Widerstand unter Hartz IV
Was so geschah
Hartz IV im Juli und August 2011

von Anne Seeck

09/11

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Reiches Deutschland 

Das Geldvermögen "der" Deutschen klettert auf Rekordhoch. Die Privathaushalte in Deutschland hatten zum Ende des Auftaktquartals 2011 ein Geldvermögen von 4,825 Billionen Euro. Sachwerte wie Immobilienbesitz sind darin nicht erhalten. Der Anstieg kommt durch  kräftige Zuwächse bei Bankeinlagen, Wertpapieren und Ansprüchen gegenüber Versicherungen zustande. Mit Ausnahme einiger krisenbedingter Dellen häufen "die" Deutschen stetig mehr Geldvermögen an: Anfang 1991 hatte das Geldvermögen der privaten Haushalte noch einen Wert von revidiert 1,815 Billionen Euro, Anfang 2001 waren es revidiert 3,487 Billionen Euro. 

Arme Schuldner 

Am 1. Oktober 2010 hatten rund 6,5 Millionen Deutsche im Alter von mindestens 18 Jahren extreme Schuldenprobleme. Das sind 290.000 Personen mehr als im Vorjahr - was einem Anstieg von 4,7 Prozent entspricht. Den höchsten Grad der Überschuldung weisen Bremen (14,1 Prozent), Berlin (12,7 Prozent) und Sachsen-Anhalt (11,6 Prozent) auf. Im November 2010 mussten rund 9700 Verbraucher Insolvenz anmelden. Laut Wirtschaftsauskunft Creditreform bleibt die Zahl der Verbraucherinsolvenzen 2011 hoch. Jeder zehnte Erwachsene ist bereits heute nicht in der Lage, seine Verbindlichkeiten über seine regelmäßigen Einkünfte zu bezahlen - und droht, in die Pleite abzurutschen. Schuld daran sind vor allem Minijobs und Niedriglöhne.

Die Überschuldungsquote in den USA betrug 2010 sogar 17,4 Prozent. Insgesamt gelten in den Vereinigten Staaten 43 Millionen Menschen als überschuldet - das sind 3,8 Millionen mehr als 2009.  

Arme Akademiker 

"Obwohl sie jahrelang studiert haben, verdienen Dozenten an Sprachinstituten und Volkshochschulen oft weniger als Hilfskräfte auf dem Bau. Viele arbeiten nah am Sozialbetrug. Schuld sind die magere staatliche Förderung, das Rentenversicherungsgesetz - und die Liebe zum Job."..."Etwa vier von fünf Dozenten ignorieren die Rentenversicherung einfach", schätzt Inge Görlich von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW). Das gelte für Volkshochschullehrer genauso wie für Honorarkräfte, die Hartz-IV-Empfänger weiterbilden und dabei nicht selten selbst auf Sozialhilfeniveau leben. Sie alle müssen mit dem Gefühl zurechtkommen, etwas Illegales zu tun und mit dem Risiko, dass die Rentenversicherung ihnen auf die Schliche kommt und Nachzahlungen fordert....Es sind Idealistinnen, die dieses System am Laufen halten, das gerade deshalb funktioniert, weil nach jeder Kündigung schon die nächste Kandidatin Schlange steht." (SPIEGEL ONLINE, 18. Juli 2011,

Arme Rentner 

2010 gingen ca. 660 000 Menschen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren einer geringfügigen Beschäftigung oder einem Minijob nach. 2000 waren es noch 416 000, allerdings sei die Zahl der Rentner um 2 Millionen gestiegen. (Berliner Zeitung, 23.8.2011)  

Monatlich 69.000 Sanktionen nach dem SGB II 

Aus einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke wurde deutlich, dass die durchschnittliche Höhe der Leistungskürzungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) im vergangenen Jahr 125 Euro betrug. Pro Monat wurden dabei etwa 69.000 Sanktionen ausgesprochen. Der wichtigste Sanktionsgrund war mit 41.500 Fällen das Meldeversäumnis, gefolgt von der Verletzung einer Pflicht in der Eingliederungsvereinbarung (12.000) und der Weigerung, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder eine sonstig vereinbarte Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen (8.500).  

