Polizisten erschießen psychisch Kranke und andere Randständige

von Anne Seeck

09/11

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Polizeigewalt? Das Thema hat mich nie sonderlich interessiert. Prügelnde Bullen am ritualisierten 1. Mai oder bei G8-Gipfeln.  Dann kam Christy Schwundeck, die im Mai in einem Jobcenter in Frankfurt erschossen wurde. Das hat mich ziemlich schockiert. Das Jobcenter in Frankfurt am Main, in dem am 19. Mai diesen Jahres Christy von der Polizei erschossen wurde, soll laut Spiegel im Herbst geschlossen werden. Als schließlich am 24.August die "geistig verwirrte" Andrea H. von einem Polizisten erschossen wurde, ging es mir sehr nahe. Ich berichtete im Trend davon. 

Todesschüsse gegen Psychiatriebetroffene. Das Maß ist voll. Nach einer Recherche stellte ich jetzt fest, dass dieser Todesschuß nur die Spitze des Eisberges ist. Und das Thema wird in den Medien gedeckelt. Psychiatriebetroffene kommen in den Medien nur als Gewalttäter vor. Da sei "Notwehr" von Polizisten nur angebracht. Auch Andrea H., die in einer betreuten Wohngemeinschaft in einem Sozialbau in Berlin- Reinickendorf im Märkischen Viertel wohnte, wird in Medienberichten als gewalttätig dargestellt. Sonst ist kaum etwas über sie zu erfahren. 53 Jahre, schmächtig, geistig verwirrt. Ihre Lebenssituation findet keine Beachtung.  

Todesschüsse der Polizei  

Dazu findet sich im Internet eine Statistik von 2001-2010. Dort sind auch die von der Polizei getöteten Menschen aufgezählt. Auffällig ist, dass es seit 2007 mehrere Fälle gab, in denen psychisch kranke Menschen erschossen wurden. Allerdings ist nicht auszuschlien, dass auch weitere Opfer psychische Probleme hatten, aber nicht diagnostiziert waren.

3.10.2007: Ein psychisch kranker Mann ist in Löhne (Ostwestfalen) nach einer Messerattacke auf einen Polizisten erschossen worden. Der Polizist hatte zuvor versucht, den 33 Jahre alten Russlanddeutschen in seiner Wohnung in Gewahrsam zu nehmen. Dabei habe ihn der Mann mit einem Messer angegriffen, teilte ein Polizeisprecher mit. Daraufhin eröffnete der Beamte, der einem Spezialeinsatzkommando angehörte, das Feuer. Der Polizist wurde verletzt und im Krankenhaus operiert.

24.12.2007: Psychisch kranker 66-Jähriger verbarrikadierte sich in seiner Wohnung in Heppenheim und drohte mit Selbstmord und Blutbad. Die Angehörigen Angehörigen informierten die Polizei, ihr Verwandter sei hilflos. Der 66-Jährige galt als depressiv und war schon mehrfach in psychiatrischer Behandlung. Nach langen aber erfolglosen Verhandlungen stürmte das SEK die Wohnung. Dabei wurden die Polizisten mit Messern angegriffen. Daraufhin schießen die Beamten und treffen den 66-Jährigen tödlich. Dabei habe es sich um Notwehr gehandelt, betonte die Polizei in Darmstadt.  

11.3.2008.: Tödlicher Schusswaffengebrauch gegen einen 43-jährigen Mann in Ratingen.  Der offenbar geistig verwirrte Mann hatte sich stundenlang mit zwei Messern in einer Wohnung verschanzt, in der eine 76-jährige Frau und deren Sohn lebten, wie die Düsseldorfer Polizei und Staatsanwaltschaft mitteilten. Er habe unter Verfolgungswahn gelitten. "Das Geschehen war so dynamisch, dass ein Warnschuss nicht mehr möglich war", sagte Ermittlungsleiter Dietmar Wixfort. Die Polizisten seien in akuter Gefahr gewesen. Auch Staatsanwalt Ralf Herrenbrück erklärte, es gebe bislang keinen Anlass, ein Ermittlungsverfahren gegen den Schützen einleiten zu müssen. "Die Waffengewalt war notwendig und gerechtfertigt", sagte er.  

