Louis Althussers Entstellung des Marxismus
Über eine Revision und ihre Folgen


von Vera Kis.
10/07

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Einleitung

Unter der Führung der SJ Wien erfreut sich der französische Philosoph Louis Althusser einer außergewöhnlichen Beliebtheit. Seine Theorien werden als „Weiterentwicklung des Marxismus“ im Gegensatz zur angeblich plumpen Staatstheorie von Marx und Lenin (diese wird als „instrumentell“ verunglimpft) und den Ideen der Funke-Strömung dargestellt. Dies klingt vorerst einmal recht schön. Das Ziel dieses Textes ist es, den „Althusserismus“ näher zu beleuchten, d.h. seiner Methode und deren Konsequenzen auf die Spur zu kommen. Dies mag auf den ersten Blick als theoretische Spitzfindigkeit und unnötige Auseinandersetzung erscheinen, kann aber für die Zukunft der SJ durchaus von Bedeutung sein.
In „Interview mit Louis Althusser“ zitiert dieser selbst aus Lenins Schrift „Was tun?“: „Man muss kurzsichtig sein, um die Fraktionsdiskussionen und die strenge Begrenzung von Nuancen als inopportun oder überflüssig zu betrachten. Von der Festigung dieser oder jener ‚Nuance’ kann die Zukunft der russischen Sozialdemokratie für lange, sehr lange Jahre abhängen.“
Hier stimmen wir zu, und das gleiche stimmt ebenso für die SJ Wien. Daher liefern wir mit diesem Text einen Beitrag zur Diskussion in der SJ Wien. Dies ist in Althussers Worten notwendig, da sich „Die marxistische Theorie … der Geschichte gegenüber verspäten und auch sich selbst gegenüber verspäten [kann], wenn sie jemals glaubt, angekommen zu sein.“ (aus: „Ist es einfach, in der Philosophie Marxist zu sein?“).
Frei nach diesem Zitat versucht der vorliegende Text im ersten Teil die Grundlagen marxistischer Philosophie auszuarbeiten und im zweiten Teil sie mit Althussers Denkweise zu vergleichen und die praktischen Folgen beider Ansätze deutlich zu machen, zum Beispiel in Bezug auf die Staatstheorie.


TEIL 1: DIALEKTIK:

Dialektik und marxistische Philosophie...


Die Welt (Natur und Gesellschaft) um uns herum verändert sich ständig. Bewegung ist eine Eigenschaft von Materie. Die Dialektik ist eine Denkweise, die diese Bewegung, Entwicklung und Veränderung nachvollziehen will. Dabei geht sie davon aus, dass der Widerspruch die Triebfeder der Entwicklung ist. Man könnte auch sagen, dass Dialektik die „Logik der Entwicklung“ ist.

Dadurch unterscheidet sie sich von den verschiedensten Arten der „formalen Logik“, die auf Aristoteles zurückgehen und einen unbeweglichen Zustand voraussetzen. Ein Beispiel dafür ist der aristotelische Satz vom Widerspruch, der besagt, dass ein Ding nicht gleichzeitig es selbst und ein anderes sein kann, d.h. entweder es ist, beziehungsweise entweder es ist - oder es ist nicht. Oder formal aufgeschrieben: A ist ungleich Nicht- A. Dieser Satz aber sieht - wie alle anderen formalen Logiken nach ihr – von der Bewegung ab. Er negiert die Veränderung. Zum Beispiel sagte schon Heraklit, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, da dieser ja fließt, d.h. sich verändert. In manchen Fällen ist die Abstraktion der formalen Logik berechtigt. Zum Beispiel ist es einer Limonadenfirma egal, dass nicht einmal zwei der Flaschen, die sie verwendet, ganz gleich sind. Solange die Unterschiede eine bestimmte Toleranzgrenze nicht überschreiten, kann man sie außer Acht lassen. Das heißt, innerhalb sehr enger Grenzen ist die formale Logik gültig.
Will ich aber die Entwicklung eines Prozesses (zum Beispiel der Geschichte) verstehen, reicht die formale Logik nicht mehr aus. Entwicklung nämlich bedeutet Veränderung. Das heißt, A ist nicht mehr gleich A, sondern entwickelt sich beispielsweise von A zu B. Das bedeutet, dass es im Laufe dieses Prozesses ein Zustand eintritt, wo A nicht mehr A, aber noch nicht B, oder anders gesagt, wo es sowohl A als auch B, bzw. A und Nicht-A ist.
Trotzki schrieb, dass die Dialektik im gleichen Verhältnis zur formalen Logik steht, wie ein Film zu einem Foto: Worum es den DialektikerInnen geht, ist also nicht nur die Momentaufnahme der Fotos A und B, sondern der Prozess, der zwischen den Fotos steht, zum Beispiel welche Kräfte oder Widersprüche in A angelegt sind, die schließlich zu B führen.

Eine weitere Besonderheit der Dialektik – im Unterschied zu allen Formen der formalen Logik – ist die Idee der Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, in Hegel`schen Worten, zwischen dem Vermittelten und dem Unmittelbaren. Das bedeutet, dass das an der Oberfläche Sichtbare Ausdruck von darunter liegenden Tendenzen ist. Diese Tendenzen können lange unter der Oberfläche liegen, bis sie an einem gewissen Punkt offen zu Tage treten.

Ein konkretes Beispiel dafür ist die kapitalistische Gesellschaft: Ihre Produktionsverhältnisse bringen zwei verfeindete Hauptklassen, das BürgerInnentum und die ArbeiterInnenklasse, hervor. Die längste Zeit in der Geschichte ist das aber an der Oberfläche nicht sichtbar. Die Mehrheit der Menschen lebt und arbeitet, ärgert sich vielleicht über den Chef, aber kommt in Normalzeiten nicht auf die Idee, dass es der Kapitalismus ist, der ihr ganzes Leben, und direkt oder indirekt alles, was in der Gesellschaft vor sich geht, bestimmt. Das heißt, dass in ruhigen Zeiten der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit unter der Oberfläche liegt, nicht sichtbar ist. Das kann sich aber ziemlich schnell ändern. Durch einen äußeren Schock, z.B. einen Krieg, kann sich das Bewusstsein der Massen sprunghaft verändern. Die Gesellschaft polarisiert sich und es wird deutlich, dass es der tiefer liegende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist, der das Leben der Menschen im Kapitalismus bestimmt.
Unter den Bedingungen einer Revolution kommen die meistens nicht sichtbaren Zusammenhänge ans Licht, die den Kapitalismus ausmachen und werden zum bestimmenden Faktor der Situation. In Normalzeiten aber sind sie nicht offensichtlich.
Im Gegensatz zur Dialektik erkennt die formale Logik keine sich wandelnden, sondern höchstens mechanische Zusammenhänge an, z.B. ich schlage mit einem Hammer auf ein Glas und es zerbricht. Das bedeutet, sie akzeptiert nur sichtbare Zusammenhänge. Da sie die Dinge in ihrem Stillstand und nicht in ihrem Wandel sieht, erkennt sie in Hegel`scher Sprache nur die Phänomene an, aber nicht das Wesen.

Das Ziel der MarxistInnen ist der Sturz des Kapitalismus, der Sturz aller Verhältnisse in denen „der Mensch ein geknechtetes Wesen“ ist. Es ist aber nur möglich die Welt zu verändern, wenn man sie erkennen kann. Die marxistische Philosophie geht also davon aus, dass der Mensch grundsätzlich fähig ist, die Gesetze der Natur und der Gesellschaft zu erkennen und das mögliche Wissen der Menschheit durch nichts beschränkt ist. Die Erkenntnis entsteht in der Wechselbeziehung von menschlichem Geist (menschlicher Wahrnehmung) und Natur. Dadurch ist es möglich, immer mehr von der Wahrheit/ Wirklichkeit zu erkennen.

Essentiell für den Marxismus ist die Beziehung der Theorie zur Praxis. In der Praxis bestätigt sich – früher oder später – die Richtigkeit oder Nicht- Richtigkeit einer Theorie. Denn „die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage.“ (Marx: 2. Feuerbachthese). Und: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ (11. Feuerbachthese). Auch hier wird die Notwendigkeit der Praxis deutlich.


…und Strukturalismus

Die StrukturalistInnen suchen nach den inneren Zusammenhängen von „Systemen“, die aus vielen Einzelteilen bestehen, dabei kann es sich um Gesellschaftsordnungen, die Mikrobiologie oder Linguistik handeln. Das verbindet sie mit MarxistInnen, allerdings geht der Strukturalismus mit einer unbeweglichen Betrachtungsweise an die Dinge heran. Die Zusammenhänge, die er sucht, müssen sichtbar sein und identifiziert werden können. Sie versuchen, das Wesen eines Ganzen aus seinen „Strukturen“, das heißt, aus dessen Teilen und deren Zusammenhängen zu erklären. Das verbindet Strukturalismus mit der formalen Logik.

