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trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 9/1998

Die Kieler GelöbNIX-Debatte

Für die   Kampagne gegen das öffentliche Gelöbnis am 18.8. in Kiel gab es ein Bündnis. Wir veröffentlichten dazu ein Flugblatt (Keine Selbstdarstellung der Kriegsmaschine in Kiel und anderswo!). Im Rahmen des Bündnisses gab es aber auch andere Positionen. Leute, die u.a. bei Zeitschrift  Übergänge mitarbeiten, schickten uns ihre Materialien zwecks Veröffentlichung. Wir dokumentieren in der Reihenfolge der zugesandten Texte.


Kiel, 7.9.98

Liebe Freundinnen und Freunde vom GelöbNIX!

Wie angekündigt, legen wir mit dem beiliegenden Text eine kritische Stellungnahme zum Gelöbnix-Bündnis vor, die sich besonders mit dem Flugblatt der Autonomen Gruppen Schleswig-Holstein auseinandersetzt.
Es ist aber nicht unsere Absicht, dieses Papier sowie die dazu gehörenden Thesen als so etwas wie eine Diskussionsgrundlage weiterer Treffen vorzuschlagen und damit einen Debattierclub aufzumachen. Uns dient es zur Selbstverständigung in einer möglichen längerfristigen Kooperation mit anderen Gruppen und Einzelpersonen, wie sie beim letzten Gelöbnixtreffen ins Auge gefaßt wurde. Es soll dazu beitragen, unserem weiteren Zusammengehen gegen die imperialen Ambitionen des (nicht nur) deutschen Kapitals eine Perspektive zu öffnen. Anläßlich der ins Haus stehenden gemeinsamen politischen Praxis zur Wehrmachtsausstellung könnte es vielleicht auch anderen Orientierungshilfe geben. Wie hierzu speziell auch These III im für Kurzleser beiliegenden Thesenpapier.
Auf Wiedersehen, wie verabredet, am Montag, den 14.9. um 20.00 Uhr in der Hansastr. 48.
Mit revolutionären Grüßen (unter dem machen wir es nicht mehr)
Daniel   Jens   Stefan   Eva D.


Thesen:

Aufgrund der Art des Bündnisses ergeben sich zwei Tendenzen:

  1. Die Partei Bündnis 90/ Die Grünen war die Wasserträgerin für die antimilitaristischen Proteste, da in den Medien eine größere Öffentlichkeit erreicht worden ist, als dies ansonsten der Fall gewesen wäre, sie durch das Friedensfest (unfreiwillig) einen ersten Versammlungspunkt und einen potentiellen Rückzugspunkt bereitstellten, die dogmatisch gewaltfreie Friedenslinke auf diesem Wege schon im Vorfeld neutralisiert worden ist.
  2. Die radikale Linke war die Wasserträgerin für die "kritischen" Befürworter und Befürworterinnen der Bundeswehr, da deren Vorstellungen von "Einsätzen der Zukunft", die lediglich ohne öffentliche Gelöbnisse abzulaufen haben, ohne ausdrücklichen Widerspruch selbst in der GelöbNIX-Zeitung untergebracht werden konnten, Bündnis 90/Die Grünen sich für ihre Klientel (sowohl Mitglieder als auch Wählerinnen und Wähler) als antimilitaristische Partei darstellen konnten.

Dieser politische Zwiespalt in der Aktion gegen das Gelöbnis ist nicht einfach das Produkt falscher Bündnisse, sondern spiegelt die objektive Situation derzeitiger revolutionärer Praxis wieder. Weder läßt er sich ungestraft ignorieren, noch etwa dadurch aus der Welt schaffen, daß wir in Zukunft derartige Bündnisse unterlassen. Vielmehr sind für jeden Einzelfall die konkreten Bedingungen der Aktion konkret zu analysieren:

  1. Der Verweis auf die Verbrechen der Wehrmacht etc. macht nur Sinn, insoweit er auf der Erkenntnis basiert, daß wir es mit einem neudeutschen Imperialismus zu tun haben. Der Verweis darauf, daß z.B. der alte deutsche Imperialismus immer schon die Zerstückelung des Balkans betrieben hat, sagt nichts darüber aus, was heute aus welchen Gründen in welcher Weise betrieben wird.
  2. "Soldaten sind Mörder" ist die notwendige Beleidigung der "in Uniform gesteckten Proletarier", die in moralisierender Selbstgerechtigkeit keinesfalls das Ende praktischen Tuns markieren darf, vielmehr den Ausgangspunkt einer Agitation (von außen) bilden muß, der auf einer Analyse basiert, die die praktische Wehrkraftzersetzung (von innen) zum Ziel hat.
  3. Sich in der Analyse auf das "Volk", oder in anderen Worten die "Bevölkerung", die "Gesellschaft" (oder auch die "Leute", die "Menschen") zu beziehen, heißt, den diese Kategorien konstituierenden Klassenantagonismus (das Moment der Bewegung) zu eliminieren, also sich auf das Trägheitsmoment der Klassengesellschaft zu beziehen.

 

Erst GelöbNIX und dann …?

Die Organisierung revolutionärer Kooperation
dem bürgerlichen Terminkalender entreißen!

Das Bündnis gegen das Rekrutengelöbnis auf dem Kieler Rathausplatz hat erfreulich wie länger nicht mehr revolutionäre Linke in Kiel in gemeinsame Aktion und Diskussion gebracht. Obwohl mit Bedacht als politisch sehr weit gespanntes Bündnis angelegt, wird es hauptsächlich von erklärten radikalen Gegnern der herrschenden Verhältnisse getragen. Namentlich ohne die verschiedenen autonomen Gruppen in Kiel und Schleswig-Holstein hätte die ganze Sache so nicht stattfinden können.

