zu schmucklos seien. Weitere Detailkritik führte dazu, daß die Deckenhöhe auf 3 Meter angehoben wurde, die Fassaden schmückende Elemente erhielten und die Wohnungen insgesamt vergrößert wurden. Allerdings stiegen auch die Baukosten dadurch erheblich. 14 Tage nach seiner Inspektionsreise berichtete Ulbrichtdem Politbüro der SED, das eine „Direktive zur Entwicklung von Maßnahmen zur Beschleunigung der Aufbauarbeiten im Eisenhüttenkombinat Ost" erließ. Der Ministerrat folgte mit der Forderung nach „Überprüfung der Pläne für die Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost" und verlangte, daß die Typenpläne generell überarbeitet werden sollten. Daraufhin kündigte die Deutsche Bauakademie für den Sommer solche Überarbeitungen an. Bereits wenige Tage nach dem Ministerratsbeschluß schlug sie dem Aufbauministerium vor, Josef Kaiser zum Chefarchitekten für die Wohnstadt zu machen und eine eigene „Meisterwerkstatt Fürstenberg" zu schaffen. Mit der Konzentration auf eine eigene Planergruppe unter einem verantwortlichen Chefarchitekten wollte man die Arbeit endlich effektiver gestalten, doch Kaiser trat nach kurzer Zeit von seinem Amt zurück, weil weder seine Kompetenzen noch seine Bezahlung geregelt waren....

...In dieser Situation bot sich Kurt Leucht als leitender Planer an. Im Frühjahr 1952 hatte er einen Entwurf vorgelegt, der bereits vergleichsweise nahe an dem später verbindlichen Plan lag. Diese Neufassung des Stadtplans bestätigte der Ministerrat am 15.5.1952. Im August desselben Jahres wurde Leucht als „Generalprojektant" verantwortlicher Leiter für Planung und Ausführung der Wohnstadt Fürstenberg. Projektierungsfachleute wurden in seinem Büro konzentriert, das binnen kurzem von 40 auf 650 Mitarbeiter wuchs. Die neue Linie bedeutete: Konzentration der Kräfte und individuelle Verantwortlichkeit, Folge der vergeblichen Versuche, die eklatanten Baurückstände, die etwa 50 Prozent im Oktober 1952 ausmachten, aufzuholen. Tatsächlich ist der Entwurf Leuchts für die Wohnstadt bis Ende der 50er Jahre verbindlich geblieben, auch wenn er selbst bereits nach kurzem wieder abgelöst wurde.

Man versprach sich von der Übertragung der Verantwortlichkeit auf Leucht nicht nur eine energische Leitung der Aufbauarbeiten, sondern auch die Durchsetzung der politischen Leitlinie der Partei und ihre Anwendung auf die Wohnstadt. Vom 9. bis 12. Juli 1952 hatte die 2. Parteikonferenz der SED den Aufbau des Sozialismus beschlossen und die Wohnstadt geriet zu dessen Musterprojekt. Diese herausragende Bedeutung hatte sich schon im Juli 1951 angedeutet, als Leucht ausführte: „Die Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost ist ein Beispiel fortschrittlicher Städtebauplanung nach den Grundsätzen der antifaschistisch-demokratischen Ordnung" und sei „ein sichtbarer Ausdruck für den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung der Deutschen Demokratischen Republik." Mit der 2. Parteikonferenz wurde die Wohnstadt ab sofort zur „ersten sozialistischen Stadt Deutschlands"....

Kurt W. Leucht - (* 8. Juni 1913 in Ellefeld/Vogtland, † 1998 in ???)
(Biografie nach http://wiki.huettenstadt.de/index.php/Kurt_W._Leucht )

Kurt W. Leucht war der (uneheliche) Sohn des Baumeisters und überzeugten Anarchisten Max Otto Hessler mit Martha Anna Leucht. Von 1927 bis 1931 besuchte Kurt Leucht die Kunstschule Plauen und im Anschluss für zwei Jahre die Baugewerbeschule in Glauchau.