Sparkassen wollen keine Guthabenkonten  

Die Rede ist vom so genannten Girokonto für jedermann. Mehr als 1,1 Millionen solcher reinen Guthabenkonten, bei denen die Kunden keine Überziehungen vornehmen können, führen alleine die Sparkassen in Deutschland. So hat beispielsweise die Frankfurter Sparkasse die monatliche Gebühr kürzlich um 1,50 Euro auf 8,40 Euro erhöht - eine Menge Geld für Hartz-IV-Empfänger, die zum größten Kundenkreis für solche Konten zählen. Bei der Deutschen Bank kosten solche Konten sogar 8,99 Euro. Auch die Berliner Sparkasse, die bislang mit 3,50 Euro verhältnismäßig günstig war, passt sich jetzt an: Sie erhöht den Preis im Oktober auf acht Euro.

Die Sparkassen wollen diese armen Kunden abwimmeln, andere Banken schicke diese wiederum zu den Sparkassen.  

Für rückwirkende Leistungen aus dem Bildungspaket fordern Jobcenter widerrechtlich Nachweise.  

Viele Eltern, die für ihre Kinder rückwirkende Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket für sozial Bedürftige beantragen, sehen sich der Drohung ausgesetzt, sämtliche Bezüge einzubüßen. Danach erhalten diejenigen, die für die Zeit von Januar bis Ende März dieses Jahres Ansprüche geltend machen, nicht selten die Aufforderung zur Erbringung von Nachweisen. Würden diese nicht fristgerecht eingereicht, »können die Geldleistungen ganz versagt werden«. Im betreffenden Gesetz ist dagegen nur eine Nachweispflicht ab 1. April festgeschrieben. Die Hartz-IV-Behörden handeln dem aber zuwider. Das Elo-Forum hat das Schreiben eines Berliner Jobcenters veröffentlicht, das dem Antragsteller die Vorlage einer ganzen Reihe von Dokumenten abverlangt: neben einer Schulbescheinigung sind das »Fahrkarten«, die »Rechnung des Caterers«, Belege über »Zahlung bzw. Kontoverbindung des Anbieters von Mittagsverpflegung« sowie ein »Angebot/Vertrag eines Leistungserbringers für soziale bzw. kulturelle Teilhabe«. Daran schließt sich die Drohung mit der Einstellung aller Geldleistungen an. Der Wortlaut löse bei den Betroffenen »Angst und Entsetzen« aus. »Hier wird stur nach Schema F ein unzutreffender Textbaustein eingesetzt, der Antragsteller verunsichert und abschreckt.« Behrsing weiß von »bis zu 80 Jobcentern, die so verfahren«. Martin Künkler von der KOS sprach gestern gegenüber jW gar von einer »flächendeckenden Praxis«. (Junge Welt 6.8.2011) 

Neues Programm: Psychotests 

Die Bundesagentur plant ein neues Betreuungsprogramm, durch das Jobsuchende die eigenen Stärken ergründen und trainieren sollen. Teil des freiwilligen Verfahrens: ein ausführlicher Psychotest. Ein Testverfahren mit rund 2200 Jobsuchenden sei bereits abgeschlossen, sagte ein BA-Sprecher. 

TK-Studie: Zeitarbeit macht krank 

"Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse (TK) lässt die Zeitarbeit Menschen krank werden. Laut einer aktuellen Auswertung der Kasse waren Zeitarbeitsnehmer in Durchschnitt häufiger krank, als Arbeitnehmer in regulären Beschäftigungsverhältnissen.

Jeder zweite Betroffene war im Durchschnitt 15 Tage krank geschrieben. Angestellte in normalen Arbeitsverhältnisse waren durchschnittlich etwa 3,5 Tage weniger krank. Hauptursache für den verhältnismäßig höheren Krankenstand sind nach Angaben der Krankenkasse die zumeist körperlich sehr belastenden Tätigkeiten, die ein Leiharbeiter verrichten muss. Auf der anderen Seite werden die Jobs ausnahmslos geringer vergütet, als normale Arbeitstätigkeiten. Viele befinde sich zudem in einer ständigen Arbeitsplatzunsicherheit, haben Angst vor den Abrutsch in Hartz IV, können sich nicht fortentwickeln und haben keinen oder nur wenig Einfluss auf die zu verrichtenden Tätigkeiten. Viele Leiharbeiter leiden laut der TK auch unter dem ständigen Wechsel der Einsatzorte. Die Jobs lösen bei den Menschen körperliche Symptome wie Rückenschmerzen oder psychische Beschwerden wie Depressionen aus....2010 meldete sich jeder zweite Leiharbeiter für durchschnittlich 2 Tage aufgrund psychischer Probleme krank. Die Arbeitsunfähigkeit der Zeitarbeitnehmer stieg in nur zwei Jahren um satte 12 Prozent. (sb)" (gegen-hartz, 12.07.2011) 