Die dogmatisch gewaltfreie Friedenslinke war von vornherein gespalten - in pazifistisch prinzipielle Gegner und kritische Befürworter der Bundeswehr - und so unfähig, dem gemeinsamen Protest in nennenswertem Maße ihren Stempel aufzudrücken. Der an der Sozialdemokratie orientierte Teil hat es von Anfang an vorgezogen, zum Aktionsbündnis gehörigen Abstand zu wahren und seinen eigenen Jodelkurs zu veranstalten - in Gestalt einer Unterschriftensammlung unter mehr oder weniger prominenten Friedenstauben und einer dezenten Diskussion im Saale des Gewerkschaftshauses über den zivilgesellschaftlichen Sinn oder Unsinn des Militärs. Die Kieler Grünen, durch ein listiges Schicksal seit den kürzlich stattgehabten Kommunalwahlen von mitregierender Verantwortung in der Stadt entbunden, hätten sicher gerne den Ton angegeben, fanden aber wegen der schwachen Präsenz anderer Kräfte der legalistischen Linken und der anhaltenden Schwindsucht ihrer eigenen außerparlamentarischen Arbeit nicht die nötigen Wasserträger für das unanstößige Friedensfest, das ihnen vorgeschwebt hatte, und gerieten so selber in die Rolle, Zuarbeit für das autonom dominierte Spektakel zu leisten, was denn auch zuletzt ihre Vertreterin im Bündnis mit anerkennenswerter Loyalität diesem gegenüber getan hat.

Wer mit wem wozu?

Angesichts solcher Kräfteverhältnisse stellt sich dennoch die Frage, warum überhaupt von seiten der revolutionären Linken auf ein Bündnis orientiert wurde, das Platz einräumt für politische Figuren wie das grüne MdB Angelika Beer, die nichts gegen Gelöbnisse hat, wenn sie nur in den Kasernen stattfinden, und "Einsätze der Zukunft"(1) für die Bundeswehr so selbstverständlich findet wie Volker Rühe, aber nicht mehr passend, sie unter dem Stichwort der Vaterlandsverteidigung zu buchen. Wer heute unter Antimilitarismus in erster Linie versteht, den sogenannten "öffentlichen Raum" von Militär und militärischen Symbolen freizuhalten und gegen "das Auslaufmodell Wehrpflicht" zu agitieren, der betreibt, näher besehen, nur das Geschäft einer gründlicheren Professionalisierung des Militärs, für welche die allgemeine Wehrpflicht und der Schmus vom Vaterland, das zu beschützen sei, tatsächlich ziemlich überflüssige alte Zöpfe sind. Die von der mikroelektronischen Revolution angetriebene Explosion der produktiven Kräfte der menschlichen Arbeit gehen halt auch an unseren Destruktionskräften nicht spurlos vorbei (vielmehr ist eher immer noch umgekehrt der Krieg der "Vater aller Dinge"). Wie es zur Produktion von Autos oder Butterbergen heute keine zusammengeballten Massen an Arbeitskräften mehr braucht, so zur Kriegführung keine Massenheere. Nicht der schnell und massenhaft ausgebildete Wehrpflichtige, sondern der langfristig gut trainierte Spezialist ist der zeitgemäße Typus des Kriegers für Wohlstand, Freiheit und Demokratie, deren aufgeklärten Bürgern man wirklich nichts mehr vom Vaterland erzählen muß, um ihre Zustimmung zur Verteidigung ihrer Eigenheime und Biokost zu erhalten.

Den Autonomen, die sich anfangs für eine Breite des Bündnisses stark gemacht hatten, die selbst diese grüne Variante der neuen deutschen Großmachtpolitik noch abdeckt, scheinen zum besseren Ende der Geschichte einige Zweifel wegen ihrer Taktik gekommen zu sein. Zwischenzeitlich verfiel man auf die Idee, Angelika Beers Rede auf dem antimilitaristischen Spektakel im Vorwege einer Bündniszensur zu unterwerfen, was die Sache mit Sicherheit nur schlimmer gemacht hätte, weil damit der Dissens, statt endlich zur Sprache zu kommen, erst recht zugedeckt worden wäre.

Alles GelöbNIX - oder was?

Es lag von Anfang an eine fatale politische Schwäche der revolutionären Kräfte darin, daß sie in ihrer Agitation gegen das Gelöbnis dieses selbst in den Mittelpunkt ihres Angriffs rückten, statt es vor allem als Gelegenheit zu behandeln, die Neuformierung des deutschen Imperialismus zur selbständig interventionsfähigen Großmacht umfassend ans Licht zu zerren und dann auch die Gegner des Gelöbnisses daran Farbe bekennen zu lassen. Die Frage "für oder gegen öffentliche Gelöbnisse" ist in der gegenwärtigen militärpolitischen Neuausrichtung der deutschen Republik ein Nebenkriegsschauplatz und auch unter denen umstritten, die das von Rühe nur besonders deutlich artikulierte Ziel der Etablierung Deutschlands als global operierende Interventionsmacht in der Sache mittragen. Wir dürfen sogar annehmen, daß hier auf staatstragender Seite auch arbeitsteilig vorgegangen wird, es gilt schließlich einen möglichst breiten Konsens herzustellen, der z.T. sehr verschiedenartige, daher in durchaus verschiedener Weise anzusprechende Abteilungen der Gesellschaft umfassen muß. Dies ist der Hintergrund, vor dem sich z.B. auch Gansels anfänglicher Mangel an Begeisterung für eine öffentliche Militärveranstaltung in Kiel ebenso wie seine Absage an künftige leicht aufklären läßt.