Am 1. Mai 1933 trat er der NSDAP bei und ging für zwölf Monate zur Luftwaffe. Zuerst in Dresden, später in Berlin, war er als Architekt für die Reichsluftwaffe tätig und wirkte an Planung und Errichtung von Reichsluftfahrtministerium, Flughafen Tempelhof und Flughafen München-Riem mit. Während der Pariser Weltausstellung 1937 kam Leucht in Kontakt mit den führenden Architekten der deutschen Emigration (z.B. Walter Gropius, Ernst May, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe). 1938 weilte Leucht für ein Jahr in Italien, wo er seine Ablehnung gegenüber einer dicht gedrängten, urbanen Stadtlandschaft zugunsten einer aufgelockerten, überschaubaren Stadtplanung festigte. Von 1941 bis zum Kriegsende war er als Major der Luftwaffe für das gesamte Bauwesen an der Mittelmeerfront verantwortlich. Zudem wirkte er als Mitarbeiter von Ernst Sagebiel bei den Planungen für die Stadt Salzgitter mit.

Ab 1948 bekleidete Leucht das Stadtplanungsamt in Dresden und war praktisch und theoretisch mit dem Wiederaufbau der Elbmetropole beschäftigt und verfasste dort 1950 seine "Grundprinzipien für die Neuplanung", in denen er sich für aufgelockerte Stadtlandschaften anstelle dichter Stadtstrukturen aussprach. Anschließend arbeitete er in Berlin in der Abteilung "Städtebau", die sich vorrangig mit dem Wiederaufbau kriesgzerstörter Städte auseinandersetzte.

Als er von den Plänen hört, für das neu zu errichtende Eisenhüttenkombinat Ost eine Siedlung zu bauen, lässt er die Arbeiten stoppen und setzt sich bei Walter Ulbricht für den Aufbau einer neuartigen Stadt ein. Die Straßenführung und die Aufteilung in vier Wohnkomplexe geht auf seine Vorstellungen zurück. Kurt Leucht übernahm an Stelle von Franz Ehrlich die Leitung des Aufbaus der Wohnstadt für das Werk.

Im April 1953 verliert Leucht den Posten als Generalprojektant von Stalinstadt, und mit dem Einzug der industriellen Bauweise sind auch seine neoklassizistischen Architekturvorstellungen obsolet geworden. Von 1966 bis 1969 ist er wieder Stadtbaurat in Dresden.


Entwurf der Stadtanlage von Kurt W. Leucht 1952

Andreas Ludwig a.a.O., S. 51
In seiner Rede zur Namensgebung am 7. Mai 1953 hatte Ulbricht Charakter und Aussehen der Stalinstadt beschrieben. Wie nebenbei ließ er auch durchblicken, dass man ohne die zuvor noch projektierten Kirchen auszukommen gedachte. Türme würden das Rathaus und das Kulturhaus erhalten, mehr aber nicht. In der Tat war die Situation für die Kirchen in der Stadt äußerst angespannt. Eine provisorische Kirchenbaracke der katholischen Kirche wurde demoliert, Gottesdienste und Gemeindeleben der evangelischen Kirche mussten zunächst in einem Missionswagen stattfinden und erst nach dem 17. Juni erhielt die Kirche eine Baracke. Ein massiver Kirchbau wurde 1955 begonnen, jedoch von den Staatsorganen wieder gestoppt. Erst 1981 konnte ein evangelisches Gemeindehaus in Eisenhüttenstadt unter nunmehr völlig veränderten politischen Bedingungen eingeweiht werden.

Stalinstadt / Eisenhüttenstadt im Vergleich
Leseauszug aus: Andreas Ludwig, Eisenhüttenstadt, Potsdam 2000, S. 98ff

Eisenhüttenstadt wird als Projekt einer „ersten sozialistischen Stadt" gern in seiner Besonderheit hervorgehoben. Die Bedeutung der Werksgründung für den 1. Fünfjahrplan der DDR ist dabei ebenso deutlich, wie die der städtebaulichen Anlage der Kernstadt als einzigem Beispiel für die Verwirklichung der 16 Grundsätze des Städtebaus in einer eigenständigen Stadtneugründung. Auch ihre politische Bedeutung für die DDR war bis zu deren Ende augenfällig. Zwischen Eisenhüttenstadt und Saarlouis war auf intensives Betreiben der Saarlouiser Kommunalpolitiker 1986 die erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft ins Leben gerufen worden. Eisenhüttenstadt hätte den Zuschlag sicher nicht erhalten, wären die Stadt und ihre Bevölkerung nicht als ideologisch zuverlässig und als „guter Botschafter" für die Interessen der DDR angesehen worden.