Mit Hartz-IV-Empfängern sollen die Lücken beim Bundesfreiwilligendienst aufgefüllt werden 

Seit der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht am 1. Juli 2011 gibt es auch den Zivildienst nicht mehr. Als Ersatz entstand der Bundesfreiwilligendienst. Es melden sich aber nicht genügend Freiwillige, um die Lücken zu füllen. Die Vergütung beträgt maximal 330 Euro. Jetzt soll dieser Freiwilligendienst für Hartz IV- Bezieher attraktiv gemacht werden. CDU-Politiker haben vorgeschlagen das abzugsfreie Einkommen auf 175 Euro zu erhöhen. ( http://www.heise.de/tp/blogs/8/150189

Armutsrisiko Pflege  

"Pflege kann zum Armutsrisiko werden - besonders für Frauen", stellte die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, Ulrike Mascher, am 21.8. in München fest. Sie verwies auf die geringe durchschnittliche Altersrente für Frauen, die in Deutschland 528 Euro beträgt. Pflegearbeit zu Hause, die zu 70 Prozent von Frauen geleistet wird, könnte das Problem der Frauenaltersarmut noch verschärfen. Denn die Gesellschaft dankt dieses Engagement kaum, beispielsweise was die Rentenansprüche betrifft. Mascher warnte deshalb: "Angehörigenpflege zum Nulltarif ist kein Modell der Zukunft." Die Rente reicht nicht fürs Heim:...Wer beispielsweise in Pflegestufe III eingestuft wird und im Heim lebt, muss Eigenleistungen von durchschnittlich 1296 Euro erbringen. "Das geben die Renten in Deutschland nicht her, besonders nicht die von den Frauen."...Prekäre Beschäftigung im Pflegebereich:... "So wird auch der Pflegeberuf eine Falle für die eigene Altersarmut." (Michael Pausder)  (gegen-hartz, 21.8.2011)  

Insbesondere obdachlose und sozial benachteiligte Opfer von Neonazischlägern tauchen in den Statistiken des Bundes nicht auf 

In der Nacht vom 24. zum 25. Mai 2000 erstach ein 18jähriger Neonazi im Berliner Stadtteil Buch den 60jährigen Sozialhilfeempfänger Dieter Eich in dessen Wohnung. Das ist kein Einzelfall. Ulla Jelpke schreibt: "Die offiziellen Zahlen der Innenminister von Bund und Ländern weisen für die Zeitspanne von Oktober 1990 bis zum Sommer 2010 »nur« 47 Todesopfer rechter Gewalt aus. Dagegen berichtete der Tagesspiegel in seiner Ausgabe vom 15. September 2010 über eine gemeinsam mit der Wochenzeitung Die Zeit erstellte Recherche, die ergeben habe, daß seit der sogenannten Wiedervereinigung »mindestens 137 Menschen bei Angriffen von Neonazis und anderen rechten Gewalttätern ums Leben gekommen sind«. Dies ist eine Diskrepanz von 90 »verschwiegenen Toten«. In 14 weiteren Fällen besteht für die Journalisten zumindest der Verdacht eines rechten Tötungsdeliktes. Die Mitarbeiter der beiden Zeitungen hatten Urteile gesichtet, Staatsanwaltschaften, Gerichte, Sicherheitsbehörden und Opferberatungsstellen befragt und mit Freunden und Verwandten der Opfer gesprochen. Sie wiesen dabei insbesondere nach, daß Täter für die aufgelisteten Tötungsdelikte aus einem rechten Milieu stammen und teilweise im Ermittlungs- und Strafverfahren selbst ihre rechtsextreme oder fremdenfeindliche Gesinnung und Motivation offenbart hatten....Auffällig oft sind Obdachlose, Langzeitarbeitslose oder andere sozial Benachteiligte Opfer neofaschistischer Tötungsverbrechen. Die häufig alkoholisierten und meist jungen Täter sehen nicht nur einen leicht zu attackierenden Hilflosen vor sich, sondern wähnen sich dabei oft genug als Vollstrecker des »gesunden Volksempfindens«. Derartige menschenverachtende Gewalt wird maßgeblich durch ein gesellschaftliches Klima genährt, in dem sozial Benachteiligte als »lebensunwerter Abschaum« gelten." ( http://www.jungewelt.de/2011/07-21/023.php ) 