Es ist eine Sache, den Umstand ausgiebig zu nutzen, daß das Gelöbnis mehr Leute gegen sich in Bewegung bringt als nur die dezidierten Gegner des neudeutschen Militarismus und Imperialismus, und eine ganz andere, deshalb in der eigenen Argumentation ebenfalls - und sei es nur vorübergehend - diese gemeinsame, beschränkte Gegnerschaft in den Vordergrund zu stellen. Ein Aktionsbündnis aller gegen das Gelöbnis mobilisierbaren Kräfte, ungeachtet ihrer sonstigen politischen Ausrichtung, geht völlig in Ordnung, solange die Revolutionäre darin sich die Freiheit und die Fähigkeit erhalten, entschieden gegen alle Argumentationen und Losungen aufzutreten, die irgendwelche Halbheiten und Ausflüchte in der Frage möglich machen, auf die es allein ankommt: ob wir die allseitigen Bemühungen der hiesigen herrschenden Klasse, Deutschland (bzw. Europa unter deutscher Hegemonie) als selbständig global interventionfähige Großmacht, als endlich auch wieder militärisch potente, imperiale Weltmacht zu etablieren, hinnehmen oder ihnen ebenso allseitig entgegentreten.(2)

"Wer in dieser Form das Militärische in die Öffentlichkeit trägt, muß Kritik und Protest in Kauf nehmen. Hier teilen wir die Position des ersten Verteidigungsministers der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Blank: ‚Was wir brauchen, ist nicht ein Pathos der Paraden und militärischen Demonstrationen, sondern ausschließlich jene ernste Nüchternheit, mit der man ohne alle großen Worte das Notwendige tut.'"
Grün ist der Wechsel." (Schluß des Flugblatts der Kieler Grünen zum Gelöbnis)

Das Lancieren möglichst baldiger Kampfeinsätze deutscher Soldaten "out of area" hat in diesem Zusammenhang strategischen Stellenwert - nicht zuletzt geht es darum, zum Start der als Euro in Kürze europäisierten Deutschmark mit möglichst wenig Tempoverlust die Schaffung der militärischen Voraussetzungen anzupacken, die für deren Anspruch als neue, mit dem Dollar konkurrierende Weltwährung unabdingbar sind: keine Weltwährung ohne Weltpolizei. (Hieraus speisen sich zu einem guten Teil die reichlichen Unstimmigkeiten zwischen der deutschen und amerikanischen Diplomatie im Gerangel um Verhandlungslösung oder Intervention in Sachen Kosovo.)

Die öffentlichen Gelöbnisse spielen dabei eine untergeordnete, taktische Rolle und sind keineswegs unverzichtbar. Wenn der als "links" geltende grüne Vorstandssprecher Jürgen Trittin mit seinem Auftritt gegen das Berliner Gelöbnis einen kleinen Eklat produzierte, hat er unter anderem die Aufmerksamkeit seiner Klientel erfolgreich davon abgelenkt, daß sein Außenminister in Spe Joschka Fischer nicht nur soeben grünes Licht für den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo signalisiert, sondern sich obendrein dem Chor der Bonner Stimmen zugesellt hatte, die diesen Einsatz um jeden Preis, notfalls auch ohne UNO-Mandat, herbei reden. Auch das ist ein Stück Arbeitsteilung.

The Good, The Bad und anderes Volk

Spät, aber nicht zu spät, sind immerhin die Autonomen (von revolutionären Linken anderer Couleur war sowieso kaum etwas zu sehen) schließlich doch noch dem Eindruck ein wenig entgegengetreten, als sei die anstehende Auseinandersetzung nur ein Konflikt zwischen verstockten Militaristen und demokratischer Öffentlichkeit. In ihrem Flugblatt "Keine Selbstdarstellung der Kriegsmaschine in Kiel und anderswo!"(3) versuchen sie, den Zusammenhang der Sache zu entwickeln, die gesellschaftliche Konstellation im Ganzen zu erfassen, in der die Auseinandersetzung ums Gelöbnis sich abspielt. Gegen die Evidenz der "sehr schwachen internationalistischen (…) und antimilitaristischen Kräfte", die sie am Ende konstatieren, läßt sich halt unmittelbar auf Volkes Wille bei etwas Verstand schlecht bauen. Ihr "Augenmerk richtet sich" daher realistischer Weise "im Moment darauf, den politischen Einheitsbrei der staatstragenden Organisationen zu durchbrechen".

Diese erklärte Absicht ist keineswegs geringzuschätzen in Zeiten wie den heutigen, in denen schon als links gilt, wen die Sorge um die soziale Komponente des einst so erfolgreichen "Modells Deutschland" ab und zu auf die Straße treibt, um nach einer "anderen Politik" für dieselbe Republik zu rufen. Aber die gute Absicht allein reicht offensichtlich nicht aus, sich solchem linken Zeitgeist entgegenzustemmen. Starke Worte und drastische Bilder können das begriffliche Werkzeug nicht ersetzen, das nötig ist, den faulen Kern des herrschenden Konsenses bloßzulegen und uns den Weg seiner revolutionären Aufkündigung auszuleuchten.

Wie schlecht es derzeit auf revolutionärer Seite um die begriffliche Schärfe der Argumentation bestellt ist, davon zeugt bereits der Anfang des Flugblatts, das wir hier kritisieren wollen. Zwar sagt es gleich im Untertitel niemand geringerem als "den Kapitalisten" den Kampf um nichts geringeres als "die Organisierung der Gesellschaft" an, aber schon im ersten Satz hat sich diese Andeutung radikaler Gegnerschaft gegen das Ganze der Verhältnisse auf "GegnerInnen von Militarismus und autoritärer Gesellschaftspolitik" reduziert.

Wenn dann im Text auch einmal vom "Kapital" und von der "kapitalistischen Gesellschaft" die Rede ist, liegt dem ganz offensichtlich kein Begriff von dem bestimmten Klassenverhältnis zugrunde, das so etwas wie Kapital bzw. kapitalistische Gesellschaft erst konstituiert. Vielmehr verschwimmt unversehens der Begriff der Klasse selbst noch im Nebel jenes Unbegriffs von der "politischen Klasse", mit dem der postmoderne Soziologenjargon, immer artig das unmittelbar Ersichtliche beschreibend, das übliche Stammtisch- oder Talkschow-Gegreine von hier "uns" bzw. "den Menschen" und da "den Politikern" systematisiert. Das Kapital, statt ein historisch bestimmtes, sich gegensätzlich reproduzierendes gesellschaftliches Verhältnis zu bezeichnen, gerät so zum präexistenten Bösen, das üble "Projekte" ausheckt und sich dabei um irgendeine "Meinung der Bevölkerung" nicht schert.