Hier liegt – abgesehen von der statischen Betrachtungsweise – ein weiterer wichtiger Unterschied zu dialektischem Denken: DialektikerInnen und MarxistInnen gehen davon aus, dass ein Ganzes, ein komplexes System, das aus vielen Einzelteilen besteht, Eigenschaften hervorbringt, die weder aus den Eigenschaften der Einzelteile, noch aus den sichtbaren Zusammenhängen zwischen einzelnen dieser Teile erklärt werden können. Die Eigenschaften, die dazu führen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, entstehen durch die Wechselwirkung aller Systemteile mit allen anderen Systemteilen. Die Eigenschaften des Systemganzen sind oft unter der Oberfläche versteckt, werden jedoch unter bestimmten Bedingungen zum alles bestimmenden Moment des Systems. Hegel und Marx nennen diese Art von Tendenzen unter der Oberfläche auch ‚Wesen’ im Gegensatz zur ‚Erscheinung’. Diese Auffassung vom Wesen wurde von Anti-MarxistInnen immer wieder als Mystizismus oder Metaphysik bezeichnet, da das Wesen unter der Oberfläche nicht greifbar und nachweisbar sei. Schon für Hegel war wichtig, dass das Wesen nicht einfach behauptet werden kann, sondern nachgewiesen werden muss, wie es sich an der Oberfläche widerspiegelt und wie es immer wieder bereits tatsächlich zum alles bestimmenden Moment des Ganzen geworden ist. Marx entwickelt diese Auffassung weiter, indem er verlangte, dass die wesentlichen Zusammenhänge anhand der tatsächlichen Bewegung der Natur und der Geschichte materialistisch nachgewiesen werden müssten.

Während die formalen LogikerInnen und die StrukturalistInnen das Ganze aus der Summe seiner Teile, Strukturen und Oberflächenzusammenhängen verstehen möchten, versuchen DialektikerInnen die Teile, Strukturen und Oberflächenzusammenhänge aus den Eigenschaften des Systemganzen, also aus dem Wesen des Ganzen, zu erklären. Da also die „Strukturen“ aus dem Wesen des Ganzen erklärt werden müssen, können strukturalistische ForscherInnen, die den umgekehrten Weg zu gehen versuchen, das Wesen der untersuchten Phänomene oft nicht erkennen.

Wenn die StrukturalistInnen davon sprechen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dann meinen sie, dass das Ganze eigentlich die Summe seiner Strukturen und „koexistentieller Gesetze“, also der offensichtlichen Zusammenhänge zwischen den Strukturen, ist. Dieses Verständnis vom Ganzen unterscheidet sich von der formalen Logik in Wirklichkeit nicht. Wie wir bereits gesehen haben, kann das Systemganze durch keine Aufsummierung von Teilaspekten verstanden werden, egal, wie diese benannt werden.
Eigenschaften des Systemganzen, die ihrerseits die Eigenschaften der Teile, der Strukturen und der einfachen Zusammenhänge bestimmen, können durch die strukturalistische Logik nicht erfasst werden. Das bedeutet, dass weder die Kausalität, noch die Dynamik oder die inneren Bewegungstendenzen des Systems verstanden werden können.

In diesem Zusammenhang ist es auch nicht verwunderlich, dass die StrukturalistInnen von der Bewegung abstrahieren, die Zeit auf 0 setzen (t = 0), damit gibt es keine Bewegung. Der Strukturalismus ist an den Gesetzen, die den Zusammenhalt und Aufbau der erforschten Strukturen bedingen, interessiert, nicht an Kausalitäten oder Dynamik. Man sucht den „anatomischen Querschnitt“ (Vergleich: A. Schaff) des erforschten Objekts.
Der Strukturalismus wurde im Frankreich der 60iger Jahre – nachdem der zur unmittelbaren Nachkriegszeit passende Existenzialismus an Anziehungskraft zu verlieren begann - eine Art intellektueller Mode. Nicht nur in der Philosophie, sondern für ForscherInnen aus fast allen Gebieten (Linguistik, Anthropologie) war diese Denkweise attraktiv.

Für die StrukturalistInnen haben „Sprachspiele“ besondere Bedeutung; also die Ähnlichkeit oder der Gleichklang ganz verschiedener Wörter. Die Grenzen des Strukturalismus liegen in seinem Fokus auf der Form, wobei eben von ihrem konkreten Inhalt abstrahiert und die Bedingungen seiner Entwicklung (z.B. historische Bedingungen) ignoriert werden. Es wird also hauptsächlich Wert auf die Form („Struktur“) gelegt und dabei ihre Beziehung zum Inhalt ignoriert. Das kann aber zu ganz falschen Ergebnissen führen.

Das Problem mit komplexen Systemen ist ja eben, dass man sie nicht unabhängig von der Zeit und damit von der Bewegung erklären kann. Sobald man die Zeit in einem komplexen System laufen lässt, kommt es zu Ergebnissen, die eben nicht aus Einzelteilen erklärt werden können, da sich immer wieder plötzlich wesentliche Zusammenhänge Bahn brechen.
Oder anders formuliert: Ein System von gleichen inter-agierenden Bestandteilen führt zum Beispiel zu Katastrophen, die nicht aus den Eigenschaften der Einzelteile erklärt werden können. Ein berühmtes Beispiel für diese Dialektik ist ein Sandhaufen, der dadurch vergrößert wird, dass man einzelne Sandkörner auf seine Spitze fallen lässt. Von außen ist nicht sichtbar, wie lange der Sandhaufen noch wächst, beziehungsweise, wann der Wendepunkt kommt, an dem der Haufen in sich zusammenfällt beziehungsweise zerstört wird, indem sich Lawinen lösen. Dieser Punkt ist nur durch die Geschichte des Sandhaufens erklärbar. Moderne WissenschaftlerInnen versuchen, das Sandhaufenproblem auf recht dialektische Weise darzustellen. Diese wird durch folgende Computersimulation klar gemacht: Wir haben einen Sandhaufen. Die stabil liegenden Körner sind grün. Mit der Zeit und dem Wachstum unseres Sandhaufens aber kommen rote, instabile Körner hinzu und werden immer mehr. Durch den grün markierten Haufen laufen immer größer werdende „fingers of instability“, die schließlich den gesamten Sandhaufen durchziehen. Man kann anschaulich sehen, wie mit einem zusätzlichen Sandkorn das „Kräfteverhältnis“ zwischen roten und grünen Körnern kippt und ein einzelnes zusätzliches Korn eine Lawine auslöst, die nur aus der Geschichte des Haufens und den „fingers of instability“, aber überhaupt nicht durch das einzelne zusätzliche Korn, zu erklären sind. Das Beispiel stammt aus dem Buch „Ubiquity: The Science of History . . . or Why the World Is Simpler Than We Think“ von Mark Buchanan, in dem versucht wird, die Entstehung von Naturkatastrophen, wie Erdbeben, zu erklären. Das ist ohne dialektisches Denken unmöglich.

Der Nachteil des Strukturalismus ist aus marxistischer Sicht, dass er von der Bewegung und Veränderung abstrahiert. Dies ist aus unserer Sicht keineswegs ein kleiner Fehler, denn als AnhängerInnen der dialektischen Methode sind wir gerade an den Dingen interessiert, die der Strukturalismus ausblendet.