6.3. 2009: Bei einem Einsatz wegen Selbstmordandrohung in Hamburg- Altona werden die eintreffenden Polizisten im Treppenhaus vom psychisch gestörten 24jährigen Anrufer überrascht. Der mit einem Fleischermesser bewaffnete stürmt dabei auf die Polizisten los, die mehrmals auf ihn schießen und tödlich treffen.  

26.12.2009: Als Polizisten sich gewaltsam Zutritt zu einer Wohnung in Hamburg-Ohlsdorf verschafften, in der ein vermutlich ein 38jähriger psychisch Kranker randalierte, griff dieser die Beamten mit einem langen Küchenmesser an. Daraufhin gab einer der Polizisten 3 Schüsse auf den Täter ab, nachdem ein Pfefferspray Einsatz wirkungslos blieb. Der Getroffene verstarb an inneren Blutungen. Laut einem Bericht von NDR 90,3 soll die Mutter des Mannes den Beamten zuvor darauf hingewiesen haben, dass ihr Sohn psychisch krank sei. Die Polizei sagt, es sei Notwehr.  

30.12.2010: Ein Mitarbeiter einer psychiatrischen Einrichtung hatte die Polizei alarmiert, nachdem die 49-Jährige Münchnerin am Telefon gedroht hatte, ihre Tochter umzubringen. Nach Angaben der Polizei war sie psychisch krank und deshalb seit längerem in Behandlung. Weil die Frau der Polizei die Wohnungstür nicht öffnete und die Feuerwehr die Tür nicht aufbrechen konnte, ließ sich der Polizist mit einer Drehleiter auf den Balkon der Wohnung im zweiten Stock heben. Von dort habe der Beamte die Frau mit dem Rücken zum Fenster sitzen sehen, so die Polizei. Da sie nicht auf ihn reagierte, habe er die Scheibe mit einer Axt der Feuerwehr eingeschlagen. Er wähnte die Tochter der Frau in Gefahr. Die 49-Jährige habe ihn dann mit einem Küchenmesser bedroht. Obwohl er sie mehrmals dazu aufgefordert habe, habe sie es nicht weggelegt. Auch als er sie mit Pfefferspray besprühte und Schüsse androhte, sei sie weiter auf ihn zugegangen. Weil er auf dem Balkon nicht mehr zurückweichen konnte, habe er mit seiner Dienstwaffe auf die Frau geschossen, teilten die Behörden mit. Obwohl die 49-Jährige sofort von Sanitätern versorgt wurde, starb sie wenig später im Krankenhaus. Ihre 24 Jahre alte Tochter war nicht in der Wohnung. In Bayern wurde nach Angaben des Innenministeriums zuletzt 2009 ein Mensch von der Polizei getötet. Damals erschossen zwei Polizisten in Regensburg den 24 Jahre alten Studenten Tennessee Eisenberg mit mehreren Schüssen, nachdem er seinen Mitbewohner und anschließend die Beamten mit einem Messer bedroht hatte.  

OCR-Scan eines Flugblattes verteilt auf dem Antipsychiatriekongreß "Auf der Suche nach dem Rosengarten"


Zur Durchsetzung einer Begutachtung:  Polizist erschießt Psychiatrieerfahrene
 

Sind Psychiatriebetroffene zukünftig nicht mehr sicher, ob sie vielleicht von der Polizei erschossen werden? So geschehen am 24.August 2011 in Berlin-Reinickendorf.

Am 24. August wurde Andrea H., die in einer betreuten Wohngemeinschaft im Märkischen Viertel lebte, von einem Polizisten erschossen. Der Todesschuß wird von der Polizei damit gerechtfertigt, die Frau sei mit einem Messer auf einen Polizisten losgegangen. Sie sollte in Amtshilfe für das Bezirksamt einem Weddinger Amtsgericht zu einer psychiatrischen Begutachtung vorgeführt werden, nachdem sie auf wiederholte Einladungen nicht reagiert hatte. Nach dem Einsatz von Pfefferspray und dem Anrücken von 20 Polizisten der 23. Hundertschaft, wussten diese sich nur noch mit einem Todesschuß gegen die schmächtige Frau (160 cm groß bei 40 kg) zu helfen. Sie war zuvor noch nicht polizeilich aufgefallen. 