Das demokratische Dilemma …

Nun ist aber die gegebene Meinung der realexistierenden deutschen Bevölkerung schwerlich geeignet, den Widerspruch zu auch nur einem der gegenwärtigen Projekte der bürgerlichen Klasse zu legitimieren. In ihrer großen Masse erhalten die deutschen Proleten, aus denen sie mehrheitlich besteht, immer noch genügend Mittel, die Sphäre ihrer kümmerlichen Privatheit mit dem nötigen Tamtam auszustaffieren, das die schöne Illusion vom Eigentum braucht. Und sie wissen auch ganz gut, wieviel sie davon der jahrzehntelang privilegierten Weltmarktposition des deutschen Kapitals, ihrer relativ großzügigen Teilhabe an dessen zahlreichen Exportweltmeisterschaften zu verdanken hatten und haben. Sie zeigen sich daher dankbar und denken gar nicht daran, sich eine andere Meinung zu leisten als die, daß es mit dem Standort Deutschland irgendwie wieder aufwärts gehen müsse. Was aber wäre ein Standort ohne Armee?

Die autonome Argumentation zollt diesem Umstand in der Weise Tribut, daß sie es sich stillschweigend anders überlegt. Spielt darin zunächst für des Kapitals Projekte Volkes Meinung "keine Rolle", fällt letzterer (nach einer Zwischenüberschrift) bereits im nächsten Absatz die Rolle des Tempomachers zu für "die Aktionen des Militärs", die angeblich "in dem Maße aggressiver werden, wie die Akzeptanz autoritärer ‚Lösungen' von gesellschaftlichen Problemen innerhalb der Bevölkerung steigt."

Der spontane Umschwung der autonomen Ansicht zeigt an, daß sie sich von Anfang an auf eine schiefe Bahn begeben hat, auf der sie kaum Halt finden kann. Denn allerdings spielen Volksmeinung und ­wille zwar sehr wohl eine keineswegs geringe Rolle in jeder politischen Auseinandersetzung, aber eben nicht so sehr die eines Beweggrundes, sondern vielmehr einer Wirkung, eines Barometers, das die jeweilige Tendenz der Bewegung jenes sozialen Gegensatzes anzeigt, den wir kapitalistische Gesellschaft nennen. Das Volk oder - weniger emphatisch - die Bevölkerung bezeichnet den sozialen Ort, an dem die Klassen aufgelöst erscheinen, ihr Gegensatz sich abstumpft; wo also das parteiliche Einwirken auf den gegensätzlichen sozialen Prozeß, der sich ihres Gegensatzes bewußte Kampf der Klassen zum bewußtlosen Reflex seines je vorübergehenden Ausgleichs (hierzulande "Sozialpartnerschaft" geheißen) verkommt. Dessen Umsetzung in diverse gängige Sprachregelungen, seine mehr oder weniger geräuschvolle, durchaus auch widersprüchliche Kundgebung nennt sich dann "Meinung" oder "Wille" der Bevölkerung. Nicht der treibende, den inneren Gegensatz auf seine Lösung hin zuspitzende Aspekt des sozialen Prozesses äußert sich darin, sondern dessen Trägheitsmoment, das getrieben, hin und her geworfen wird. Je gewichtiger es ist, je erfolgreicher es den sozialen Gegensatz zu moderieren, seine Entwicklung aufzuhalten scheint, desto schlimmer die mögliche Katastrophe, wenn diese träge, blind getriebene Masse schließlich doch keinen Halt mehr findet und ins rutschen kommt.

Die bürgerliche Herrschaft verhält sich demnach vollkommen angemessen zum Volk und zu seinem Willen, wenn sie für ihre Projekte sich nicht davon abhängig macht, denn beide sind allerdings schon immer nicht zuerst die Bedingung, der Grund der bürgerlichen Herrschaft, sondern ihr Produkt und damit der Ausweis ihrer Legitimität gewesen. Um soviel weniger kann der Kampf gegen diese Herrschaft sich auf die Reklamation irgendeines Volkswillens gründen, hat vielmehr Volk und Wille gründlich aufzumischen und seine Qualität daran zu messen, wie gut ihm das gelingt.

… und seine autonome Lösung

Wie dem aber zunächst auch sei - klar ist am Ende auch den Autonomen jedenfalls, daß noch eine Menge "Kampf" nötig ist "um die Hirne und Herzen der Menschen", weil die derzeit aus wohlerwogenen Gründen im Zweifel doch eher dem "Militarismus mit all seinen mörderischen Konsequenzen" zugetan sind als den "verbliebenen progressiven Kräfte[n]". Zumal letztere sich von den "Menschen" erklärtermaßen vor allem dadurch unterscheiden, daß sie die Wirklichkeit allenfalls mit großem Vorbehalt als wirklich anerkennen. Ob wir es bei der Bundeswehr mit "einer demokratisch legitimierten Armee" zu tun haben, entscheidet sich aus autonomer Sicht im Konjunktiv. Nicht ob die jetzige Armee zum jetzigen Zeitpunkt demokratisch legitimiert ist, bestimme, wie es gleich zu Beginn des Flugblatts heißt, diese Sicht, sondern ob sie es noch wäre, wenn die "Mehrheit der Bevölkerung" (der demos) sich ihr widersetzen "würde".