UN: Zumutbarkeitsklausel und die sogenannte Gemeinnützige Arbeit sind vertragswidrig 

Der aktuelle UN-Bericht kritisiert das Sozialsystem in Deutschland. Der Bericht "Abschließende Betrachtungen des Ausschusses über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" kritisierte die Sozialpolitik der Bundesregierung, insbesondere wird bei den Hartz IV Gesetzgebungen darauf hingewiesen, die Zumutbarkeitsregeln ("jede zumutbare Arbeit annehmen") und die "unbezahlte gemeinnützige Arbeit" die Vertragsbedingungen der Vereinten Nationen verstoßen.  

Der aktuelle UN-Bericht "Abschließende Betrachtungen des Ausschusses über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" in Deutschland - Überprüfung der Berichte der Vertragsstaaten nach Artikel 16 und 17 der Vereinbarung (E/C.12/DEU/CO/5)  ( Quelle http://www.gegen-hartz.de

Hartz IV wird ständig geändert 

"Ständig werden die Hartz IV Gesetze und Verordnungen geändert. Es vergehen keine sechsWochen, ohne dass sich Betroffene und Behördenmitarbeiter mit einer neuen Gesetzeslage befassen müssen. Galt eine Regelung vor einigen Wochen noch als gültig, kann es morgen schon wieder ganz anders aussehen....Heinrich Alt von der Bundesarbeitsagentur (BA) kritisierte die ständigen Neuerungen bei Hartz IV. Seit Einführung der Hartz IV Gesetze im Jahre 2005 wurden die Verordnungen gut 60 mal geändert, erneuert oder ergänzt. Rechnet man die Änderungen seit statistisch um, so „vergehen keine 6 Woche ohne eine neue Vorschrift“, so Alt gegenüber der Zeitung Frankfurter Rundschau (FR). Es sei „zwar nicht verwunderlich, wenn ein solch großes Projekt“ nachjustiert wird, allerdings sei „Hektik im Gesetzgebungsprozess“ nicht von Nöten. Vielmehr sollten „neue Ideen gesammelt“ und in wesentlich größeren Zeitabständen umgesetzt werden. Teilweise bedeuten die Neuerungen einen hohen „bürokratischen Aufwand“....Alt kritisierte in diesem Zusammenhang die massiven Kürzungen.... Die schwarz-gelbe Bundesregierung plant bis 2015 Einsparungen in Höhe von 8 Milliarden Euro. Die Arbeitsmarkt-Instrumente werden im Verhältnis zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu schnell gekürzt. Diese Kürzungen bezifferte Alt mit rund 25 Prozent. Die Erwerbslosigkeit sinke allerdings nur um 3 bis 4 Prozent..." (gegen-hartz, 16.07.2011)  

BERLIN

Schlusslicht bei Arbeitslosenquote 

Im Juli 2011 betrug diese 13,5 Prozent. Ca. 130 000 Erwerbstätige benötigen zu ihrem Lohn Hartz IV. Der Druck auf den Arbeitsmarkt kommt vor allem durch die Pendler aus dem Umland und die Zuzüge von Arbeitskräften nach Berlin. (Berliner Zeitung, 18.8.2011)  

Berlins Jobcenter lassen fast 100 Millionen verfallen 

Die zwölf Berliner Jobcenter haben im vergangenen Jahr 81 Millionen Euro aus ihren Budgets nicht ausgegeben. Damit sind rund acht Prozent der für die Arbeit der Jobcenter und die Betreuung der Langzeitarbeitslosen bereitgestellten eine Milliarde Euro verfallen. Den Jobcentern wird das Budget 2012 noch einmal deutlich gekürzt (Morgenpost, 17.7.2011) 