So unbestreitbar die hervorgehobene Position Eisenhüttenstadts ist, so muß sie doch auch vergleichend interpretiert werden. Drei Vergleichsebenen bieten sich an: der Vergleich mit anderen bedeutenden Gründungsstädten unter autoritärer staatlicher Planung und Leitung, die Suche nach vergleichbaren Stadtgründungen in der Industrialisierungsphase der Nachkriegszeit in Osteuropa, sowie der Vergleich mit den Eisenhüttenstadt nachfolgenden Neustädten der DDR.

In Europa vollzog sich die Industrialisierung und damit die Entstehung von Industriestädten zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 20. Jahrhunderts und damit über einen Zeitraum von etwa zwei Jahrhunderten. Als klassisches Modell der Herausbildung der urbanisierten, industriell begründeten Städte gilt das 19. Jahrhundert, das sowohl reine Industriestädte wie im nördlichen Ruhrgebiet, wie auch multifunktionale Städte mit starkem industriellen Anteil hervorgebracht hat. Zum ganz übe wiegenden Teil ist das Städtesystem Europas und Nordamerikas von dieser Industn. lisierungsphase überformt worden. Es handelte sich jedoch um einen langwier Prozeß, der, und dies wird gerade in heutiger Zeit wieder überaus deutlich, auch Phasen der De-lndustrialisierung unterbrochen sein konnte.

Demgegenüber repräsentiert Eisenhüttenstadt einen anderen Typ, den autoritären Stadtgründung aus ökonomischen Ursachen. Dafür steht der Begriff industriellen Gründungsstadt".  Er kennzeichnet, daß es einen eigentlichen Gründungsvorgang gibt, nicht aber ein langsames Herauswachsen der Industriestadt aus vorhandenen vorindustriellen Städtetypen, auch nicht die nachträgliche Bildung einer Stadt aus einer sich etablierenden Industrie und einer Agglomeration von vorstädtischen Siedlungen. In Deutschland fanden solche Gründungen im nationalsozialistischen Staat und in der DDR statt, Diktaturen also, die ihr Ziele autoritär setzten und durchsetzten. Für das nationalsozialistische Deutschland sind die Städte Wolfsburg und Salzgitter bekannt, die parallel zur Errichtung des Volkswagenwerkes und der Hermann-Göring-Werke, eines schwerindustriellen Staatskonzerns, entstanden.

Der Nationalsozialismus gilt als Stadt-, insbesondere großstadtfeindlich. Gemäß dem nationalsozialistischen Leitbild sollten mit Wolfsburg und Salzgitter Städte entstehen, die in einer Art konfliktfreiem Raum das autoritäre Harmoniemodell der Einheit von Betriebführer und Gefolgschaft in die Wohnsiedlung verlängerten, ebenso aber eine soziale Versorgung der Arbeiterschaft des Werkes garantieren sollten. Es entstand damit unter politischen Vorzeichen ein Gegenbild zur traditionellen, konfliktreichen Industriegesellschaft, deren Städte unter anderem für schlechte Wohnbedingungen bekannt und für soziale Auseinandersetzungen grundlegend waren. Auch zeigen die beiden nationalsozialistischen industriellen Gründungsstädte eine massive Monostruktur, indem sie auf einen alles dominierenden Betrieb aufgebaut und ausgerichtet waren. Schließlich ist für beide Städte kennzeichnend, daß sie nicht als ergänzender Teil bestehender Städte, sondern als völlige Neugründungen ohne Anbindung an wesentliche Siedlungsstrukturen geplant wurden. In militärischer und wehrwirtschaftlicher Hinsicht war ihre geographische Lage inmitten des damaligen Reichsgebiets wesentlich. Damit werden Parallelen zu Eisenhüttenstadt deutlich. Die Überwindung der negativen Folgen des Kapitalismus in der städtischen Lebensweise, die industrielle Monostruktur, die Ausrichtung der Stadt auf ein gesamtstaatlich als bedeutend angesehenes Werk, schließlich die geographische und gesellschaftliche Isolierung von vorhandenen traditionellen Siedlungsstrukturen und die militärstrategisch „sichere" Lage treffen auch auf die neue Stadt an der Oder zu. Die gleichfalls offenkundigen wesentlichen Unterschiede - Wolfsburg und Salzgitter waren Rüstungsbetriebe mit einem hohen Anteil an Zwangsarbeit - unterstreichen die Bedeutung der konkreten historischen Umstände, die zur Stadtgründung geführt haben, sollen aber die typologischen Ähnlichkeiten nicht verdecken.