Was dann aber tatsächlich wäre (ob z.B. das bürgerliche "Gewaltinstrument" gegen eine solche widerständige Mehrheit tatsächlich "durchgesetzt", statt an ihr zerbrechen würde), steht vorerst in den Sternen. Es liegt daher nahe, vom gegenwärtigen Volk, das sich revolutionär nicht beanspruchen lassen will, in die Vergangenheit, genauer: in die fünfziger Jahre zu flüchten, wo es, wie man sich wohl erzählt, "den Widerstand" noch in seiner wahren Pracht und den undemokratischen Charakter der Herrschaft in seiner ganzen Bosheit zu besichtigen gibt. "Schon die Gründung der Bundeswehr", so wird versichert, "mußte gegen den erklärten Willen eines Großteils der Bevölkerung und mit einer bis heute für die BRD beispiellosen Unterdrückungs- und Kriminalisierungskampagne durchgesetzt werden."

Das hätte ja noch heiter werden können, sollte man annehmen, wenn doch "schon" bei ihrer Gründung die Bundeswehr einen "Großteil" der Bevölkerung gegen sich hatte. Aber dieses "Schon" soll vermutlich nur besagen, daß dem Militär in Deutschland "schon" immer die demokratische Legitimation gefehlt habe, damals wegen eines tatsächlich bekundeten, heute wegen eines imaginären künftigen Volkswillens. Die demokratisch entscheidende Frage indes nach der Mehrheit im Volk, wie groß nämlich jener "Großteil" genauer gewesen ist, läßt die Formulierung kaum zufällig offen. Die Bundestagswahlen von 1957, dem Jahr der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, bringen Adenauer und seiner CDU die absolute Mehrheit der Wählerstimmen. Deutlicher konnte die Zustimmung des Volkes für diejenige Politik kaum ausfallen, die für die Wiederbewaffnung verantwortlich zeichnete. Es spricht also einiges dafür, daß die Bundeswehr, aller autonomen Sicht zum Trotz, schon immer sehr wohl "eine demokratisch legitimierte Armee" gewesen ist.

Wenn der Großvater erzählt …

Allerdings hatten bereits damals die politischen Kräfte, die gegen die Remilitarisierung kämpften, ihren Kampf vor allem demokratisch motiviert und eben damit in die Sackgasse gelenkt. Dies war nämlich die politische Vorgabe der durch Naziterror und stalinistische Säuberungen gründlich dezimierten und demoralisierten KPD der Nachkriegszeit, die den Kampf organisierte. Es ist daher leider eine Legende, daß sich dieser Antimilitarismus gegen "den deutschen Imperialismus" gerichtet habe. Vielmehr ging es anfangs um ein neutrales demokratisches, d.h. aber - davon hatten Stalins Kommunisten noch einen etwas weniger verschwommenen Begriff als heutige Revolutionäre - ein kapitalistisches Gesamtdeutschland (etwa nach dem Muster Österreichs). Es ging also um die Wiederherstellung eines zwar geschwächten, aber doch selbständig handlungsfähigen deutschen Imperialismus, den man sowjetischerseits als Puffer gegen die übermächtige USA ins Spiel zu bringen gedachte. Als dann diese Option gescheitert war und man in Moskau auf die längerfristige Eigenstaatlichkeit der DDR umorientiert hatte, ging es nur noch darum, sich als "antimonopolistisch-demokratische" Opposition zu etablieren und anerkannt zu werden, die mithelfen darf, darüber zu wachen, daß der status quo der europäischen Nachkriegsordnung nicht angetastet wird.

Gegen einen "dritten Anlauf" des deutschen Imperialismus, "die Herrschaft über den europäischen Kontinent zu erringen", hat sich dieser Antimilitarismus aber auch deshalb schlecht richten können, weil es einen deutschen Versuch, wie 1914 und 1939, mit militärischen Mitteln sich den Kontinent zu unterwerfen, damals ernsthaft nicht gab und gar nicht geben konnte. Dazu war Deutschlands letzte Niederlage zu vernichtend ausgefallen. Das Flugblatt selbst weist weiter unten im Zusammenhang mit dem heutigen, wiedervereinigten deutschen Militarismus ganz richtig auf "diplomatische und militärische Fesseln" als "Folge" dieser Niederlage hin (4). Die westlichen Siegermächte, die dem deutschen Kapital auf die Beine halfen und es zu ihrem "Partner" machten, achteten streng darauf, daß das auferstandene deutsche Militär fest eingebunden war in die Strukturen des westlichen Militärbündnisses. Alleingänge, wie Frankreich sie unternahm, konnte sich die BRD nicht erlauben und verspürte wohl auch wenig Lust dazu angesichts eines realen Kommunismus, der sich im Zuge jener Niederlage bis in den eigenen Hausflur vorgeschoben hatte.

Mob und Militär:
"notwendige Aggressionen"

Halten wir zunächst noch einmal fest: Anfangs spielte aus autonomer Sicht für das bürgerliche "Projekt Militär" die Volksmeinung illegitimerweise "keine Rolle". Sodann stellte sich gerade dieses subjektive Meinen, der "sogenannte[n] bürgerliche[n] Mitte" als Schrittmacher der Aggressionen des Militärs heraus. Bleibt noch nachzutragen, daß derselben dunklen Volksseele gleich darauf wieder ein Stück Entlastung winkt, denn der von "Gewaltphantasien" heimgesuchte "Mob", samt der ihm schweigend "zustimmenden Mehrheit", erweist sich als "wesensverwandt" mit "den staatlich herangezüchteten Mördermaschinen der Bundeswehr" und in dieser wesentlichen Eigenschaft nicht unbedingt mit eigenem Willen begabt, sondern vor allem: "gewollt" (von wem auch immer), nämlich "um die Notwendigkeit militärischer Aggression nach außen und damit auch den Militärapparat an sich in der Bevölkerung tiefer zu verankern."

Hier stutzen wir: Die "Notwendigkeit" ist ein Gesichtspunkt, der in der autonomen Sicht bislang nicht vorkam. Da war wohl von "Projekten" die Rede, nicht aber von einer "Not", die damit gewendet werden müßte. Welcher Not also begegnet möglicherweise die militärische Aggression? Und wenn diese denn wirklich notwendig wäre, warum wäre sie dann nicht zugleich legitim?