Louis Althusser versuchte, den Marxismus mit strukturalistischen Lehren zu mischen und so einen neuen – von allen unwissenschaftlichen Elementen gereinigten – Marxismus zu schaffen. Als Mitglied der KP war er an den stalinistischen Dogmatismus gewöhnt und ihm erschien vermutlich die strukturalistische Philosophie als etwas erfrischend Neues.
„Die sogenannten Umstände, die ich im Vorwort zu „Für Marx“ anführe, das, was vom 20. Parteitag mit einem Wort ohne Begriff „Personenkult“ genannt wurde, sowie die rechtsopportunistischen Interpretationen, die damals über den Marxismus hinwegfegten, …. – all das stürzte mich ins Getümmel.“ (L.A.: „Ist es einfach, in der Philosophie Marxist zu sein?“)

Dialektik und Kapital

Ein historisches Beispiel für die Dialektik ist zum Beispiel die Entstehung des Kapitals. Am Anfang stehen geschichtlich mehrere gleiche WarenproduzentInnen, die interagieren und miteinander ihre Produkte tauschen. Marx beschreibt im ersten Band des „Kapital“ ausführlich, wie diese Situation und das Tauschen von Produkten zur Entstehung eines allgemeinen Äquivalents, des Geldes, geführt hat. Das Geld ist als eine Ware, die gegen alle anderen Waren austauschbar ist und somit Wertmesser der anderen Produkte. Dieses Geld, das aus dem Tausch gleicher WarenproduzentInnen miteinander entstand, bringt allerdings Eigenschaften hervor, die nicht aus den reinen Tauschbeziehungen erklärbar sind. Das Geld bedeutet als allgemeines Tauschmittel Reichtum. Es verdirbt nicht und kann daher gehortet werden. Das aber führt zu Wucher und ermöglicht damit Schatzbildung. Das gehortete Geld, das nicht in die Tauschwirtschaft zurückfließt, kann zu Überproduktionskrisen führen, da die dem zum Zwecke der Schatzbildung zurückgehaltenen Geld entsprechenden Waren nicht verkauft werden können. Diese Überproduktion an Waren ist nicht aus Tauschbeziehungen erklärbar, sondern nur aus den Eigenschaften des Geldes, dessen Existenz wiederum nicht aus den einzelnen Tauschbeziehungen und den Eigenschaften der Händler erklärt werden kann, sondern nur aus dem Systemganzen der Gesamtwirtschaft.

Nun lassen wir die Zeit aber weiterlaufen und gehen über den vorkapitalistischen Handel hinaus: Unter der Bedingung der Konzentration (Hortung) des Geldes bei wenigen und einem hinzukommenden technischen Fortschritt (in der industriellen Revolution) und der Konkurrenz entstehen Kapital und Arbeit. Die Arbeitskraft selbst wird zur Ware und der Kapitalismus ist geboren. Das Geld ist zu Kapital geworden, das sich durch die Konkurrenz in immer weniger Händeln sammeln muss, sprich, sich immer mehr akkumulieren. EinE KapitalistIn, der/die nicht akkumuliert, wird von der Konkurrenz vernichtet. Im Kapitalismus also wird die Kapitalakkumulation zum alles bestimmenden Moment. Die meiste Zeit ist die einfache Beziehung zwischen Lohnarbeit und Kapital, die Beziehung der Kapitalakkumulation, nicht sichtbar. Das „komplexe System“ Kapitalismus aber bringt wieder Situationen hervor, in denen sein Wesen, das alles bestimmende Moment der Kapitalakkumulation, offensichtlich wird. Das passiert durch Wirtschaftskrisen. Es zeigt sich, dann, dass nur für die Kapitalakkumulation produziert wird. Diese Krisen sind wieder einmal nur aus dem System als Ganzes zu erklären. Die Konkurrenz nämlich treibt alle KapitalistInnen dazu in technische Neuerungen zu investieren, das bedeutet, dass jede/r versucht, durch teurere Maschinen, die schneller produzieren die Konkurrenz auszustechen, also mit weniger Arbeitskräften mehr zu produzieren. Hier allerdings liegt der Hund begraben. Nur die menschliche Arbeitskraft kann Mehrwert schaffen. Maschinen haben zwar einen Wert, die in ihnen geronnene, gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, den sie in ihrer Lebensdauer auf die von ihr produzierten Waren weitergibt, aber sie können keine neue Werte schaffen, da der Preis der Maschine um ihren Wert schwankt, der Preis der Ware Arbeitskraft entspricht ihren Reproduktionskosten, diese sind aber viel geringer als die produzierten Waren. Aus dem Drang zur Kapitalakkumulation und damit zur Profitmaximierung entspring somit der tendenzielle Fall der Profitraten.

Dieser ist der Grund für die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Krisen können sich lange Zeit unter der Oberfläche vorbereiten, um plötzlich auszubrechen und die Beziehung der Kapitalakkumulation nackt zum Vorschein zu bringen. Unter den Bedingungen der Krise erscheint die Kapitalakkumulation in ihrer gesamten Brutalität als entscheidendes Moment an der Oberfläche.

Andere Beispiele für das plötzliche Erscheinen wesentlicher Merkmale an der Oberfläche sind unter anderem der Ausbruch imperialistische Kriege und die Entwicklung von Klassenbewusstsein. Wir wollen uns das zweite Beispiel näher ansehen: In Normalzeiten ist, wie schon gesagt, der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und das alles dominierende Moment der Kapitalakkumulation für die meisten Menschen nicht offensichtlich. Man könnte sagen, das Bewusstsein der Massen steht weit hinter der Realität. Durch bestimmte Schocks kann es aber fast von heute auf morgen aufholen. Durch den Ausbruch eines Krieges kann zum Beispiel auf einmal vielen Menschen klar werden, dass der Kapitalismus kein lebenswertes Leben bietet, da der Zwang zur Profitmaximierung weniger zu unglaublichen Brutalitäten führt. Es kann zu einer Revolution kommen in der die ausgebeutete Mehrheit versucht ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihre Geschicke selbst zu bestimmen. Die geschichtliche Ausnahmesituation namens Revolution ist nur aus dem im Kapitalismus immer vorhandenen Widerspruch zu erklären. Das ist ein Beispiel wie ein wesentlicher Zusammenhang an die Oberfläche tritt und unter gewissen Bedingungen zum alles bestimmenden Faktor aller Systemteile wird.

Dialektik und Staat

Da der Staat in Althussers Schriften eine wichtige Rolle einnimmt - die Theorie der ideologischen Staatsapparate ist wahrscheinlich seine bekannteste - wollen wir uns noch den Staat in seiner Entstehung und Geschichte anschauen, bevor wir zur eigentlichen Kritik an Althusser kommen.

Den Staat hat es nicht immer gegeben. Er ist ein Produkt der Klassengesellschaft. Die Klassengegensätze, Konflikte und die Konkurrenz haben ihn hervorgebracht. Ohne Staat müssten die kämpfenden Klassen sich in einer ständigen Situation des BürgerInnenkriegs befinden. Der Staat ist als eine Institution entstanden, die die Konflikte dämpft. Gleichzeitig war und ist er in jeder Gesellschaft eine Unterdrückungsmaschinerie, die die Möglichkeit schafft, den Reichtum der herrschenden Klasse notfalls mir Gewalt zu verteidigen. Die meiste Zeit über aber tritt der Staat nicht offen als Instrument der Klassenherrschaft zu Tage. Sein eigentlicher Zweck tritt hinter die Aufgabe der Entschärfung von Konflikten zurück. Heute ist der Staat der Staat der Bourgeoisie und sein Zweck ist es, das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu schützen, sprich den Kapitalismus aufrecht zu erhalten. Durch die Überdeckung gesellschaftlicher Widersprüche ermöglicht er es, dass in Normalzeiten durch verschiedenste Institutionen (Schule, Kirche, Zivilgesellschaft, reformistische Massenparteien…) kleinbürgerliche Ideologien in die Masse der lohnabhängigen getragen werden. Deswegen ist es in Normalzeiten auch nicht notwendig, dass der Staat sein wahres Gesicht als Unterdrückungsmaschine zeigt. Kommt es aber zu Bewegungen der ArbeiterInnenklasse, zeigt sich, auf wessen Seite der Staat steht. Die hohen Offiziere, Polizeichefs, etc. kommen aus der herrschenden Klasse. Sie wurden nie von irgendjemandem gewählt und sind mit bürgerlich-reaktionärer Ideologie voll-geimpft. Falls das kapitalistische System bedroht ist, ist klar auf wessen Seite sie stehen werden. Sie werden nicht zögern- und haben das auch niemals getan - Bewegungen in Blut zu ertränken und auf die schlimmste Repression zu setzen. Dann wird der Zweck des Staates offensichtlich.
Diesen Zweck, d.h. das Wesen des Staates zu verkennen, kann zu schlimmsten Konsequenzen führen. Das hat die Geschichte immer wieder gezeigt. Der Hund liegt hier wieder einmal im Wesen und nicht in der Erscheinung. Denn der Schein kann trügen. So war zum Beispiel das Ende des 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts eine wirtschaftliche Blütezeit und die Sozialdemokratie in Mitteleuropa wuchs ständig. Die Herausbildung des Imperialismus ermöglichte die Einbindung der sozialdemokratischen Führung in den Staat und die Möglichkeit, dass sich eine materiell besser als ihre Basis gestellte Bürokratie bilden konnte. Die Einbindung in den Staat führte schließlich auf ideologischer Ebene zu einer reinen Orientierung aufs Parlament und zur Abänderung des Marxismus in Richtung Reformismus. Man warf die „alte, überholte“ Staatstheorie über Bord, da ja oberflächlich betrachtet die parlamentarische Demokratie die Möglichkeit, einfach zu sozialistischen Regierungen zu kommen, in sich trug. Man entwickelte Theorien, die den wesentlichen Charakter des Staates als Instrument der herrschenden Klasse vergaßen, beziehungsweise besagten, dass man den bürgerlichen Staat für sich nutzen solle. Die Situation aber blieb nicht immer so. Der Erste Weltkrieg führte de facto in ganz Europa zu revolutionären Bewegungen, die das System gefährdeten. In der Zwischenkriegszeit zögerte die Bourgeoisie, da sie direkt bedroht war, keine Millisekunde, Polizei und Militär gegen die Massen einzusetzen. Ein trauriger Höhepunkt des undialektischen Denkens ist somit unter anderem die Idee der AustromarxistInnen, die Dollfusssche Machtübernahme vor dem Verfassungsgerichtshof zu klagen, anstatt rechtzeitig die Revolution zum Sieg zu führen und den bürgerlichen Staat zu zerschlagen, als dies aufgrund des Kräfteverhältnisses so gut wie unblutig möglich gewesen wäre.