Die Gründung Eisenhüttenstadts 1950/51 beruhte auf dem sowjetischen Industrialisierungsmodell der Schaffung großer, schwerindustrieller Betriebe, die in den 20er und 30er Jahren oft in Verbindung mit neuen Städten errichtet wurden. Magnitogorsk st das bekannteste, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel. Mit dem Ende des 'Weiten Weltkrieges und der Ausdehnung des sowjetischen Einflußbereiches auf Ost-Mitteleuropa kam es zu einer Übertragung des sowjetischen Industrialisierungsmodells auf die Staaten unter sowjetischer Dominanz. Dies bedeutete: Priorität für den ""au der Schwerindustrie und, wo nötig, der gleichzeitige Bau neuer Industriestäd-te. War dieses Modell in der Sowjetunion mit einer nachholenden Industrialisierung Wunden, so galt dies für die Staaten Ost-Mitteleuropas nur teilweise: eher für Bulgarien, Ungarn und Rumänien, für Polen nur in Teilen, für die Tschechoslowakei und die DDR so gut wie gar nicht. Doch gleich, ob überwiegend agrarisch oder eher industriell geprägt, die kriegszerstörte Wirtschaft mußte überall wieder aufgebaut werden, und das geschah sozusagen bottom up, beginnend mit den schwerindustriellen Grundlagen, zumal die Sowjetunion als leistungsfähigstes Land seine Stahlkapazitäten zunächst für den eigenen Wiederaufbau benötigen würde. Auf diese Weise entstanden in den späten 40er und frühen 50er Jahren mehrere Städte nach sowjetischem Muster: Dimitroffgrad in Bulgarien entstand in Verbindung mit Zement-und Chemiefabriken ab 1947, Dunaujväros (früher Sztälinväros) als wichtigste Stadt der Schwerindustrie in Ungarn, und Nowa Huta um die Lenin-Hütte, eine Stadt von 200 000 Einwohnern vor den Toren von Krakau in Polen. Auch wenn vergleichende Untersuchungen zu diesen industriellen Gründungsstädten noch weitgehend fehlen, ist ihr politischer und wirtschaftlicher Zusammenhang doch unübersehbar. Eisenhüttenstadt stellt also aus internationaler Perspektive keinesfalls ein einzigartiges Beispiel für den Typ einer industriellen Stadtgründung in der Mitte des 20. Jahrhunderts dar.

In Westeuropa sind vergleichsweise Gründungen nicht anzutreffen. Zwar gab es auch hier Neugründungen von Städten, die sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts konzentrieren, aber sie waren nie auf einen industriellen Kern gerichtet. Die New Towns Englands, Mittelstädte in einer Entfernung von etwa 100 Kilometern um London, dienten der Entlastung der Metropole und der Dezentralisierung der Wohnstrukturen inmitten des stark gewerblich entwickelten südenglischen Raums. Die neuen Städte in den Niederlanden, wie etwa Lelystad, entstanden auf trockengelegten Poldergebieten und sollten ebenfalls den Ballungsraum um Amsterdam entlasten. Auch hier wurde keine Industrie angesiedelt, sondern von Pendlerbewegungen in einer agglomerierten Region ausgegangen. In der Bundesrepublik ist Sennestadt bei Bielefeld die einzige völlig neu erbaute stadtähnliche Siedlung. Als eigenständige Stadt hat sich Sennestadt jedoch nicht entwickelt, es ist heute entgegen den Intentionen der Gründer Teil Bielefelds. Neuplanungen für Industriegebiete wiederum, jedoch ohne die entsprechenden Stadtneugründungen, gab es in Westeuropa ebenfalls. Gerade im Bereich der Stahlindustrie ist das südfranzösische Fos-sur-Mer ein gut untersuchtes Beispiel.150 Hier jedoch baute man keine Wohnstadt für die Industriearbeiter, sondern wollte einen Ausgleich für die bereits bestehende Metropole Marseille schaffen.