Bodo Pfalzgraf, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft sagte: "Wer mit einem Messer Polizisten angreift, muss damit rechnen, erschossen zu werden. Allein die Tatsache, dass es eine geistig verwirrte Person war, rechtfertigt nicht, daß sich der Polizist hätte erstechen lassen müssen." Diesem Zynismus widerspricht der Kriminologe Professor Thomas Feltes von der Ruhr-Uni Bochum: „Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat der Polizeibeamte eine Pflicht zum Ausweichen, wenn der Angeklagte offensichtlich im schuldausschließenden Zustand handelt.“ 

Schon im Mai diesen Jahres war eine Frau im Jobcenter Frankfurt am Main von einem Polizisten erschossen worden. Die mittellose Christy Schwundeck hatte einen Vorschuß von 10 Euro gefordert. Auch sie hatte angeblich mit einem Messer hantiert.

3.10.2007: Ein „psychisch kranker“ Mann ist in Löhne (Ostwestfalen) nach einer Messerattacke auf einen Polizisten erschossen worden.

24.12.2007: Das SEK erschießt einen „psychisch kranken“ 66-Jährigen, weil er die Polizisten mit einem Messer bedrohte.

11.3.2008.: Tödlicher Schusswaffengebrauch gegen einen angeblich geistig verwirrten 43-jährigen Mann in Ratingen, nach Messergebrauch.

6.3. 2009: Bei einem Einsatz wegen Selbstmordandrohung in Hamburg- Altona werden die eintreffenden Polizisten im Treppenhaus vom „psychisch gestörten“ 24jährigen Anrufer mit einem Fleischermesser überrascht. Sie schießen auf ihn und treffen tödlich.

26.12.2009: Als Polizisten sich gewaltsam Zutritt zu einer Wohnung in Hamburg-Ohlsdorf verschafften, in der ein 38jähriger „psychisch Kranker“ randalierte, griff dieser die Beamten mit einem langen Küchenmesser an. Daraufhin gab einer der Polizisten 3 tödliche Schüsse auf den Täter ab.

30.12.2010: Nachdem eine seit längerem in psychiatrischer Behandlung befindliche 49-Jährige Münchnerin am Telefon gedroht hatte, ihre Tochter umzubringen, wurde sie bei einem Polizeieinsatz erschossen, obwohl die Tochter überhaupt nicht in der Wohnung war.  

In den Medien werden die Psychiatrieerfahrenen als gefährliche Gewalttäter dargestellt. Und die Waffengewalt und die Todesschüsse der Polizei werden als notwendig legitimiert.

So wird der Öffentlichkeit ein völlig diffamierendes und stigmatisierendes Bild von Psychiatrieerfahrenen vermittelt.

Die "Internationale Liga für Menschenrechte" (NGO) fordert eine unabhängige Untersuchung des Todesschusses auf die „psychisch kranke“ Frau in Berlin. "Auch der Messerangriff einer Frau darf kein Freibrief für einen gezielten Todesschuss sein", sagte ein Sprecher der Organisation. 

Rechtsanwalt Eberhard Schultz: „Die Bilanz der strafrechtlichen Aufarbeitung von Todesschüssen der Polizei ist in der Geschichte der Bundesrepublik verheerend – meist wurde nur wegen Fahrlässigkeit angeklagt, selten gab es eine Verurteilung. Die Polizei wird zunehmend als gewichtiger Ordnungsfaktor wahrgenommen, ungern werden ihr Grenzen und gesetzliche Aufgaben aufgezeigt...Alles deutet darauf hin, daß gezielt geschossen wurde – ohne zuvor auch nur einen Warnschuß abzufeuern, wie vorgeschrieben. Das ist eine schwere Straftat: erst in zweiter Linie ist zu fragen, ob möglicherweise Nothilfe eine Rolle gespielt hat. Letzteres stellte aber die Staatsanwaltschaft sofort in den Vordergrund. Es ist unfaßbar!“ 

Warum wurde kein Kontakt zu Familienangehörigen, dem Arzt oder dem Betreuer hergestellt?  Was rechtfertigt einen Polizeieinsatz? Ist die Polizei der Krisendienst?

Die Polizei hat keine psychiatrische Kompetenzen gegenüber Psychiatriebetroffenen.

Eine Eskalation könnte vermieden werden, wenn statt eines bewaffneten Polizeieinsatzes die Hilfe von Professionellen und kompetenten Betroffenen, die in der Arbeit mit psychisch labilen Menschen erfahren sind, in Anspruch genommen würde.