TEIL 2: Althusser CONTRA Marx:

Des Pudels Kern ODER die Frage der Methode


Im Text „Widerspruch und Überdeterminierung“ gibt uns Althusser etwas mehr Einblick in seine Methode. Den theoretischen Konsequenzen werden wir weiter unten noch in seiner Staatstheorie und im „Antihistorismus“ begegnen. Aber beginnen wir gleich mit des Pudels Kern: Althussers Hauptthese in „Widerspruch und Überdeterminierung“ ist, dass der Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen, der sich im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ausdrückt, von sich aus nicht zur Revolution führen kann. Das heißt, für den revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus ist laut Althusser eine „Einheit des Bruchs“ von Nöten. So sagt er zum Beispiel:

„Wie sollte man also diese praktischen Erprobungen und ihren theoretischen Kommentar anders zusammenfassen als in der Feststellung, daß die ganze revolutionäre marxistische Erfahrung beweist, daß, wenn der Widerspruch im allgemeinen (aber er ist schon spezifiziert: der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, der im wesentlichen im Widerspruch zwischen zwei antagonistischen Klassen verkörpert ist) ausreicht, um eine Situation zu definieren, in der die Revolution ‘auf der Tagesordnung’ steht, er jedoch nicht durch seine direkte, einfache Kraft eine ‘revolutionäre Situation’ und mit noch weniger Wahrscheinlichkeit eine Situation des revolutionären Bruchs und den Triumph der Revolution auslösen kann. Damit dieser Widerspruch ‘aktiv’ werden kann im starken Sinn, Prinzip des Bruchs, bedarf es einer derartigen Anhäufung von ‘Umständen’ und ‘Strömungen’, daß diese, welchen Ursprungs und welcher Richtung sie auch sein mögen (….), zu einer Einheit des Bruchs ‘zusammenfließen’”  (Für Marx, Frankfurt am Main, 1986, Seite 63)

Etwas weiter unten im Text zieht er folgende Schlussfolgerungen:

„Wenn in dieser Situation eine gewaltige Anhäufung von ‚Widersprüchen’ ins Spiel, in das gleiche Spiel, gerät, von denen einige radikal heterogen sind, und die weder den gleichen Ursprung, noch die gleiche Bedeutung, noch das gleiche Anwendungsniveau und den gleichen Anwendungsort haben und trotzdem zu einer Einheit des Bruchs ‚verschmelzen’, dann ist es nicht mehr möglich von der schlichten und einfachen Kraft des allgemeinen ‚Widerspruchs’ zu sprechen.“

Und etwas später:

„[…]daß der ‚Widerspruch’ von der ganzen Struktur des ganzen sozialen Körpers untrennbar ist, in dem er sich auswirkt, untrennbar von seinen formellen Existenzbedingungen und den Instanzen, die er regiert, dass er also selbst, in seinem Kern, durch sie berührt ist, in einer einzigen und gleichen Bewegung determinierend, aber auch determiniert, und zwar determiniert durch die verschiedenen Ebenen und die verschiedenen Instanzen der Gesellschaftsformation, die er belebt: wir können ihn in seinem Prinzip überdeterminiert nennen.“ (selbes Buch, Seite 55/ 56)

Zwar würden diese „Umstände und Strömungen“, von denen Althusser in irgendeiner Form von den Produktionsverhältnissen abhängen, die er als deren Existenzbedingungen bezeichnet, aber auch „von den Überbauten, Instanzen, die sich davon ableiten, aber ihre eigene Konsistenz und Wirksamkeit haben; von der internationalen historischen Konjunktur selbst, die sich auf ihre spezifische Weise als Bestimmung einschaltet“ (S. 55)

Althusser geht also davon aus, dass der Hauptwiderspruch von spezifischen Umständen eines Landes, (nationale Traditionen usw.) beziehungsweise Tendenzen des Überbaus, „überdeterminiert“ wird. Das bedeutet, dass selbst, wenn der Klassenkampf zum revolutionären Bruch führen würde, es sein kann, dass eine Revolution nicht stattfindet, da sie durch eine Überdetermination durch Phänomene des Überbaus verhindert wird.

Marx und Hegel - und Althusser

Von der von ihm geschaffenen Definition der „Überdetermination“ ausgehend, zieht Althusser gegen die Hegelsche Dialektik ins Feld, die in „einfachen Widersprüchen“ denkt und nicht „überdeterminiert“ ist. Den Grund für Hegels Art, den Widerspruch zu verstehen, sieht Althusser in dessen idealistischer Weltsicht:

“Es genügt dann sich zu fragen, warum Hegel diese Phänomene der historischen Verwandlung in diesem einfachen Begriff des Widerspruchs denkt, um genau die wesentliche Frage zu stellen. Die Einfachheit des Hegelschen Widerspruchs ist in der Tat nur durch die Einfachheit des inneren Prinzips möglich, das das Wesen jeder historischen Periode bildet…
Die Reduzierung selbst (…), die Reduzierung aller Elemente, die das konkrete Leben einer historischen Welt ausmachen (ökonomische, soziale, politische, juristische Institutionen, Sitten, Moral, Kunst, Religion, Philosophie und bis zu den historischen Ereignissen: Kriege, Schlachten, Niederlagen etc.), auf ein inneres Einheitsprinzip, diese Reduzierung ist nur unter der absoluten Bedingung möglich, daß das ganze konkrete Leben eines Volkes für die Entäußerung- Entfremdung eines geistigen inneren Prinzips gehalten wird, das letztlich niemals etwas anderes ist als die abstrakte Form des Selbstbewußtseins dieser Welt: sein religiöses oder philosophisches Bewusstsein, d.h. seine eigene Ideologie.“
(„Für Marx“, Seite 68)

Wir sehen also, dass Althusser die Form der Dialektik auf Hegels Idealismus zurückführt. In Wirklichkeit hat nicht der Idealist Hegel das dialektische Denken erfunden, sondern schon antike Philosophen wie Heraklit hatten eine dialektische Denkweise. Für Hegel war die Dialektik ein abstraktes Denkmuster, das er der Wirklichkeit überstülpte. Das war ja für einen Idealisten, der sowieso davon ausgeht, dass das Denken der bestimmende Faktor ist, ohne größere Schwierigkeiten möglich. Bei Marx wird im Gegensatz dazu die Dialektik konkret aus der Entwicklung von Natur und Geschichte hergeleitet, trotzdem ist es Dialektik- aber dazu später.

Aber das Entscheidende ist, dass Althusser fälschlicherweise davon ausgeht, dass die Dialektik alle Elemente einer Epoche auf ein inneres Prinzip reduzieren würde. Im Gegensatz zu den frühen französischen Materialisten und Ludwig Feuerbach geht die materialistische Dialektik eben nicht von direkten und mechanischen Bestimmung des Überbaus durch die Basis aus, sondern davon, dass der Überbau lediglich die Basis widerspiegelt. Der Überbau hat seine eigene Dynamik und seine eigenen Gesetze, die nur dann gesprengt werden, wenn sie in einen unversöhnlichen Widerspruch zur Basis geraten.

Das heißt, dass die relative Unabhängigkeit des Überbaus keine absolute ist. Religionen können im Geiste der Menschen lange über ihre unmittelbare Entstehungsepoche hinaus erhalten werden, das heißt aber nicht, dass man sich ihre Entstehung nicht materialistisch erklären könnte.