Richten wir den Blick wieder auf die DDR, so blieb Eisenhüttenstadt nicht die einzige industrielle Stadtgründung; ihr folgten in den 50er und 60er Jahren Hoyerswerda, Schwedt und Halle-Neustadt, die jedoch Unterschiede auf mehreren Ebenen aufweisen.
Hoyerswerda, die ab 1957 errichtete Wohnstadt für das Energiekombinat „Schwarze Pumpe", südlich von Spremberg gelegen, gilt als erstes Beispiel für ein komplett mit Mitteln des industriellen Bauwesens errichtete Stadt. Ende 1954, Anfan 1955 war es, u.a. ausgelöst durch die Moskauer Baukonferenz im Dezember 1954 u das Programm der Industrialisierung des Bauwesens auf dem IV. Parteitag der SEC 1954, zu einem grundlegenden Wechsel in Architektur und Städtebau in der DDR kommen. Die traditionelle Ziegelbauweise sollte durch industriell gefertigte Normteile abgelöst werden, die auf der Baustelle nur noch montiert zu werden brauchten. Die bis dahin gültige „Nationale Bautradition" galt nunmehr als sinnloser Drang zur Verzierung. Unter der Losung „schneller, besser, billiger bauen" diskutierte die 1. Baukonferenz der DDR vom 3. bis 6. April 1955 ökonomische Lösungen des Wohnungsbaus, der Ministerrat folgte mit seinem Beschluß über „Die wichtigsten Aufgaben im Bauwesen" (21.4.1955). Es galt nunmehr, Wohnungen, später auch Gemeinschaftseinrichtungen in möglichst großer Zahl möglichst schnell und zu möglichst geringen Kosten zu errichten, um die immer noch bestehende Wohnungsnot in den kriegszerstörten Städten zu beseitigen.


Stalinstadt August 1954

 Hoyerswerda, für das bereits ab 1954 die ersten Entwürfe vorgelegt worden waren, wurde per Regierungsbeschluß vom 23.6.1955 die erste Stadt in der DDR, die vollständig in Großblock- und Plattenbauweise aufgebaut wurde. Hierzu wurde das erste vollmechanisierte Plattenwerk der DDR errichtet. Es entstand eine „Stadt nach dem Verlauf des Portalkrans", die bereits in ihrer Entstehungszeit heftige Zweifel an ihrer urbanen Qualität entstehen ließ. Die Schriftstellerin Brigitte Reimann, die seit 1960 in Hoyerswerda lebte und über die Stadt eine Erzählung und ein Romanfragment schrieb,151 fragte in einem Zeitungsartikel in polemischer Absicht „Kann man in Hoyerswerda küssen?" Ursprünglich für 50000 Einwohner geplant, wuchs die Stadt in den 80er Jahren auf über 70 000 Einwohner an - eine gleichförmige Wohnsiedlung, deren Zentrum erst ab Ende der 60er Jahre erbaut wurde. Außer den Wohnungen und dem zwölf Kilometer entfernten Hauptarbeitsplatz „Schwarze Pumpe" fehlte damit so gut wie alles, was die besondere städtische Lebensweise ausmachte, die in der Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats noch so wichtig für die Planer und Gegenstand langjähriger Debatten gewesen war.