In Berlin Wohnraum immer teurer und knapper 

Die Wohnkosten in der Hauptstadt steigen immer weiter an. Allein in den beiden letzten Jahren um durchschnittlich knapp acht Prozent netto kalt. Allein die Mieten für kleine Quartiere unter 40 Quadratmetern haben um bis zu 14,8 Prozent zugelegt. Hinzu kommt, daß bei Neuabschlüssen die Preise geradezu explodieren und Suchende mit schmalem Geldbeutel nicht mehr mithalten können. Gleichzeitig wird Wohnraum immer knapper. So gehen durchschnittlich 3500 Domizile durch Abriß, Umwidmung und Zweckentfremdung dem Mietwohnungsmarkt jährlich verloren. (von Christian Linde Junge Welt 14.7.2011)

"Nach Angaben des Berliner Mietervereins ist die Zahl der Umzugs-Aufforderungen seitens der Jobcenter massiv auf 13.000 jährlich gestiegen. Durch die verweigerte Kostenübernahme werden Umzüge durch Leistungsträger provoziert, obwohl preisgünstigere Wohnungen immer schwerer zu finden sind. Der Berliner Mietspiegel 2011 hatte einen deutlichen, überproportionalen Mietanstieg für die letzten zwei Jahre dokumentiert. Von der Mietentwicklung sind Haushalte mit geringem Einkommen besonders betroffen, darunter auch die ca. 330.000 Hartz IV Bedarfsgemeinschaften und etwa 60.000 Rentnerhaushalte mit Grundsicherung." (Gegen-hartz, 21.8.2011)

URTEILE 

Hartz IV Urteil: Kinder dürfen Omas Geschenk behalten 

"Nach fünf Jahren Rechtsstreit hat  das Bundessozialgericht am 23.8. in Kassel entschieden: Die Geldgeschenke der Großmutter dürfen Kinder einer ehemaligen Hartz-IV Bezieherin behalten. Doch ein Grundsatzurteil war die Entscheidung der obersten Sozialrichter nicht. Vielmehr ein Hinweis darauf, dass sich das Jobcenter unerlaubte Formfehler erlaubt hatte...Eine Oma überwies ihren Enkelkindern jeweils zu Geburtstagen und Weihnachten Geld auf das Konto der Kindesmutter. Der Zweck der Gelder war nicht bestimmt, denn es waren Geschenke zu besonderen Anlässen und die Kinder sollten damit anfangen, was sie wollten. Doch das zuständige Jobcenter hatte kein Erbarmen und sah darin ein sonstiges Einkommen, dass an die Hartz IV Regelleistungen anzurechnen sei. Daraufhin forderte der Leistungsträger gezahlte Sozialleistungen in Höhe von 510 Euro zurück. Lediglich 60 Euro der insgesamt 570 Euro sollten anrechnungsfrei bleiben. Daraufhin klagte sich die Familie durch alle Instanzen...Das Jobcenter hatte seine Rückforderungsbescheide während der Verhandlung aufheben müssen, nachdem das Gericht auf Formfehler hinwies. Für die Familie ist die Sache nun abgeschlossen. Eine erneuten Bescheid oder Klage haben sie nicht zu befürchten (Aktenzeichen, Bundessozialgericht: B 14 AS 74/10 R)." (Gegen-hartz, 23.08.2011) 

"FÄLLE" 

47-Jähriger Neuköllner Erwerbsloser wegen Bedrohung seines Fallmanagers vor Gericht 