Man braucht nur zum Beispiel Engels Buch über „Die Entstehung der Familie, des Privateigentums, und des Staates“ aufschlagen und man wird sofort erklären können, wieso eine Urgesellschaft, die kein Privateigentum und damit keine Monogamie kennt, kein Eigentums- oder Eherecht bracht. Das lässt sich sehr wohl aus der geringen Produktivkraftentwicklung dieser Gesellschaften erklären, die noch gar keinen regelmäßigen Überschuss erwirtschaften konnten und es folglich dort auch kein Eigentum geben konnte. Ähnliche Erklärungen lassen sich für alle anderen von Althusser angeführten Gebiete genauso finden. So machen zum Beispiel religiöse Moralvorstellungen, wie „Du sollt nicht töten, nicht stehlen“, etc. auch nicht in allen Gesellschaften Sinn. Das Gebot gegen Diebstahl wird die BewohnerInnen von Gesellschaften ohne Privateigentum wohl nur zum Lachen bringen. Genauso verkehrt sich „Du sollst nicht töten!“ in einem imperialistischen Krieg in sein Gegenteil. Das Ziel wird unterstützt, durch die modernste Technik möglichst viele „Feinde“ umzubringen. Nun fällt ein imperialistischer Krieg allerdings nicht vom Himmel, sein Grund ist darin zu suchen, dass der Kapitalismus die Produktivkräfte (!) nicht mehr gemäß der Möglichkeiten entwickeln kann, d.h. dass Privateigentum und Nationalstaat zu einem Wachstumshindernis werden. Die Einschränkung durch die Grenzen des Nationalstaates versucht, die imperialistische Macht durch den Krieg zu lösen.
Wir haben nun am Beispiel von Moral und Recht deren Verbindung mit der materiellen Basis aufgezeigt. Das soll natürlich nicht heißen, dass nur die ökonomische Basis bestimmt, sondern nur, dass sie die Grundlage für Entwicklungen des Überbaus gibt. Am konkreten Beispiel der Kunst bedeutet das zum Beispiel, dass sich der Verfall einer Gesellschaftsordnung, also, wenn sie nicht mehr fähig ist, die Produktivkräfte in Einklang mit den bestehenden Möglichkeiten zu entwickeln - sich also historisch überlebt hat - sich sehr wohl in der Kunst widerspiegelt; man denke nur an Hieronymus Bosch im Spätmittelalter oder die Motive der Metal- oder Emoszene heute. Der dialektische Materialismus bietet aber nur eine allgemeine Erklärung (zum Beispiel der Kunst), zur Erforschung ihrer Entwicklung bedarf es der Kunstgeschichte. Diese Tatsache ändert aber nichts an der Richtigkeit marxistischer Philosophie.

Wie in dem letzten Zitat schon zu ahnen war, behauptet Althusser, dass sich der Marxsche Widerspruch grundlegend vom Hegelschen unterscheiden würde. Marx hätte also die Dialektik nicht nur „vom Kopf auf die Füße gestellt“, sondern ihre Form, beziehungsweise ihre Struktur, verändert.

Wenn Marx sagt, er habe „Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt“, so bedeutet das, dass die marxistische Philosophie materialistisch ist und nicht idealistisch, wie die von Hegel. Marx leitet die Dialektik des Denkens aus der Dialektik der Natur ab, während Hegel die Anschauung vertritt, dass die Realität nur durch die „Idee“ existiert beziehungsweise ihr Ausdruck ist. Für ihn ist das dialektische Denken der Ursprung der Dialektik der Natur. Bei Marx ist es genau umgekehrt. Außerdem widersprach Hegel der eigenen dialektischen Ansicht, indem er die Dialektik als geschlossenes, absolutes System betrachtete. Bei ihm funktioniert Entwicklung in Kreisen und nicht, wie bei Marx, als eine Entwicklungsspirale, wo nie zum selben Ausgangspunkt zurückgekehrt wird, sondern man durch die Negation der Negation auf einer höheren Ebene landet. Und diese Spirale ist nach oben hin weiter offen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Entstehung der Klassengesellschaft aus der klassenlosen Urgesellschaft und eine lange Entwicklung von Klassenkämpfen, die den Kapitalismus hervorbringt, der durch seine ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte den Kommunismus möglich und notwendig macht. Die klassenlose Urgesellschaft wurde durch die Entstehung von Klassen negiert. Eine weitere Negation, also die Negation der Negation, wäre wieder eine klassenlose Gesellschaft, aber auf einer höheren Ebene mit ganz anderen Vorraussetzungen. Keine Mangelgesellschaft, sondern eine Überflussgesellschaft.
Das sind die wesentlichen Unterschiede zwischen Marx und Hegel, NICHT, dass Marx eine gänzlich andere Form der Dialektik vertreten hätte.

Aber zurück zu Althusser: Dieser behauptet, dass Marx im Rahmen seines „epistemologischen [= erkenntnistheoretischen] Bruchs“ Mitte der 1840iger die Dialektik nicht einfach nur „vom Kopf auf die Füße gestellt“, sondern sie grundlegend geändert hätte. Er behauptet, dass sich der marxistische Widerspruch grundlegend vom Hegelschen unterscheide.

Nun macht sich Althusser ausgehend von einzelnen Marxzitaten als edler Ritter der „theoretischen Praxis“ auf den Weg, die gesamte marxistische Denkweise umzustürzen. Er identifiziert die Hegelsche Dialektik mit „Mystizismus“ und vertritt die Ansicht, dass der „reife“ Marx einen fundamentalen Bruch mit dem romantischen Humanismus des „jungen“ Marx vollzogen hätte.

„Um jedes Missverständnis zu vermeiden weisen wir darauf hin, dass es durchaus jene Hegel’ sche Dialektik ist, die, dazu noch in außerordentlicher Reinheit und Unerbittlichkeit, ruhmreich über die Manuskripte von 1844 von Marx herrscht. Um den Beweis zu vollenden, fügen wir hinzu, dass die Hegel’ sche Dialektik dort rigoros „umgekehrt“ wird. Deshalb ist die Strenge dieses rigorosen Textes nicht marxistisch.“ (LA.: “Über die materialistische Dialektik“)

Marx hätte die Hegelschen Kategorien im Kapital nur deshalb verwendet, weil er „der philosophischen Dummheit seiner Zeitgenossen eine Lektion erteilen wollte, indem er im 1. Buch des „Kapitals“ mit der Terminologie Hegels kokettierte. Sollten wir die Lektion noch verdienen?“ (ebenda) und sieht daher die ersten Kapitel des Buches nicht als entscheidend an und empfiehlt allen Marx-LeserInnen, erst mit dem zweiten Teil des „Kapitals“ zu lesen zu beginnen. Die Idee Hegel „vom Kopf auf die Füße zu stellen“ missfällt ihm:

„Deswegen ist die marxistische ‘Umkehrung’ der Hegelschen Dialektik etwas völlig anderes al seine schlichte und einfache Extraktion. Erfasst man nämlich klar die enge innere Beziehung, welche die Hegelsche Struktur der Dialektik mit der ‘Weltanschauung’ Hegels unterhält, d.h. mit der spekulativen Philosophie, dann ist es unmöglich, sich dieser Weltanschauung wirklich zu entledigen, ohne zwangsläufig die Strukturen dieser gleichen Dialektik grundlegend zu verändern.” (Für Marx, S. 69/ 70)

Die Dialektik könnte nicht einfach aus ihrer idealistischen Hegelschen Schale gezogen werden um marxistisch zu werden. Er macht sich (zu Recht) über den Inhalt der Hegelschen Dialektik lustig und meint:

„man muß ein für alle Mal verstehen, dass diese Willkürlichkeiten (…) nicht wunderbar auf die einzige „Weltanschauung“, auf das einzige Hegelsche ‚System’ beschränkt sind, sondern dass sie sich in der Tat in der Struktur, in den Strukturen seiner Dialektik und besonders in diesem ‚Widerspruch’ reflektieren, dessen Aufgabe es ist, die konkreten Inhalte dieser historischen Welt magisch auf ihr ideologisches Ziel hinzutreiben.“ (Für Marx, Seite 69)

Hier haben wir erstens die Ablehnung einer Dialektik, das heißt einer Logik, die Entwicklung und Veränderung zu fassen versucht, da diese ja von ihrer Form und Art her nur für den Hegelschen Idealismus, und die zielgerichtete Wanderung des Weltgeistes, von Nutzen sei. Zweitens bedeutet selbst eine Änderung der Form der Dialektik (die bis zu einem gewissen Grad stattfinden muss, siehe unten) ja noch lange nicht, dass Marx deswegen in „überdeterminierten Widersprüchen“ gedacht hätte, die eine reine Erfindung Althussers sind.
Für Althusser ist also die Hegelsche Form der Dialektik von dessen idealistischen philosophischen Inhalten „verschmutzt“ und kann folglich nicht als „reiner Kern“ aus der Hegelschen Hülle“ gezogen werden, sondern muss gänzlich umgeändert werden. Zu diesem Zwecke behauptet Althusser ganz einfach, dass der reife Marx die Denkweise der von Althusser erfundenen „Überdetermination“ benutzt hätte.