Wie Hoyerswerda, und ebenfalls Gegensatz zur EKO-Wohnstadt, entstand auch Schwedt an der Oder unmittelbar an eine vorhandene Stadt angelehnt. Das stark kriegszerstörte alte Schwedt wurde infolge des „Chemieprogramms" von 1958, das unter anderem eine Umstellung von der Braunkohlen- auf die wesentlich effektivere Erdölchemie vorsah, Standort für ein Petrolchemisches Kombinat. Die Raffinerie war Teil eines Gemeinschaftsprojekts des RGW, dessen Kern der Bau der Erdölversorgungsleitung „Freundschaft" war, die Rohöl in die Tschechoslowakei und die DDR lieferte. Bei Schwedt überschritt die Pipeline die Oder. Hier wie schon in Eisenhüttenstadt war also die Nähe zu den Rohstoffen ausschlaggebend für die Standortwahl des Industriekomplexes. Ab 1960 entstand eine Industriestadt, die zunächst 17 bis 20 000 Einwohner, nach späteren Planungen bis zu 60 000 Einwohner haben sollte. In Schwedt sollten die in Hoyerswerda gemachten Fehler einer großen Uniformität und Weitläufigkeit der Stadtanlage vermieden werden. So wurden die industriellen Typenbauten variantenreicher strukturiert, besonders im Zentrum durch große „Wohnscheiben" eine hohe Bevölkerungsdichte erreicht. Auch das Stadtzentrum und seine wichtigsten Einrichtungen wurden zeitlich früher an den Wohnungsbau anschließend errichtet.

Entgegen den bisher beschriebenen Städten war das ab 1964 erbaute Halle-Neustadt nicht Wohnstadt eines einzelnen Industriebetriebes, sondern eine Art Sammler. Unmittelbar an die Großstadt Halle/Saale anschließend, entstand eine Wohnstadt für die Chemiearbeiter, die in auf die gesamte Region verteilten Industriebetrieben arbeiteten, jedoch trotz bereits intensiven Wohnungsbaus in den Kleinstädten und Dörfern des Reviers in den 50er Jahren nicht zufriedenstellend untergebracht werden konnten. Da die neue Stadt ein großes Einzugsgebiet mit Wohnungen versorgen sollte, erfolgten 1959/60 umfangreiche Untersuchungen über 19 verschiedene Standorte. Zunächst war Halle-Neustadt für 20 000 Einwohner, halbkreisförmig gruppiert gegenüber dem alten Halle, geplant. Nachdem jedoch der VI. Parteitag der SED 1963 den vorrangigen Ausbau der Chemieindustrie beschlossen hatte, mußte die Stadt wesentlich größer werden. Während an den ersten Häusern 1964 bereits gebaut wurde, plante man die Stadt völlig um und sah eine Größe von 70 000 Einwohnern vor. Entlang einer langgestreckten Magistrale entstanden nun hochkonzentrierte Wohngebiete, mit Subzentren versehen, und bereits ab 1966 die ersten Bauten im Stadtzentrum, das allerdings erst 1975 endgültig konzipiert wurde.

Diese vier Neustädte der DDR zeigen den massiven Wandel, dem Architektur und Stadtplanung in der DDR im Verlauf mehrerer Jahrzehnte unterworfen waren. Vom monumentalen Stil der EKO-Wohnstadt bis zu den immer differenzierteren Lösungen der industriellen Bauweise läßt sich so etwas wie ein Lernprozeß im Umgang mit der Moderne ablesen; aber auch die fortdauernden ökonomischen Zwänge, die zeitweise in Eisenhüttenstadt noch zugunsten einer repräsentativen Architektur negiert worden waren, aber bereits in Hoyerswerda die Stadt praktisch von Grund auf prägten, lassen sich im Vergleich ablesen. Der Architekturhistoriker Thomas Topfstedt hat bereits zu DDR-Zeiten darauf hingewiesen, daß die Produktionspalette der Bauindustrie, selbst als sie von der Komplettlieferung von Haustypen auf ein Modulsystem umgestellt war und mit der Wohnungsbauserie 70 (WBS 70) erstmals eine Art Komplettlösung für den Wohnungs- wie auch den Gesellschaftsbau anbot, niemals auch wirklich ausgenutzt wurde. Wichtige Komponenten der Stadtplanung wie Wohnkomplex und Magistrale blieben in allen Städten erhalten, obwohl die Wohnkomplexe unter Einfluß einer möglichst rationellen Bauweise bald immer größer wurden.
Deutlich ist der Unterschied zwischen den vier Neustädten und dem sonstigen industriellen Wohnungsbau, der lange Zeit auf die Planung großer Stadtrandsiedlungen setzte: die Ausgestaltung „vollständiger Städte" mit einem Stadtzentrum war in diesen Neustädten noch Teil der Planung, auch wenn die Realisierung generell überaus spät, teilweise gar nicht kam. So sind insbesondere Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda unvollständige Städte geblieben.