Der seit einem Autoanfall zu 70 Prozent arbeitsunfähige Mann bemühte sich um die Förderung einer Ausbildung als Veranstaltungsfachwirt. Von einem Neuköllner Jobcenter-Mitarbeiter hatte er eine mündliche Zusage. Der Fallmanager erklärte ihm aber, dass er für die Qualifizierungsmaßnahme nicht geeignet sei, stattdessen bot er ihm eine Arbeitserprobungsmaßnahme an. Daraufhin soll der Erwerbslose erklärt haben, dass so ein Amoklauf wie in einer Erfurter Schule auch im Jobcenter passieren könne. Der Erwerbslose erklärte vor Gericht, er habe den Mitarbeiter sensibilisieren und keineswegs bedrohen wollen. Der Richter sprach eine Verwarnung und eine einjährige Bewährungsstrafe aus. Sollte der Neuköllner in dieser Zeit wegen ähnlicher Vorwürfe erneut vor Gericht stehen, müsse er eine Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen à 15 Euro bezahlen. Er muss für die Gerichtskosten aufkommen und seine Aussichten auf eine erfolgreiche Klage gegen das vom Neuköllner Jobcenter ausgesprochene Hausverbot sind nicht gewachsen. Bis November dieses Jahres darf er das Gebäude nur auf Aufforderung des Jobcenters betreten.
(siehe dazu in dieser Ausgabe:
Hausverbot im Jobcenter) 

Jobcenter Bonn streicht Hochschwangeren alle Leistungen 

Das Jobcenter Bonn hat einer im 7. Monat schwangeren Frau alle Hartz IV-Leistungen gestrichen, weil sie trotz ärztlich verordneter Bettruhe einen Termin bei ihrer Fallmanagerin nicht wahrgenommen hatte. "Mit einer Schwangerschaft beginnt für Hartz IV-Bezieherinnen oftmals eine Odyssee durch den deutschen Sozialstaat, bei der ganz schnell das ungeborene Leben unter die Räder kommt", berichtet Behrsing vom Erwerbslosenforum. In jüngster Vergangenheit war das Erwerbslosen Forum Deutschland immer wieder damit konfrontiert, dass junge schwangere Frauen, die im Hartz IV-Bezug stehen, von Jobcentern auf Null sanktioniert wurden. Inzwischen hat sie ihr Geld.  

Jobcenter durchsucht Wohnung einer krebskranken Frau, die im Krankenhaus liegt 

"Ich war in der Zeit bestimmt vier oder fünf Mal im Jobcenter und habe Liegebescheinigungen und Atteste abgegeben", sagt eine Bekannte. "Angeblich aber lagen die Dokumente nicht vor." Etwa zur gleichen Zeit macht sich offensichtlich die Vermieterin Sorgen um Frau Müller, die zwei Zimmer im oberen Stock ihres Einfamilienhauses bewohnt. Sie weiß von der Krebsbehandlung nichts, die Miete für April steht aus. Wie die Pressestelle des Jobcenters bestätigt, nimmt sie am 12. April auf der Suche nach ihrer Mieterin Kontakt mit dem Jobcenter auf. Dort wird man hellhörig. Das Jobcenter aktiviert den Außendienst zur "Sachverhaltsaufklärung" und stellt die Zahlungen für den Monat Mai komplett ein, wegen der "unklaren wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse".

Am 6. Mai betritt ein Mitarbeiter im Beisein der Vermieterin die Wohnung von Rebekka Müller. Die Sanktionen werden erst drei Wochen später zurückgenommen. Was nicht aufgehoben wurde, so die Bekannte von Rebekka Müller, sei eine 10-prozentige Sperre für die Monate Mai, Juni und Juli, da während der Zeit des Krankenhausaufenthalts der Postzugang nicht gewährleistet gewesen sei. (taz) 

Todesopfer durch Hartz IV Leistungsentzug 

"Nachdem einer Mutter aus Saarbrücken und ihrem Kind die Hartz-IV-Leistungen komplett gestrichen wurden, schien sich niemand mehr dafür interessiert zu haben, wie diese Familie ohne Geld für Miete, Heizung, Strom, Lebensmittel und Krankenversicherung überleben konnte. Nur rein zufällig, durch auffälliges Verhalten in der Öffentlichkeit, sei das Jugendamt auf die Frau mit ihrem Kind aufmerksam geworden....In Speyer sei 2007 ein 20-jähriger psychisch kranker Mann verhungert, nachdem er das Geld von der damaligen Arge gestrichen bekam. Ähnlich scheine es jetzt der Mutter mit ihrem kleinen Kind in Burbach ergangen zu sein. „Zum ersten Mal ist im Saarland ein Hilfebedürftiger trotz Sozialsystem verstorben und dabei ein Kind möglicherweise verhungert“, erklärt Dagmar Trenz, jugendpolitische Sprecherin der LINKEN. „Jetzt müssten alle hellwach sein und Lehren aus dieser Tragödie ziehen.“ (gegen-hartz, 07.08.2011)  

