75 Jahre Zweiter Weltkrieg
Expansions- und Europakonzeptionen der politischen Führung und der Wirtschaft

Aufzeichnung von Karl Ritter vom 1. Juni 1940 (Auszüge)

09-2014

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I. Großwirtschaftsraum

Jezt zeichnet sich für die Zukunft die Möglichkeit eines Großwirtschaftsraumes unter deutscher Führung ab.

Diesem Raum gehören an:

1. Großdeutschland (mit Böhmen und Mähren und Polen) als wirtschaftliches und politisches Zentrum.

2. Ihm sind einzugliedern Holland, Belgien, Luxemburg, Dänemark, Norwegen in einer wirtschaftspolitischen Form, die noch zu entscheiden ist. Es kommen dafür in Betracht Zollpräferenzen, Zollunion, Zoll- und Währungsunion, Wirtschaftsunion....

3. Dem Großwirtschaftsraum sind bereits angegliedert, wenn auch nicht in einer besonderen wirtschaftspolitischen Form, so doch tatsächlich, die Länder im Donauraum. Schon Großdeutschland hatte eine wirtschafdiche Vormachtstellung in der Einfuhr und Ausfuhr dieser Länder von durchschnitdich 50 %...

4. Die übrigen Staaten im nordischen Raum: Schweden, Finnland, Litauen, Letdand, Estland sind in einer ähnlichen tatsächlichen Weise wie der Donauraum stärker anzugliedern...

Mit Schweden und Finnland stehen wir eben am Beginn von Wirtschaftsverhandlungen. Das Hauptziel dieser Verhandlungen ist, jetzt den Grund dafür zu legen, daß diese zwei Staaten sich von Weltmarkt und Ubersee wegorientieren nach dem europäischen Großwirtschaftsraum und nach der Ostsee. Zu diesem Zweck werden einerseits die gegenwärtigen starken Druckmittel ausgenutzt, andererseits muß man diesen zwei Staaten aber auch durch Entgegenkommen, vielleicht sogar durch Opfer auf einzelnen Gebieten, einen positiven Anreiz für eine solche Neuorientierung geben.

Ein solcher Großwirtschaftsraum umfaßt rund 200 Millionen Menschen. Diese Menschen haben zum großen Teil eine überdurch-schnitdiche Konsum- und Produktionskraft.

Dieser Großwirtschaitsraum wird sich im großen und ganzen selbst ernähren bei durchschnittlichen Ernten und unter der Voraussetzung der ohnehin notwendigen landwirtschaftlichen Umstellung in einigen Ländern und unter der Voraussetzung einer aufbauenden Preispolitik.

Ein allgemeines Manko besteht bei tropischen und subtropischen pflanzlichen Rohstoffen und bei einigen Metallen (vgl. dazu die Aufzeichnungen II „Künftige Ausfuhr" und III „Kolonialreich").

In diesem Zusammenhang sind zwei Bedingungen für die Friedensverträge in Erwägung zu ziehen. Die eine ist, anstelle von finanziellen Entschädigungen in bar die Gradslieferung der notwendigen Einfuhrmengen an Lebensmitteln und Rohstoffen für 3, 4 oder 5 Jahre zu verlangen. (Jährlich für etwa 3-4 Milliarden Reichsmark.) Die zweite ist die Abtretung der Rechte und Interessen (Eigentum, Aktien, Obligationen) an den im Großwirtschaftsraum liegenden industriellen und Verkehrsunternehmen, die den Feindmächten oder ihren Staatsangehörigen gehören, z. B. die französischen Kupferminen in Jugoslawien, die englisch-kanadischen Nickelminen in Finnland, die englisch-französischen Erdölinteressen in Rumänien. Dies würde zugleich ein starkes wirtschaftliches Bindemittel innerhalb des Großwirtschaftsraumes sein....

III. Kolonialreich

Ein Kolonialreich, bestehend aus den deutschen Kolonien in Afrika, Belgisch-Kongo, Französisch-Äquatorialafrika (vielleicht auch Britisch-Nigeria), kann nach einer längeren Periode intensiver Entwicklung den Bedarf Großdeutschlands und des Großwirtschaftsraumes an tropischen und subtropischen pflanzlichen Rohstoffen und Genußmitteln weitgehend decken. Darüber hinaus auch zu einem großen Teil den Bedarf an Kupfer. Vielleicht werden auch noch andere mineralische Rohstoffe gefunden. In zehn bis fünfzehn Jahren kann es den Bedarf an pflanzlichen Speisefetten ganz decken, was wichtig ist, da bei Speisefetten die größte Lücke im Großwirtschaftsraum besteht. Ferner ganz oder zum Teil den Bedarf an Kakao, Kaffee, Tee, Tabak, Baumwolle, Kautschuk, Spezialhölzern, Gerbstoffen und anderem.


Editorischer Hinweis

Karl Ritter war Botschafter zur besonderen Verwendung; vollständiger Text in: Anatomie der Aggression, S. 49-54 und: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945, Serie D, Bd. IX, 2. Bd., S. 407 ff.

Vergleiche dazu auch: 100 Jahre Erster Weltkrieg, Vertrauliche Kriegsziele, Krupp von Bohlen und Halbadi