Seit Juli 2008 sieht die sogenannte Geschäftsanweisung der Berliner Polizei außerdem vor, dass der Krisendienst bei Einsätzen im Zusammenhang mit „psychisch Kranken“ zum Einsatz hinzugezogen werden soll. Zwischen dem Krisendienst und der Polizei besteht eine Kooperationsvereinbarung. Wo war der Krisendienst?  

Reinhard Wojke von der Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener sagte dazu: "Immer wieder eskalieren Situationen, wenn psychisch Kranke durch den sozialpsychiatrischen Dienst eingewiesen werden sollen. Diese Menschen befinden sich dann in einem Ausnahmezustand und es wäre besser, deeskalierend vorzugehen." Nicht die Bezirksämter, sondern die Krisendienste sollten in diesen Fällen hinzugezogen werden, dort seien die Mitarbeiter besser ausgebildet. 

Meistens sind Opfer tödlicher Polizeigewalt Migranten, Intensivtäter oder „psychisch krank“.

Oury Jalloh, Dennis J., Halim Dener, Tennesse Eisenberg… all diese Menschen starben in Deutschland durch Polizeigewalt. Oft kriegen wir kaum die Namen mit, aber manchmal findet sich die Familie oder Freundeskreis nicht mit der Polizeimeldung ab, recherchiert eigenständig und fördert oftmals erstaunliches zu Tage. Die “Notwehrtheorien” der Polizei halten Zeugenaussagen und Gutachten nicht stand, trotzdem werden die Verfahren eingestellt oder die Polizisten freigesprochen.

Der Polizist, der die "geistig verwirrte" Andrea H. erschoss, ist weiterhin im Dienst. Wann wird er das nächste Mal zur Durchsetzung einer Begutachtung eine Waffe ziehen?  

KEIN BEWAFFNETER POLIZEIEINSATZ BEI MENSCHEN IN KRISENSITUATIONEN! 
 

V.i.S.d.P. David Cooper, Senftenberger Ring 66, 13435 Berlin-Reinickendorf

Proteste sind selten 

Am 31.8. versammelten sich ca. 40 Menschen, die gegen die Erschiessung von Andrea H. vor ihrem Haus im Märkischen Viertel protestierten. Vor dem Haus wurde eine brennende Kerze und ein Blumenstrauß aufgestellt.

Einige Anwohner solidarisierten sich mit den Protestierenden. Zwei Vertreter der Internationalen Liga für Menschenrechte verurteilten in ihren Reden die Erschiessung von Andrea H. durch einen Polizisten.  

Die "Internationale Liga für Menschenrechte" (NGO) fordert eine unabhängige Untersuchung des Todesschusses eines Polizisten auf eine psychisch kranke Frau in Berlin. "Auch der Messerangriff einer Frau darf kein Freibrief für einen gezielten Todesschuss sein", sagte ein Sprecher der Organisation. 

Die Junge Welt interviewte das Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte. Eberhard Schultz ist Rechtsanwalt in Berlin. ( www.menschenrechtsanwalt.de )  

"Schultz: Allgemein beobachten Rechtsanwälte, Strafverteidiger und Menschenrechtler in den vergangenen Jahren immer häufiger, daß die Polizeigewalt außer Kontrolle gerät...Kürzlich haben wir bei einer Veranstaltung alle derartigen Fälle der vergangenen Jahre in Berlin zusammengetragen: Die Bilanz der strafrechtlichen Aufarbeitung von Todesschüssen der Polizei ist in der Geschichte der Bundesrepublik verheerend – meist wurde nur wegen Fahrlässigkeit angeklagt, selten gab es eine Verurteilung. Die Polizei wird zunehmend als gewichtiger Ordnungsfaktor wahrgenommen, ungern werden ihr Grenzen und gesetzliche Aufgaben aufgezeigt. 

JW: Wie beurteilen Sie die Reaktion des Vorsitzenden des Landesverbandes der Berliner Gewerkschaft der Polizei, Bodo Pfalzgraf, der den Todesschützen rechtfertigte? 

Schultz: Ich halte seine Äußerungen für unverantwortlich und menschenverachtend. Es geht schließlich nicht darum, davor zu warnen, daß man nicht mit einem Messer auf einen Polizisten losgehen sollte; oder – wie Pfalzgraf unterstellt – zu verlangen, daß ein Polizist sich erstechen läßt. Hier wurde eine Frau, 1,60 groß und etwa 40 Kilo schwer – also schmächtig und klein! – mit einem einzigen Schuß zu Tode gebracht, obwohl 20 Polizeibeamte vor Ort waren, wie es in den Medienberichten hieß. 