TIPPS 

DGB-Ratgeber zu Hartz-IV-Leistungen 

Der Ratgeber beschäftigt sich kurz und prägnant mit den wichtigsten Regelungen und berücksichtigt die gesetzlichen Änderungen der jüngsten Hartz-IV-»Reform«, heißt es dort weiter. Ausführlich werde auf das sogenannte Bildungspaket sowie Unterkunftskosten eingegangen. Geplante Änderungen im Rahmen der sog. Instrumentenreform sind ebenfalls enthalten. 

Ein Exemplar der Broschüre im DIN-A5-Format kostet 3,20 Euro einschließlich Porto- und Versandkosten. (Für Großabnehmer: Ab 20 bzw. 50 Stück reduziert sich der Preis.) Der Ratgeber kann über den DGB-Bestellservice bestellt werden. Ohne Internetzugang kann die Broschüre »Ratgeber Hartz IV – Tipps und Hilfen des DGB« (Neuauflage 2011, Produktnummer: DGB 21351) auch schriftlich bestellt werden bei: PrintNetwork pn GmbH, Stralauer Platz 33–34, 10243 Berlin. (jW) 

Ein autobiographisches Buch einer Journalistin von ihrer eigenen prekären Existenz als Kulturschaffende:  

Katja Kullmann: Echtleben, Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben. Eichborn-Verlag, Frankfurt/Main 2011, 256 Seiten, 17,95 Euro  siehe: http://jungle-world.com/artikel/2011/31/43733.html  

PROTESTE 

In 54 Städten gegen Billiglohn und Hartz IV 

Am 23.7.2011 wurde für 10 Euro MIndestlohn und 500 Euro Regelsatz protestiert. Große Organisationen versagten die Unterstützung. Während z.B. dem DGB die Forderungen zu weitreichend sind, lehnen andere die Forderungen als zu lasch ab.

So schreibt Hardy Krampertz vom Attac-Koordinierungskreis, dieser könne den Aufruf nicht unterstützen, weil Attac die Hartz IV-Gesetze grundsätzlich ablehnt und nicht verbessern will. »Als ein Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens, das Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beinhaltet, kann ich eine Forderung nicht mit tragen, die Armut festschreibt. Von 340 Euro kann mensch nicht leben, von 500 Euro aber auch nicht«, moniert Krampertz. Werner Rätz von der Attac-AG »Genug für Alle« geht auf einen weiteren Dissens ein. Während der Kampagnensprecher Rainer Roth fordert, dass alle sozialen Sicherungen aus Erwerbsarbeit, also Arbeitslohn oder Lohnersatzleistungen resultieren müssen, will die AG »Genug für Alle« die soziale Sicherheit der Menschen vom Verkauf der Arbeitskraft abkoppeln.(  Quelle: http://www.neues-deutschland.de)  

Demo gegen Gentrifizierung am 3.9.2011 in Berlin 

Jetzt reichts! – Gegen Mie­ter­hö­hung, Ver­drän­gung und Armut 

Die Mie­ten stei­gen ra­sant in Ber­lin. Für viele Mie­te­rin­nen und Mie­ter sind sie be­reits zu hoch. In der gan­zen Stadt wer­den Men­schen mit ge­rin­gem Ein­kom­men aus ihren Woh­nun­gen und ihrer Nach­bar­schaft ver­drängt. Mi­gran­tin­nen und Mi­gran­ten trifft es zu­erst, aber auch die Rent­ne­rin von ne­ben­an ge­nau­so wie den Hartz-IV-Emp­fän­ger oder die Al­lein­er­zie­hen­den. Es be­trifft uns alle, egal woher wir kom­men! 