Wenn Marx schreibt, dass er der „mystifizierenden Form“ der Hegelschen Dialektik die „rationale Gestalt“ seiner eigenen Dialektik entgegengestellt habe, dann meint er damit eigentlich nur, dass seine philosophische Anschauung der Materialismus und nicht der Idealismus ist; aber sicher nicht, dass er eine neue Dialektik erfunden hätte. Bei Althusser sieht das wieder ganz anders aus:

„Deswegen ist die marxistische ‘Umkehrung’ der Hegelschen Dialektik etwas völlig anderes al seine schlichte und einfache Extraktion. Erfasst man nämlich klar die enge innere Beziehung, welche die Hegelsche Struktur der Dialektik mit der ‘Weltanschauung’ Hegels unterhält, d.h. mit der spekulativen Philosophie, dann ist es unmöglich, sich dieser Weltanschauung wirklich zu entledigen, ohne zwangsläufig die Strukturen dieser gleichen Dialektik grundlegend zu verändern.”
(Für Marx, S. 69/ 70)

Die Dialektik im Kapital

Laut Althusser unterscheiden sich Hegel’ sche und Marx’ sche Dialektik eben darin, dass der Widerspruch bei Marx „überdeterminiert“ wäre und bei Hegel nicht. (Dazu später.)
Laut Althusser wäre Hegel für Marx nicht notwendig, sogar hinderlich für das Verständnis. Die Reihe der Zitate in denen er die Hegel’ sche Dialektik mit Mystizismus identifiziert, ließe sich fast beliebig lange fortsetzen. Ein Zitat ist aber ob seiner Falschheit doch bemerkenswert:

„So haben in den tatsächlich konstituierten Praxis- Arten die Hegelschen Kategorien seit langem geschwiegen. Sie sind dort „unauffindbare“ Kategorien. Deshalb auch sammeln gewisse Leute mit unendlicher Sorgfalt und Devotion, die man den einzigen Reliquien der vergangenen Zeit schuldet, die zwei einzigen Sätze, die man im ganzen „Kapital“, d.h. auf rund 2500 Seiten findet, um sie allen zu zeigen; deshalb verstärken sie diese zwei Sätze durch einen anderen Satz, durch ein Wort, genauer gesagt, einen Ausruf Lenins, der uns sehr rätselhaft versichert, dass ein halbes Jahrhundert nichts von Marx verstanden habe, da es Hegel nicht gelesen habe.“  (L.A.: „Über die materialistische Dialektik“)

Zu dieser Aussage sieht sich Althusser genötigt, da das Kapital als Spätwerk sicher nicht mehr in die Zeit vor Mitte der 1840iger Jahre fällt, d.h. eindeutig nach dem „erkenntnistheoretischen Bruch“ verfasst wurde. Mit den „zwei einzigen Sätzen“ meint Althusser einen über die Negation der Negation und einen über Quantität und Qualität. Dass die (Hegelsche) Dialektik nur in diesen zwei Sätzen des „Kapital“ vorkomme aber ist ein tragischer Irrtum oder eine bewusste Verdrehung der Tatsachen. Wenn Althusser das „Kapital“ als Gesamtwerk betrachten würde, oder versuchen würde, Lenins Schriften zu verstehen, wäre ihm das aufgefallen. So sagt zum Beispiel Lenin: „Wenn Marx auch keine ‚Logik’ hinterlassen hat, so hat er doch die Logik des Kapitals hinterlassen, das sollte für die zu behandelnde Frage weitestgehend ausgenützt werden. Im Kapital werden auf eine Wissenschaft Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie (man braucht keine drei Worte: das ist ein und dasselbe) des Materialismus angewendet, der alles Wertvolle von Hegel übernommen und dieses Wertvolle weiterentwickelt hat.“ („Plan der Dialektik [Logik] Hegels“). Die Dialektik des „Kapitals“ ergibt sich dadurch, dass Marx die wirtschaftlichen Prozesse des Kapitalismus in ihrer Widersprüchlichkeit und aus ihrer historischen Entwicklung heraus erklärt. Marx muss also gar keine „Hegelschen Schemata“ von außen auf den Prozess aufdrücken: Krisen und Revolutionen können ohne Dialektik gar nicht verstanden werden. Die Gesetze der Natur sind auch hier wirksam.

Zusammenfassend muss man die Unterscheidung zwischen Phänomen und Wesen als den Kernpunkt der Dialektik sowohl von Marx, als auch von Hegel, bezeichnen. Bringt man die Marxsche Auffassung vom kapitalistischen System in Althussersche Worte, so heißt das nichts anderes, als dass die Überbauphänomene den Grundwiderspruch über lange Zeit „überdeterminieren“ können, dass die „Überdetermination“ selbst aber unter gewissen Bedingungen - den Bedingungen einer Revolution - „überdeterminiert“ wird. Das heißt (in Hegelscher Sprache), dass das Wesen zum alles bestimmenden Faktor wird.
Genau diese Sichtweise aber ist nicht bloß die Hegelsche Form der Dialektik, sondern ihr eigentliches Wesen. Wer das - das Denken in Wesen und Phänomen - ablehnt, lehnt nicht nur eine Art der Dialektik ab, sondern ist Anti- DialektikerIn; hat mit der Dialektik gebrochen.

Die Form der Dialektik:

Nun zur Form der Dialektik: Man muss Althusser zugestehen, dass es sehr wohl einen Unterschied in der Form der Dialektik von Hegel und Marx gibt; es ist aber nicht der, den er konstruiert und durch seine versteckten Ablehnung des dialektischen Denkens sprichwörtlich das Kind mit dem Bade ausschüttet. Der wirkliche Unterschied in der Form, liegt darin, dass Hegel Idealist war. Für ihn ist das Sein und die Materie nur ein Reflex des Denkens, durch das diese bestimmt werden. Entscheidend ist für den großen deutschen Idealisten das Denken, der Weltgeist, der Natur und Geschichte schafft. Als Folge ist bei Hegel die Dialektik ein starres Bewegungsmuster (Denkmuster), das der Natur und der Geschichte künstlich aufgepfropft wird.

Marx (und Engels) weisen im Gegensatz dazu die wesentlichen dialektischen Zusammenhänge anhand von konkreten Beispielen aus Natur und Geschichte nach. Man denke nur an Engels Werk „Die Dialektik der Natur“, in dem er dialektische Gesetze am Beispiel der damaligen Entdeckungen in verschiedenen Wissensgebieten (Biologie, Anthropologie,…) erklärt. Für Marx und Engels geht es nicht um die „ewige Wanderung der Idee“, sondern die Dialektik, also die Bewegung durch innere Widersprüche, ist für sie eine Eigenschaft der Materie und der Gesellschaft selbst, die durch das menschliche Denken entdeckt werden muss, aber nicht der Realität aufgepfropft werden darf.

Bei Marx und Engels muss die Dialektik in der Natur und in der Gesellschaft jedes Mal aufs Neue und konkret nachgewiesen werden. Marx und Engels übernehmen zwar von Hegel das eine oder andere dialektische Bewegungsmuster oder Gesetz. Diese Bewegungsmuster und Gesetze existieren aber bei Hegel jedoch bereits so wie der Weltgeist schon vor der materiellen Welt.

Für MarxistInnen produziert die Bewegung von Materie und Gesellschaft dialektische Muster durch das Prinzip der Wechselwirkung, während bei Hegel das dialektische Muster als reines Denken und metaphysisches Prinzip die Bewegung der Materie und der Gesellschaft produziert. Deswegen kann es gar kein ausgearbeitetes, fertiges Buch der „marxistischen Logik“ geben, so wie Hegel seine „Logik“ hinterlassen hat, sondern die materialistische Dialektik kann nur anhand der Selbstbewegung der Wirklichkeit nachgewiesen werden, als „Logik des Kapitals“, als „Logik des Staates“, usw.

Der Versuch also, ein für allemal eine angeblich wissenschaftlichere, neue Form der Dialektik rein gedanklich zu konstruieren, so wie es Althusser tut, kann also gar nichts mit Marxismus zu tun haben.