Eisenhüttenstadt zeigt die verschiedenen Phasen des Wohnungsbaus und dei Stadtplanung der DDR in seinen Bauetappen und Wohnkomplexen deutlich. Dennoch ist die Stadt aufgrund ihrer kompakten Kernstadt etwas besonderes und in der DDR nicht ein zweites Mal gebaut worden.

Wirtschaftliche Gründe waren grundsätzlich ausschlaggebend für die Planung der Neustädte, auch wenn sich nach und nach die Wirtschaftsschwerpunkte der Industrieplanung änderten: Stahl, Energie, Chemie - damit ist praktisch die Abfolge DDR-lndustrialisierungsstrategie mit ihren Schwerpunktprogrammen über mehr als 20 Jahre umrissen. Mit Ausnahme von Halle-Neustadt, das als Sammelwohnstadt für die Chemieregion Halle-Bitterfeld diente und im Zentrum des Landes lag, wurden die Neustädte in wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten und zumeist fernab anderer Zentren errichtet. Damit wird deutlich, daß Wirtschaftspolitik in der DDR auch eine Art Strukturpolitik des Ausgleichs bedeutete. Entlang der Odergrenze wurden mit Eisenhüttenstadt und Schwedt zwei Städte als industrielle Kerne geschaffen, die auf ihr Umfeld wirken sollten, jedoch eher eine fortdauernde Sonderstellung in einer weitgehend agrarischen Umgebung einnahmen. Auch ein genereller Niveauausgleich zwischen dem industrialisierten Süden der DDR und dem zurückgebliebenen Norden und Osten wurde nicht wirklich erreicht. Im Bezirk Frankfurt/Oder, in dem Eisenhüttenstadt und Schwedt lagen, konnte zwar der Industrialisierungsgrad, d.h. der Anteil der Bewohner, die in der Industrie arbeiteten, von 17,2 Prozent im Jahr 1955 auf 29,6 Prozent 1988 gesteigert werden, nicht zuletzt durch die großen Industriekomplexe in Eisenhüttenstadt und Schwedt (Frankfurt/Oder mit dem Halbleiterwerk kam als neue Industrie hinzu), die Einwohnerzahl blieb jedoch generell zurück, so daß der Bezirk weiterhin zu den dünnbesiedeltsten der DDR gehörte. Die Landkreise Eisenhüttenstadt und Beeskow erreichten gerade einmal die Hälfte der durchschnittlichen Bevölkerungsdichte des Bezirks und nahmen weiter ab. Die Zahlen für 1961 und 1988 lauten: Landkreis Eisenhüttenstadt von 50 Einwohner pro Quadratkilometer auf 38, Landkreis Beeskow von 42 Einwohner auf 39.157 Die neuen Industriestädte waren also nicht Kerne einer sich entwickelnden Industrieregion, sondern sogen die agrarisch orientierte Bevölkerung praktisch auf und blieben isoliert und einem sich entleerenden Land.

Diesem Industrialisierungs- und Strukturmodell folgte die DDR in den 70er und 80er Jahren nicht mehr. Auch wenn der Wohnungsbau weiterhin in starkem Maße auf die Stadtrandsiedlungen konzentriert blieb - Berlin-Hellersdorf ist als letzte Großsiedlung der DDR dafür ein gutes Beispiel - baute man nunmehr verstärkt auch innerstädtisch. Die Planung neuer Städte, die die sozialistische Lebensweise garantieren sollten, wurde zugunsten der Umgestaltung vorhandener Städte aufgegeben. Neue Industriebetriebe wurden, beginnend mit der Chemiefaserindustrie bereits ab den 60er Jahren, wieder an traditionellen Gewerbestandorten mit qualifizierter Beschäftigtenstruktur angesiedelt, das Modell der industriellen Gründungsstadt war damit aufgegeben.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten die Textzusammenstellung von Karl Mueller.