Jetzt ist Wahl­kampf. Die Par­tei­en ver­spre­chen uns viel, aber wir glau­ben ihnen kein Wort. In Wahr­heit haben sie den So­zia­len Woh­nungs­bau ab­ge­schafft, öf­fent­li­ches Ei­gen­tum wie die Was­ser­be­trie­be ver­hö­kert, die städ­ti­schen Woh­nungs­bau­ge­sell­schaf­ten ver­scher­belt oder auf Ge­winn ge­trimmt. Ganz of­fen­sicht­lich neh­men Po­li­ti­ke­rin­nen und Po­li­ti­ker in Kauf, dass Leute mit klei­nem Ein­kom­men aus ihrem Zu­hau­se ver­drängt und ihren so­zia­len Zu­sam­men­hän­gen ge­ris­sen wer­den. Des­halb: Par­tei­en und ihre Sym­bo­le haben auf der Demo nichts zu su­chen. 

Wir neh­men das Pro­blem jetzt selbst in die Hand!

Wir Mie­te­rin­nen und Mie­ter or­ga­ni­sie­ren Stadt­teil­ver­samm­lun­gen, Kiez­spa­zier­gän­ge und Ak­tio­nen. Stadt­teil­grup­pen ent­ste­hen ge­ra­de stadt­weit und rufen jetzt ge­mein­sam zu die­ser Groß­de­mons­tra­ti­on auf. In In­itia­ti­ven zu­sam­men­ge­schlos­se­ne Mie­te­rin­nen und Mie­ter aus allen Stadt­tei­len und Stadt­teil­grup­pen wer­den die De­mons­tra­ti­on an­füh­ren. Ob in Prenz­lau­er Berg, Zeh­len­dorf, Mo­abit, Wed­ding, Schö­ne­berg, Mitte oder Fried­richs­hain – die Pro­ble­me sind be­zirks­über­grei­fend. Neu­kölln, Alt-Trep­tow und Kreuz­berg, durch die die De­mons­tra­ti­on füh­ren wird, ste­hen mit ihren Pro­ble­men bei­spiel­haft für die Ver­drän­gungs­pro­zes­se in der gan­zen Stadt. 

Wir wol­len den Wi­der­stand der Mie­te­rin­nen und Mie­ter gegen Ver­drän­gung und Mie­ter­hö­hun­gen stär­ken.

Alle Men­schen sol­len woh­nen kön­nen, wo sie wol­len. Be­zahl­ba­re Woh­nun­gen für alle und über­all! Woh­nen ist ein Men­schen­recht und keine Ware. Wir zah­len un­se­re Miete nicht für Ren­di­te. 

Wir tra­gen un­se­re Wut auf die Stra­ße
am 3. Sep­tem­ber um 14 Uhr ab Her­mann­platz 

Bringt eure Nach­ba­rin­nen und Nach­barn und kurze Bei­trä­ge aus euren Stadt­tei­len mit. Für Men­schen, die nicht gut lau­fen kön­nen, sind Wagen zum Sit­zen ge­plant. Zum Aus­tausch wird es ein of­fe­nes Mi­kro­phon geben. 

Vor­be­rei­tungs­grup­pe: [Stadt­teil­in­itia­ti­ve Schil­ler­kiez, An­ti­Gen (Neu­kölln), Karla Pap­pel In­itia­ti­ve (Alt-Trep­tow), Wem ge­hört Kreuz­berg (Grae­fe-,Cha­mis­so-& Groß­bee­ren­kiez), Café Rei­che (Rei­chen­ber­ger Kiez), Wran­gel­kiez-In­itia­ti­ve, Kiez­fo­rum Rix­dorf, Kam­pa­gne gegen Zwangs­um­zü­ge, Pro­jek­te-Ver­net­zung in Mitte, Prenz­lau­er Berg und Wed­ding, Mie­ter­initia­ti­ve On­kel-Tom-Sied­lung, Mie­ter_in­nen der 23 an die GSW ver­schenk­ten Häu­ser, Kam­pa­gne Stei­gen­de Mie­ten Stop­pen!, Spreepi­ra­t_in­nen] > Or­ga­ni­siert in „Stadt­ver­netzt“; Avan­ti – Pro­jekt un­dog­ma­ti­sche Linke, An­ti­fa­schis­ti­sche Linke Ber­lin, An­de­re Zu­stän­de Er­mög­li­chen.

Weitere Infos: http://mietenstopp.blogsport.de/demo/

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.