Die „Überdeterminierung“ am Werk

Mit Überdertermination meint Althusser, dass der Hauptwiderspruch - oder wie MarxistInnen es ausdrücken würden - die wesentlichen Prozesse, die Entwicklungen vorantreiben, von Nebenwidersprüchen oder Überbauphänomenen überdeterminiert werden können. Das bedeutet, dass die Wirkung der Überbauphänomene die Wirkung des Wesens oder des Hauptwiderspruchs neutralisieren kann. Auch MarxistInnen erkennen an, dass Überbauphänomene auch über lange Zeitperioden die grundlegenden Widersprüche der Gesellschaft verdecken können Der vollständige Bruch von Althusser mit dem Marxismus und vor allem mit der marxistischen Dialektik kommt aber deshalb, weil Althusser der Meinung ist, dass die Überdetermination des Wesens durch die "Nebenwidersprüche" chronisch und permanent bleibt und sogar dann aufrechterhalten bleibt, wenn der Hauptwiderspruch an die Oberfläche tritt und die gesamte Gesellschaft in seinen Bann zieht. Für MarxistInnen sind die Nebenwidersprüche, die sich an der Oberfläche bilden ein Ausdruck des allumfassenden Hervortretens des Hauptwiderspruchs in allen Überbaufacetten der Gesellschaft. Die starre Einteilung der wesentlichen Prozesse und Überbauphänomene in komplett getrennte Haupt und Nebenwidersprüche, die er seinem strukturalistischen Denken gemäß auch nicht als Prozesse beschreibt, sondern als unbewegliche und streng getrennte "Strukturen", ist ein Ausdruck des rigiden Denkens von Althusser. Das Wesen ist bei Althusser ähnlich wie seine "letzte Instanz", ein nie an der Oberfläche sich zeigendes kantianisches "Ding an sich", das ähnlich wie die Götter der Griechen im Olymp hockt und bei aller Leidenschaftlichkeit keinen Einfluss auf die Angelegenheiten der Menschen nimmt.
Das konkrete Beispiel, das Althusser in „Widerspruch und Überdeterminierung““ für seine Theorie vorbringt, ist ein Vergleich zwischen der russischen Revolution 1917 und der deutschen Revolution 1918.

Althusser ist der Meinung, dass die Russische Revolution durch eine Ansammlung vieler verschiedener Widersprüche, die sich für ihn nicht aus dem „Grundwiderspruch“ herleiten, ermöglicht wurde. Woher diese Widersprüche aber dann kamen, erklärt er nicht, als Feind des Historismus braucht es ihn auch nicht zu interessieren. Im strukturalistischen Denken ist es sogar unzulässig, nach der Entwicklung, nach der Geschichte eines Phänomens zu fragen.

In Russland gab es also laut Althusser nicht nur den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, sondern noch zusätzlich eine Reihe anderer Faktoren (Landfrage, Monarchie…), die den Grundwiderspruch so „überdeterminierten“, dass eine erfolgreiche Revolution möglich war. Das bedeutet, dass schlussendlich nach Althusser die „Struktur“ des Überbaus über Sieg oder Niederlage einer Revolution entscheiden würde.

Zum Unglück von Althusser hängen alle Faktoren, die er anführt, mit dem "Hauptwiderspruch" Klassenkampf zusammen: Er führt zum Beispiel die Spaltung der herrschenden Klasse in Russland als einen der Gründe für den Sieg der Revolution an. Nur überlegt er sich wieder einmal nicht, woher diese Spaltung kam. Geschichtlich betrachtet, kann man sagen, dass eine Spaltung der herrschenden Klasse eigentlich jeder Revolution voranging. Diese ist aber kein reines Produkt des Überbaus, sondern wird durch eine generelle Unruhe im Land erzeugt, durch ein Ansteigen des Klassenkampfes. Die Herrschenden spüren, dass ihre Zeit zu Ende geht und die Differenzen unter ihnen brechen auf. Ein Teil der Herrschenden will zum Beispiel auf Diktatur und blanke Gewalt zur Unterdrückung von Bewegungen setzen, ein anderer wiederum glaubt, Massenaktivitäten nur durch einige pro forma Zugeständnisse verhindern zu können. Generell bildet sich ein Teil der herrschenden Klasse, der nur der regierenden Fraktion ihrer Klasse die Schuld an der ausweglosen Lage ihres Systems gibt. Genau das ist in Russland vor der Revolution passiert: Ein Teil der Oligarchie wollte durch eine Palastrevolution den Zaren stürzen, da es einen „fähigeren Mann“ brauche. Aber all das ist durch den ansteigenden Klassenkampf zu erklären und nicht durch eine besondere Eigenart des Überbaus in Russland, so wie das Althusser versucht.

Genauso lassen sich die anderen Faktoren erklären: Als erstes kann man sagen, dass ein wesentlicher Grund für das Zarenreich, trotz seiner Schwäche in den ersten Weltkrieg einzusteigen, der war, den rund um 1912 zunehmenden Klassenkampf der Arbeiter durch die Existenz eines „äußeren Feindes“ abzudrehen, was in den ersten Kriegsjahren auch funktioniert hat.

Die Landfrage wurde auch erst durch ein generelles Ansteigen des Klassenkampfes explosiv. Nicht nur 1917, sondern auch schon in der Revolution von 1905, waren die Kämpfe der armen Bauernschaft extrem angestiegen. Nachdem die Bourgeoisie in Russland den Kampf um die Landreform aus Angst vor der Revolution nicht führte, war es 1917 klar, dass die einzige Perspektive für die Bauern und Bäuerinnen die Führung durch die ArbeiterInnenklasse und deren Organisationen war. Erst im Sommer 1917 gab es entschiedene Bewegungen auf dem Land (Landbesetzungen, Vertreibung von GroßgrundbesitzerInnen, Brandlegungen…). Also zu einer Zeit, in der die Sowjets der ArbeiterInnen und Soldaten sich schon übers ganze Land ausgebreitet hatten.

Wir fassen Althussers Meinung noch einmal zusammen: Der wirtschaftliche Grundwiderspruch wird immer von Elementen des Überbaus „überdeterminiert“, d.h. zum Beispiel der Unterschied der Staatsform und andere Faktoren haben in Russland die Revolution ermöglicht, aber in Deutschland verhindert (siehe auch Teil zu ideologischen Staatsapparaten). Denkt man diese Position weiter, hinge der Verlauf der Geschichte ausschließlich von Überbauphänomenen ab, die bei Althusser eine komplett unabhängige Macht bekommen. Dabei übersieht er, dass sich der Grundwiderspruch plötzlich durch die Überbauphänomene Bahn brechen kann. Dass in Normalzeiten kapitalistische Ideologien vorherrschend sind, bedeutet (wie schon oben beschrieben) nicht, dass die bürgerliche Ideologie auf ewig eine Revolution verhindern könnte.

In Deutschland lag für Althusser die Lage 1918 vollkommen anders als in Russland. Er gibt zwar auch hier zu, dass der Sturm des "Hauptwiderspruches" Klassenkampf die gesamte Gesellschaft erfasste. Aber für Althusser wiesen im Gegensatz zu Russland verschiedene "Nebenwidersprüche" in eine Grundlegend andere Richtung, insbesondere die Stärke der Sozialdemokratie und die "neuen Mittelschichten" der ArbeiterInnenaristokratie.
Diese beiden "Nebenwidersprüche" hätten selbst während der gesamten revolutionären Phase 1918 –1923 den Hauptwiderspruch überdeterminiert.

Man könnte auf dieser Grundlage die Ansicht in folgende Gleichungen anschreiben:
Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit = kein revolutionärer Bruch, da dieser von Phänomenen des Überbaus überdeterminiert ist.
Also: Klassenwiderspruch + Sozialdemokratie + ArbeiterInnenaristokratie = kein revolutionärer Bruch.
Hingegen: Klassenwiderspruch + Zarismus (Spaltung der herrschenden Klasse) + Landfrage + Erster Weltkrieg + Bolschewiki = revolutionärer Bruch“.
In diesen Gleichungen haben laut Althussers Ansicht alle Faktoren, außer dem Klassenwiderspruch selbst, nichts mit diesem zu tun. Sie sind bei ihm die Elemente der „Überdetermination“ und Charakteristika des Überbaus.
Noch einmal zum Beweis, was für eine entscheidende Rolle in Althussers Ansicht die Überbauten spielen: Er sagt,

„dass der Widerspruch Kapital- Arbeit niemals einfach ist, sondern (…) immer durch die konkreten historischen Umstände spezifiziert ist, in denen er sich auswirkt. Spezifiziert durch die Formen des Überbaus, durch die äußere und innere historische Situation, die ihn ihrerseits als Funktion der nationalen Vergangenheit (…) determiniert und andererseits als Funktion des jeweiligen globalen Zusammenhangs“. (S.72)

Deswegen ist nach Althusser jeder Widerspruch „überdeterminiert“, entweder „im Sinn einer historischen Hemmung, einer echten Sperrung des Widerspruchs (Beispiel: das wilhelminische Deutschland) oder im Sinn eines revolutionären Bruchs (das Russland von 1917)“ (S.72/73)

Wir hingegen haben gezeigt, dass all diese Widersprüche die zum Erfolg der Revolution in Russland geführt haben, keinesfalls unabhängig vom Klassenwiderspruch entstehen konnten.