In Nöten steckt offenbar der Urheber des umstrittenen Projekts, also "das Kapital" oder, wie es jetzt heißt, die "Eliten":

"Wie schon vor dem ersten und zweiten Weltkrieg ist Deutschland aus der Sicht der eigenen Eliten ein zukurzgekommener und ungerecht behandelter Staat, der seine Interessen besonders aggressiv und fordernd gegen den Rest der Welt durchsetzen muß. Daraus resultiert unter anderem ein gigantisches Aufrüstungsprogramm, das den ‚Verteidigungshaushalt' in den nächsten Jahren nahezu verdoppeln wird."

Hinterm demokratischen Gartenzaun: Der helle Wahnsinn

Den Meinungen verachtenden, bösen Willen des "Kapitals" sind wir mit dessen Verwandlung in die "Eliten" nun zwar erst einmal los, aber es bleibt doch alles Ansichtssache. Was auf seinen inneren Zusammenhang und seine konkreten, möglicherweise höchst realen Bedingungen hin zu untersuchen wäre, läßt der autonome Kopf ohne weitere Analyse "resultieren": nämlich wiederum aus einer ziemlich speziellen (nach ihrer Herkunft ihrerseits nicht weiter befragten) "Sicht", die zweifellos auf phantastischer Einbildung beruht und eigentlich nach dem Therapeuten verlangte. Und spätestens hier sind wir an jener Grenze jedes demokratischen Weltbildes angekommen, seine autonome Variante einschlossen, wo es an der rauhen Wirklichkeit irre werden muß.

Weil ihm die Demokratie für das Nonplusultra, etwas Absolutes gilt, kennt es den Unterschied nicht zwischen dem, was den sehr spezifischen Gegenstand demokratischer Auseinandersetzung und Entscheidung ausmacht, und gewöhnlichen, Streitfragen, wie etwa der, ob der Borkenkäfer den deutschen Wald bedroht oder nicht. Weil es aber diese Spezifik seines Geltungsbereichs nicht kennt, gerät in seiner Optik alles demokratisch entschiedene Handeln früher oder später von der einen oder anderen Seite in den Verdacht, dem schieren Irrsinn zu entspringen. Der politische Streit, in dem es nur ums jeweilige "Dafür" oder "Dagegen" gehen kann sowie um deren diverse Abstufungen ("Kompromisse" geheißen), verwandelt sich unter der Hand in einen Streit um "richtig" oder "falsch". Und weil letzteres Urteil in politischen Dingen eine Frage des Interesses, letztlich des Klasseninteresses ist, produzieren demokratische Entscheidungen regelmäßig eine unterlegene Partei, die tatsächlich nicht im mindesten weniger "richtig" liegt als die, die sich durchgesetzt hat. Ihre Unterlegenheit muß ihr daher, sofern sie die Demokratie, deren bestimmte Voraussetzung, den gegensätzlichen Charakter der Gesellschaft übersehend, als ein Universalprinzip mißversteht, ganz logisch vorkommen wie der triumphierende Wahnwitz irgendeines kranken Geistes.

Deutscher Imperialismus:
Alles wie gehabt?

Das von der deutschen Bourgeoisie zur Zeit verfolgte "gigantische Aufrüstungsprogramm" läßt sich jedoch ganz gut erklären, ohne daß wir eine traditionell paranoide Konstitution unserer "Eliten" oder ähnliches unterstellen müssen (5). Der bourgeoise Verstand, im Gegensatz zum fromm demokratischen der proletarisierten kleinen Bürger ohnehin nicht zu Sentimentalitäten neigend, mag wohl Traditionen ins Kalkül einbeziehen, läßt sich aber kaum von ihnen - seien es auch die eigenen - beherrschen.

Die deutsche Bourgeoisie, weit davon entfernt, ihre derzeitige Lage zu verwechseln mit der "vor dem ersten und zweiten Weltkrieg" (die sie sich damals übrigens ebenfalls nicht bloß eingebildet hat), ist vielmehr ganz sachlich darangegangen, ihre strategischen Optionen und deren Instrumentarium jenen gravierenden Veränderungen dieser Lage anzupassen, die der Abriß des Eisernen Vorhangs mit sich gebracht hat. War es ihr bis dahin, wie gesagt, weder möglich gewesen, noch ratsam erschienen, ihre globalen Interessen ganz auf eigene Rechnung mit ihren eigenen Mitteln zu verfolgen, hat der Wegfall ihrer Rolle als Frontstaat der kapitalistischen Welt nun umgekehrt den Zwang hervorgebracht, genau dies zu tun. Indem auf seiten der führenden kapitalistischen Weltmacht das Motiv restlos entfallen ist, den deutschen Konkurrenten als Bollwerk gegen den Kommunismus unter seine Fittiche zu nehmen und notfalls zu peppeln, rückt unvermeidlich das Motiv der globalen Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Metropolen wieder in den Vordergrund. Es macht aber einen Unterschied ums Ganze, ob man unter amerikanischer Schirmherrschaft als europäische Großmacht mit anderen Artgenossen um den Platz an der Sonne rangeln darf oder gegen diesen bisherigen Schirmherrn selbst, der schon lange nichts mehr zu verschenken hat, sich behaupten muß.

Hier haben wir offensichtlich eine konkrete "Not" des deutschen Kapitals, einen handfesten Grund, der seinen "Eliten" nicht nur "ermöglicht", sondern sie vielmehr nötigt, die "staatstragenden Organisationen, unter der Volksgemeinschaftsformel ‚Sicherung des Standortes Deutschland' zu vereinigen und den gesamten Globus als mögliches Zielgebiet militärischer Einsätze ins Visier zu nehmen."