Alles deutet darauf hin, daß gezielt geschossen wurde – ohne zuvor auch nur einen Warnschuß abzufeuern, wie vorgeschrieben. Das ist eine schwere Straftat: erst in zweiter Linie ist zu fragen, ob möglicherweise Nothilfe eine Rolle gespielt hat. Letzteres stellte aber die Staatsanwaltschaft sofort in den Vordergrund. Es ist unfaßbar!... 

JW: Wie kann man solchen Polizei­skandalen entgegenwirken? 

Schultz: Der Polizei müssen in der Ausbildung klar Grenzen aufgezeigt werden. Schußwaffengebrauch ist nur im äußersten Fall gestattet – und in jedem Fall vorher anzukündigen. Die Justizsenatorin muß das im Wege ihrer Dienstaufsicht auch der Staatsanwaltschaft deutlich machen, die von vornherein entschuldigt: Das war Nothilfe. 

JW: Wie kann so etwas einem gut ausgebildeten Polizisten passieren?  

Schultz: Er hätte zunächst andere Maßnahmen ergreifen müssen: beispielsweise versuchen, Kontakt zu Familienangehörigen, dem Arzt oder dem Betreuer herzustellen. All das wurde außer acht gelassen, statt dessen hieß es rambomäßig: Der Frau werden wir es schon zeigen. Zynisch könnte man sagen: Was ist das Menschenleben einer verwirrten Frau schon wert, die mit einem Messer hantiert!"  

(Junge Welt, 31.8.2011)

Der grüne Innenexperte Benedikt Lux kündigte an, den Fall im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses zur Sprache zu bringen. "Es besteht Aufklärungsbedarf", kommentierte der grüne Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland den Vorgang. Die eingesetzten Beamten der EHU hätten gewusst, dass die Frau ein Messer hatte. Somit seien sie nicht unvorbereitet gewesen. Geklärt werde müsse auch, warum der Schütze nicht auf die Arme oder Beine gezielt habe, um die Frau kampfunfähig zu machen. Wielands Fazit: "Man muss sagen, der Einsatz ist gründlich daneben gegangen". 

Auch in Hamburg und München gab es derartige Vorfälle, Grüne bzw. Die Linke protestierten.  

Die Fraktion Die Grünen – rosa liste in München schrieb dazu:

"Psychiatrische Kompetenzen bei Polizeieinsätzen gegenüber psychisch Kranken sicherstellen 

1. Dem Stadtrat wird über Einsätze der Polizei mit psychisch kranken Personen in München berichtet. Dabei soll dargestellt werden, wie die Polizeibeamtinnen und -beamten auf solche Einsätze vorbereitet und geschult werden, welche Kooperationen mit Externen bereits bestehen und in welchen Fällen sie zum Einsatz hinzugezogen werden. 

2. Das Referat für Gesundheit und Umwelt wird gebeten zusammen mit dem Polizeipräsidium München eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, wie bei Einsätzen der Polizei mit psychisch belasteten Personen eine bessere Zusammenarbeit auch mit Externen funktionieren kann. Dazu zählt vor allem eine schnelle Zusammenarbeit von sozialpsychiatrischen Krisendiensten und dem Polizeipräsidium in akuten Notfällen sowie auch ein regelmäßiger Austausch über mögliche Kooperationen. 

Begründung: 

Immer häufiger ist in den Medien über gefährliche Polizeieinsätze gegenüber psychisch labilen Personen zu lesen. In München machte erst Ende letzten Jahres ein Fall Schlagzeile, bei dem eine ältere psychisch kranke Frau von einem jungen Polizisten in Notwehr erschossen wurde. Psychisch Kranke reagieren in Stresssituationen völlig unerwartet und zum Teil sehr aggressiv. Das stellt die zum Einsatz gerufenen Beamtinnen und Beamten vor eine schwierige Situation, bei der es immer wieder zu eskalierenden Fällen kommt, die zum Teil mit Todesfolge enden. 

Für die am Einsatz beteiligten Beamten und Beamtinnen ist dies eine extreme Belastungssituation. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Polizeibeamtinnen und -beamten auf diese Einsätze genügend vorbereitet werden und ob ihnen ausreichend Hilfe zur Seite gestellt wird. 