Autonomotion Pictures present:

Wenn schon nichts Gerichtsverwertbares über den neudeutschen Militarismus und Imperialismus, seine Bedingungen und Motive, so bietet die hier (sicher nicht vollständig) nachgezeichnete autonome Argumentation doch vielleicht immerhin einigen erhellenden Einblick in die innere Verfaßtheit des Lagers der revolutionären Kräfte, die dagegen stehen und deren größten und agilsten Haufen zumindest in Kiel und Umgebung offenbar immer noch diverse autonome Gruppen stellen. (6)

Ihr Flugblatt kann unter anderem gelesen werden wie der Plot für ein Hollywooddrama, von dem noch nicht entschieden ist, ob es happy enden wird. Etwas aus der Mode gekommen, aber - zugegeben - möglicherweise immer noch spannend: "Gut" kämpft, manchmal voller Optimismus, oft verzweifelt, gegen "Böse", der, in ständig wechselnder Maske auftretend, eine rätselhafte Schöne sein eigen nennt und in sein böses Spiel verstrickt. Gut sind natürlich wir, also die Autonomen und alle anderen Militanten, die gegen das Böse stehen: die Kapitalisten, die "politische Klasse", die Eliten oder auch nur "Militarismus und autoritäre Gesellschaftspolitik". Die rätselhafte Schöne hat ebenfalls mehrere Namen: die Bevölkerung bzw. ihre Mehrheit, oder (wenn der Himmel sich verfinstert) die "bürgerliche Mitte" bzw. (zappenduster) der "Mob" und die ihm "zustimmende Mehrheit".

Ganz am Anfang, im Untertitel heißt sie "die Gesellschaft". Da läßt sich die Geschichte geradezu märchenhaft an, denn besagte "Gesellschaft" scheint noch im Stande vollkommener Unschuld zu sein und nur darauf zu warten, daß der gute Prinz sie den Fängen der "Kapitalisten" entreißt. Aber in eben diesem unschuldigen Neutrum namens Gesellschaft steckt auch unser ganzes Problem. Längst nämlich entspricht dem Märchen von der zu erlösenden Gesellschaft eine wirkliche Geschichte, die vor einem knappen Jahrzehnt ihr unrühmliches Ende fand.

Dichtung und Wahrheit

Auf einem Sechstel der Erde und mehr war bekanntlich einige Jahrzehnte lang die Organisierung der Gesellschaft tatsächlich den Kapitalisten entrissen gewesen. Der Prinz, der die Sache übernommen hatte, nannte sich "Staat der Arbeiter und Bauern", später auch "Staat des ganzen Volkes" und war darauf angewiesen geblieben, mit den auf dem größeren Rest der Erde weiter herrschenden Kapitalisten irgendwie auszukommen. Am Ende hatten sich aber die Kapitalisten doch als die versierteren Organisatoren einer Gesellschaft erwiesen, die sich noch nicht selbst organisiert hat, und Prinz sowie des Prinzen Hofstaat hatten vor der Wahl gestanden, sich in die Wüste schicken zu lassen oder - mit etwas Glück - selber Kapitalisten zu werden.

Es ist heute guter linksradikaler Brauch, dieses Unglück damit zu erklären, daß jener Prinz natürlich ein falscher gewesen sei, weil er die Gesellschaft habe beglücken wollen, statt sie endlich in die Freiheit zu entlassen, sich selber zu beglücken. Aber so hätte doch alles am Prinzen gelegen, die Gesellschaft also nur ihre Unfähigkeit jedenfalls zu der einen Freiheit, den falschen Prinzen davonzujagen, praktisch offenbart und damit zur Freiheit überhaupt, denn die ist bekanntlich unteilbar. Nur zu verständlich, wenn von irgendwelchen Neuaufgüssen der alten frohen Botschaft, etwa von einem anderen, antiautoritären Prinzen kein Mensch mehr etwas wissen will.

Fast keiner. Der autonome Plot nämlich reproduziert alles in allem genau diesen elenden status quo: Er endet, wie er begann. Allem zwischenzeitlichen Anflug von Realismus zum Trotz läßt er uns als die "verbliebenen progressiven Kräfte" am Ende weiter den Märchenprinzen spielen, dazu verdammt, den ewig gleichen und gleichermaßen lächerlich aussichtslosen "Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen" zu führen. Wenn zwar nicht vergeben und vergessen, so doch schließlich folgenlos geblieben und verdrängt: der Mob und die dazugehörige Stimmung der Mehrheit.

Dafür gibt es natürlich Gründe. Einer davon, entscheidend vielleicht, mag darin liegen, daß die autonomen Hirne und Herzen mit den menschlichen weit mehr gemein haben als sie sich eingestehen und der erste Blick vermuten läßt. Das zeigt sich gerade dort, wo ihre Story am stärksten, weil der Wirklichkeit am nächsten ist: in der Charakterisierung der "sogenannten bürgerlichen Mitte". Das Flugblatt bezeichnet sie auch als den "Kern der kapitalistischen Gesellschaft", und bringt uns damit wohl zum Kern des Problems an der autonomen Befindlichkeit. Denn es ist in Wahrheit der Wahn jenes autonom anschließend so treffend beschriebenen Sozialcharakters, der an der Oberfläche der Gesellschaft als deren Mitte erscheint, daß er sich als die so zum Vorschein kommende gesellschaftliche Mitte, in Verkennung des gegensätzlichen Charakters der Gesellschaft im Ganzen, zugleich für deren "Kern", also für das Wesentliche an ihr hält. Und zwar ein Wahn, der um so gemeingefährlichere Züge annimmt, je weniger einerseits die Wirklichkeit ihm entgegenkommt, je stärker also deren Gegensätzlichkeit hervortritt und jener Mitte ihre Gemütsruhe raubt, ohne daß andererseits jemand dem Wahn in den Weg tritt, ihn kenntlich macht als das, was er ist.