Nach Berichten gibt es seit dem Fall Eisenberg in Regensburg interne Debatten darüber, wie mit diesen Fällen besser umgegangen werden kann und ob mehr Schulungen helfen könnten. 

Von Seiten sozialpsychiatrischer Organisationen wird argumentiert, dass eine Eskalation in vielen Fällen vermieden werden könnte, wenn bei dem Polizeieinsatz die professionelle Hilfe von externen Personen, die in der Arbeit mit psychisch labilen Menschen geschult sind, in Anspruch genommen würde. 

Das Referat für Gesundheit und Umwelt besitzt im Bereich Sucht – und Psychiatrie große Erfahrung und koordiniert bereits eine Reihe von Netzwerken und Präventionsprogrammen in diesem Bereich. Ein regelmäßiger Austausch z.B. in Form eines gemeinsamen Arbeitskreises zwischen Referat, Polizeipräsidium und sozialpsychiatrischen Hilfen erscheint daher sehr sinnvoll. Er bietet die Möglichkeit sinnvolle Kooperationen und eine schnelle Kommunikationsstruktur in Krisensituationen und bei unerwarteten Polizeieinsätzen gegenüber psychisch kranken Personen aufzubauen."  

In Hamburg intervenierte die Linkspartei. Sie schreiben: 

"Gravierende Lücken: Aufklärungsbedarf nach dem gewaltsamen Tod eines psychisch Kranken 

Am 26. Dezember 2009 wurde ein psychisch kranker Mann durch drei Polizeikugeln so schwer verletzt, dass er starb. Die genauen Umstände dieses schrecklichen Ereignisses werden im Verfahren gegen den Beamten aufgeklärt werden müssen, der die tödlichen Schüsse abgab. 

Aber ungeachtet dessen – und weil es innerhalb von weniger als zwei Jahren in Hamburg das zweite Mal ist, dass Polizeibeamte im Einsatz einen psychisch Kranken erschießen –, drängen sich Fragen auf, Fragen nach möglichen strukturellen Problemen bei der Ausbildung der Polizei und bei der Vorbereitung von Polizeibeamten auf schwierige polizeiliche Situationen im Umgang mit Menschen in Krisensituationen. Fragen also danach, was verändert werden muss, um die Gefahr tödlich endender Eskalationen absolut zu minimieren. Diesen Fragen ging auf Antrag der LINKEN am 28. Januar der Innenausschuss nach.  

In Berlin existiert ein Krisendienst, der für Menschen in Krisensituationen rund um die Uhr erreichbar ist. Zwischen diesem Krisendienst und der Polizei besteht eine Kooperationsvereinbarung. Seit Juli 2008 sieht die sogenannte Geschäftsanweisung der Berliner Polizei außerdem vor, dass der Krisendienst bei Einsätzen im Zusammenhang mit psychisch Kranken zum Einsatz hinzugezogen werden soll. Das heißt, dass erfahrene Fachleute der Polizei in solchen schwierigen Einsätzen beistehen. 

In Hamburg existiert erstens ein vergleichbarer, rund um die Uhr erreichbarer Krisendienst nicht. Der sozialpsychiatrische Dienst hat bis 16.00 Uhr geöffnet; es gibt jedoch einen Psychiatrischen Notdienst (PND), den die Polizei bei Einsätzen im Zusammenhang mit psychisch kranken Menschen einsetzen kann. Es gibt jedoch, das ergab die Befragung des Senats, keine polizeilichen Dienstvorschriften oder Handlungsanweisungen, die regeln, dass der PND oder Polizeipsychologen zum Einsatz hinzugezogen werden sollen. Auf eine Schriftliche Kleine Anfrage antwortet der Senat in diesem Punkt ausweichend: „Maßnahmen der Polizei bei psychisch Kranken in Krisensituationen müssen sich am jeweiligen Einzelfall orientieren.“ 

So kam es dann, dass die beiden Streifenbeamten, die nach der Alarmierung der Polizei durch die Mutter des Kranken vor Ort eintrafen, offenbar nur eine einzige Handlungsoption ins Auge fassten, nämlich die Tür wenn nötig mit Gewalt zu öffnen, hinter der der an einer schweren Psychose leidende Mann sich verbarrikadiert hatte. Das, obwohl sie laut Senatsauskunft alle erforderlichen Informationen über den Zustand des Mannes hatten. In der Dreiviertelstunde vom Eintreffen bis zu den Todesschüssen forderten sie Verstärkung durch Polizei und Feuerwehr an, so dass sich schließlich 12 Uniformierte vor Ort versammelten – den PND oder Polizeipsychologen jedoch forderten sie diese ganze Dreiviertelstunde lang nicht an. Niemand weiß, wie sich die Situation entwickelt hätte, wären die Polizeibeamten durch im Umgang mit psychisch Kranken erfahrene Fachleute unterstützt worden. 

Aber das Risiko, dass die gewaltsame Öffnung der Tür – wegen Ruhestörung!, wie Polizeipräsident Jantosch die keineswegs selbstverständliche Verletzung des Grundrechts auf Unversehrtheit der Wohnung begründete – bei einem verstörten Menschen zu unkalkulierbaren Reaktionen führen kann, hätten Fachleute mit Sicherheit beurteilen können. So eskalierte die Situation für die Beamten offensichtlich völlig überraschend. 

Für die Polizeibeamten, das wurde in der Innenausschusssitzung deutlich, war der psychisch kranke Mann ein „Störer“. Andere als polizeiliche Maßnahmen, mit dem „Störer“ fertig zu werden, gehörten nicht zu ihren Handlungsoptionen. 

Dass es keine Dienstanweisung gibt, in solchen Krisensituationen Fachleute hinzuzuziehen, ist das eine. Ein weiteres (strukturelles) Problem liegt womöglich in der Umsetzung von Ausbildungsinhalten in die polizeiliche Praxis. Streifenbeamte haben in ihrer Ausbildung 25 Unterrichtseinheiten zum Thema „Umgang mit psychisch erkranken Personen“ absolviert. Fortbildungsveranstaltungen vermitteln, wie und in welchem Umfang, blieb unklar, ein einschlägiges „einsatzbezogenes Training“. Reicht das? Es gibt auch Dienstbesprechungen in den Revierwachen, die Fälle von psychisch kranken Menschen im Revier und den Umgang mit ihnen thematisieren, aber darüber kann die Innenbehörde schon keine genaueren Angaben mehr machen. Wie lernen junge Polizeibeamtinnen und -beamte, beim Einsatz in solchen Krisensituationen Maßnahmen zu ergreifen, die dem „jeweiligen Einzelfall“ tatsächlich angemessen sind? Über 10.000 Mal werden Polizisten in Hamburg jährlich wegen „Ruhestörung“ gerufen - Einsätze, die oft schwierig oder sehr schwierig sind, so manches Mal auch gefährlich, und immer ein sicheres Urteil erfordern. 

Die Vertreter von Polizei und Innenbehörde beantworteten im Innenausschuss Fragen nach strukturellen Problemen und Defiziten eher ausweichend. Der Innenausschuss will nach Abschluss der Aufklärung des konkreten Falles erneut mögliche Schlussfolgerungen erörtern." 

http://www.linksfraktion-hamburg.de/

Die Linkspartei in Hamburg lobte den Krisendienst in Berlin, dieser hat Andrea H. in Berlin- Reinickendorf allerdings nichts genützt. Der Krisendienst wurde in dem Fall nicht miteinbezogen.

Reinhard Wojke von der Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener sagte dazu: "Immer wieder eskalieren Situationen, wenn psychisch Kranke durch den sozialpsychiatrischen Dienst eingewiesen werden sollen. Diese Menschen befinden sich dann in einem Ausnahmezustand und es wäre besser, deeskalierend vorzugehen." Nicht die Bezirksämter, sondern die Krisendienste sollten in diesen Fällen hinzugezogen werden, dort seien die Mitarbeiter besser ausgebildet. 

Auf Indymedia finden sich weitere Fälle von Polizeigewalt:
http://de.indymedia.org/2011/05/307967.shtml 

Gemeinsam gegen Polizeigewalt:

http://nojusticenopeace.blogsport.eu/

Nur wenn Polizisten selbst psychisch krank sind,
haben sie mit Konsequenzen zu rechnen. Ein Polizist erschoss 2007 seine Frau: http://www.welt.de/ 

Der Spiegel zur Gewalt gegen Polizisten...
http://www.spiegel.de/thema/gewalt_gegen_polizisten/
 
 

Editorische Hinweise

Text und Flugblatt erhielten wir von der Autorin  für diese Ausgabe.