"Ohne revolutionäre Theorie
keine revolutionäre Bewegung"
(alte russische Volksweisheit)

Wir wissen natürlich, daß es auch linksradikal seit langem verpönt ist, vom Klassencharakter der sozialen Wirklichkeit, in der wir leben, näher als höchstens in unverbindlichen Floskeln zu sprechen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die wenigen Exoten, die unverdrossen weiter auf dergleichen herumreiten, in der Regel erkennen lassen, daß sie selber nicht wirklich daran glauben, oder vielmehr: wirklich nur verzweifelt glauben, was sie nicht wissen. Und ohne wirkliches, über Mutmaßungen und Meinungen hinausgehendes Wissen ist diesem wirklichen "Kern" der kapitalistischen Gesellschaft nicht beizukommen - je kapitalistischer sie ist, desto weniger.

Aber die schlichte Wahrheit ist, daß schon "aus purem Selbstschutz" gegen diejenigen "mörderischen Konsequenzen", die an den Rändern der mittlerweile arg gestreßten bürgerlichen Mitte längst gezogen werden, wir inzwischen gar keine andere Wahl mehr haben: Entweder wir geben uns zufrieden mit den bewährt untauglichen Argumenten von wegen, wir seien die echten Demokraten, Freunde einer "Bevölkerung", die von einer "autoritären Politik" der "herrschenden Strategen" schließlich doch immer beschissen wird. Wir dürften uns in dem Fall vielleicht schon demnächst überrollt finden von jenem Mob, der das ganz ähnlich sieht und allerdings ganz anders meint, und könnten uns dann damit trösten, daß wir die wirklichen Verlierer, aber die moralischen Sieger sind. Oder wir fangen damit an, uns endlich wieder - auch gegenseitig - ein paar tieferschürfende Fragen zu stellen.

Beispielsweise:

Was ist die Wirklichkeit einer "Gesellschaft", die sich einerseits als "kapitalistisch" charakterisieren läßt, andererseits aber auch einfach als "die Gesellschaft", welche anscheinend nichts an ihrer Identität verliert, wenn sie den ihr im Nacken sitzenden Kapitalisten entrissen wird? Oder anders gefragt: Welcher wirkliche Widerspruch an der wirklichen Gesellschaft liegt möglicherweise diesem gedanklichen Paradox zugrunde? Welche wirkliche Seite der kapitalistischen Gesellschaft reicht wirklich über den Kapitalismus hinaus? Oder noch anders gefragt: Rührt unser Wunsch, diese Gesellschaft von den Kapitalisten zu befreien, womöglich doch nur daher, daß uns "Zerstörung und Ausplünderung anderer Regionen und Menschen" für den "BRD-Wohlstand" viel mehr zu Herzen gehen als den übrigen Zeitgenossen dieser Republik, daß wir also einfach die besseren Menschen sind oder von einem ganz anderen Stern?

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Fast zu schön, um wahr zu sein: daß wir in der Klärung solcher und anderer Fragen zusammen vielleicht schon etwas weiter wären zum nächsten Termin, an dem die bürgerliche Politik uns Gelegenheit gibt für ein Stück "organisierten Vaterlandsverrat".

Anmerkungen

1) Angelika Beer: Rühes Kampagne. In: GelöbNIX. Kein Gelöbnis in Kiel. Die Zeitung des Bündnisses GelöbNIX.
2)Wie wir inzwischen gehört haben, soll sich die Vertreterin der Grünen beim Sprecher des Linksruck nach dessen Rede auf dem Asmus-Bremer-Platz darüber beschwert haben, daß dieser die Grünen angegriffen habe. Angeblich sei im Bündnis verabredet worden, daß dergleichen unterbleibe. Eine solche Verabredung hat es nicht gegeben, und sie hätte u.E. auch jede Teilnahme von revolutionären Kräften am Bündnis ausgeschlossen.
3) Alle fett gesetzten Zitate sind aus diesem Flugblatt, das mit "Autonome Gruppen Schleswig-Holstein" unterzeichnet ist. Der Einfachheit halber zitieren wir die Autorenschaft in unserer Kritik als "die Autonomen", sind uns aber selbstverständlich klar, daß wir es nicht mit dem ganzen, bekanntlich ziemlich weitverzweigten Universum autonomer Theorie und Praxis zu tun haben, wenn wir auch manches, was uns hier aufgefallen ist, für durchaus typisch halten.
4) Als Beispiel wird darauf verwiesen, daß die Bundeswehr bis 1989 keinen eigenen Generalstab bilden durfte, und gefolgert, die BRD habe "bis heute kein Gremium zur nationalen Koordinierung ihrer Armeeverbände." In dem sehr informativen autonomen Beitrag "Fit for war" in der GelöbNIX-Zeitung ist dagegen zu lesen, daß seit 1994 die Bundeswehr die "Einrichtung eines eigenen Oberkommandos in Koblenz" zumindest auf den Weg gebracht hat.
5)
Zwischendurch scheinen auch die autonomen Überlegungen schon etwas weiter gewesen zu sein, denn drei Absätze vor der zuletzt zitierten Stelle hieß es noch: "Wir bezweifeln nicht, daß die politische Zerstückelung Süd-Ost-Europas in kleine, durch völkisch nationalistische Ideologien verseuchte Staaten der Sicherung des Standortes Deutschland nützt."
6) Da es hier und da eventuell so ’rüberkommt, sei an dieser Stelle einmal ausdrücklich erklärt: Es ging und geht uns in dieser Kritik nicht um einen billigen Verriß, sondern um Selbstaufklärung. Die gravierenden Schwächen des hier kritisierten autonomen Flugblatts spiegeln u.E. nur beispielhaft und in konzentrierter Form wieder, mit welcher Unsicherheit und z.T. geradezu gefährlichen Naivität sich ausnahmslos alle Kräfte der revolutionären Linken in die politischen Auseinandersetzungen, mit denen sie konfrontiert sind, begeben und darin agieren. Uns ist jedenfalls weder im Zusammenhang mit der GelöbNIX-Kampagne noch ansonsten irgendein Fall bekannt geworden, der es besser gemacht hätte – eher im Gegenteil.

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Nr.9/1998