Auch in Deutschland hatte der Klassenkampf nach dem ersten Weltkrieg ein ungeheuer hohes Niveau erlangt. Der Klassenkampf zog auch in Deutschland den gesamten Überbau und alle Nebenwidersprüche in seinen Sog. Auch in Deutschland konnte die Sozialdemokratie nur die Macht erhalten, indem sie sich an die Spitze der revolutionären Rätebewegung stellte und sich "revolutionär" gebärdete. Die ArbeiterInnenaristokratie war durch den Krieg ins Proletariat hinabgestoßen worden. Eine riesenhafte Massenströmung, die unabhängige Sozialdemokratie Deutschlands spaltete sich von dieser ab und wandte sich in Richtung russische Revolution. Das war also nicht das Problem. Der entscheidende Unterschied, der über Sieg und Niederlage entschied, wird von Althusser gar nicht erklärt.
In diesen zwei Fällen lag der entscheidende Unterschied wirklich im subjektiven Faktor, darin, dass es in Russland 1917 Bolschewiki gab, die Massenverankerung erlangten und in Deutschland 1918 nicht. Der entscheidende Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg der Revolution lag hier tatsächlich nicht in einer unterschiedlichen Struktur des Kapitalismus oder des Überbaus in den beiden Ländern, sondern allein in dem „kleinen“ Fehler der MarxistInnen in Deutschland (Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg…), die reformistischen Abweichungen in der Sozialdemokratie zwar erkannt zu haben, aber nicht rechtzeitig eine marxistische Strömung in ihrer Partei aufgebaut zu haben. Das hat dazu geführt, dass nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die ungeheure Erfahrung der beiden für die entstehende KP verloren ging.

1922 und 1923 kam es durch die Hyperinflation zu einem völligen Einbruch Sozialdemokratie und der reformistischen Gewerkschaften. Alle Besserstellungen der Mittelschicht und der ArbeiterInnenaristokratie wurden durch die Inflation weggerafft. Die Masse der deutschen Bevölkerung strömte in Richtung Kommunistischer Partei, die inzwischen zu einer riesigen Massenpartei geworden ist. 1923 war es für die KPD möglich, die Macht zu übernehmen, das war die allgemeine Einschätzung der Führung der Kommunistischen Internationale. Beeinflusst von Stalin, der inzwischen die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ aufgestellt hat, verabsäumte es jedoch die rechtskommunistische Führung der KPD unter Brandler, zum Generalstreik aufzurufen und die ArbeiterInnen zu bewaffnen. Die revolutionäre Chance zog vorbei. Die Überdetermination der Revolution in Deutschland erfolgte also nicht durch starre "objektive Strukturen", sondern durch subjektive Fehler der revolutionären Führung.

MarxistInnen haben im Gegensatz zu Althusser keine mechanistische, deterministische Vorstellung, in der die Menschen bloße Werkzeuge objektiver Determinanten sind, ob diese nun objektive Strukturen und "Nebenwidersprüche" sind oder der "Hauptwiderspruch" des Klassenkampfes. Die Geschichte wird letztlich von Menschen gemacht und in den entscheidenden Wendepunkten der Geschichte kommt dem Individuum und der Führung der revolutionären Kräfte eine entscheidende Bedeutung zu. Dass war immer die Haltung, die Marx gegen Deterministinnen à la Feuerbach vertreten hat.

Nun muss man allerdings sagen, dass die Notwendigkeit einer revolutionären Partei sich aus dem Grundwiderspruch ergibt. Die revolutionäre Partei ist Ausdruck des allgemeinen Widerspruchs und durchaus nicht unabhängig von ihrer Umgebung. Der allgemeine Widerspruch zeigte sich zum Beispiel 1917 auch in einer Krise der Bolschewiki, in deren Führung reformistische Tendenzen an Anhang gewannen. Die siegreiche Revolution war erst möglich, nachdem sich in der Partei selbst die RevolutionärInnen durchgesetzt hatten. Genau dies gelang 1922/23 nicht in Deutschland.

Das heißt nicht, Überbauphänomene überdeterminieren den Klassenwiderspruch, sondern dieser führt selbst zu Überbauphänomenen (marxistische Theorie, subjektiver Faktor...), der allgemeine Widerspruch drückt sich so in relativ autonomen Überbauphänomenen aus, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Bruch mit der alten Ordnung, zur Überwindung des alten Überbaus (Zerstörung des alten Staats…) führen.

Hier zeigt sich auch schon das größte Problem, der wesentliche Unterschied zwischen Althusserscher Überdetermination und der Dialektik von Hegel und Marx: Ersterer betrachtet die Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau – im Gegensatz zu Hegel und Marx – nicht in ihrer Bewegung und Veränderung. Das bedeutet konkret, dass im Laufe der Geschichte der grundlegende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit lange Zeit unter der Oberfläche sein kann, d.h. im Bezug auf heute, dass es keine großen offenen Kämpfe gibt, aber sich mit jeder Konterreform und Einsparung auf Kosten der ArbeiterInnenklasse mehr und mehr Unmut unter der Oberfläche ansammelt. Dieser muss sich früher oder später offen Bahn brechen. Das passiert in revolutionären Bewegungen. Revolutionen sind allerdings Ausnahmen in der Geschichte und nicht mit den Maßstäben für Normalzeiten zu messen, in denen bürgerliche Ideologien in die ArbeiterInnenklasse eindringen oder, anders gesagt, die „ideologischen Staatsapparate“, in Althussers Worten, den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit „überdeterminieren“ können. Das Verhältnis verkehrt sich in einer Revolution in sein Gegenteil. In dem Moment, in dem die Massen nicht mehr gewillt sind, sich länger beherrschen und regieren zu lassen und auf die Straße gehen, um ihr eigenes Leben selbst in die Hand zu nehmen, nützt dem alten Regime die beste bürgerliche Ideologie nichts mehr. Es kommt in der Revolution zu einer qualitativen Veränderung im Bewusstsein der Massen. Ein lustiges Beispiel dafür ist die Bewegung gegen den Wahlbetrug in Mexiko im Sommer 2006. Dabei kam es zu Ausschimpfungen konterrevolutionärer Priester in vielen Kirchen. Plötzlich fanden sich einfache Leute, die den Pfarrern den Mund verbaten und selbst eine Predigt zur Verteidigung Lopez Obradors hielten. Und das alles in einem erzkatholischen Land! Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, dass, sobald es zu einer revolutionären oder vorrevolutionären Situation kommt, die alten auf den Erhalt der bürgerlichen Herrschaft gerichteten Ideologien plötzlich aufhören zu greifen.

Zusammenfassend: Alle Oberflächentendenzen sind Produkt der Produktionsweise und ihrer Widersprüche. Sie können über lange Zeit die Widersprüche der Produktionsweise überdeterminieren. Aber ab einem bestimmten Punkt bricht der allgemeine Widerspruch an die Oberfläche und zieht alles in seinen revolutionären Strudel und bringt damit die alte, verkrustete Überbaustruktur, poetisch formuliert, „zum Tanzen“.

Mit dem Beispiel Russland illustriert heißt das nichts anderes, als dass die Rückständigkeit Russlands (Landfrage, circa 80% BäuerInnen…) nicht von sich aus und immer zum Vorteil der sozialistischen Revolution waren. Die Oberflächenphänomene Zarismus, Großgrundbesitz, etc. bedeuteten noch 1880 Stabilität. Die Situation blieb aber nicht ewig gleich, sondern durch den Weltmarkt kam Unruhe ins System.

Der Kapitalismus kam zunächst in Form von ausländischem Handelkapital nach Russland, und später als Industrie- und Finanzkapital, das ins Land kam, ehe sich inländische Industrie hätte entwickeln können. Durch den Kapitalexport aus den imperialistischen Zentren kam es in einigen Regionen Russlands zu einer extremen Konzentration des neu entstandenen Proletariats, gleichzeitig wurde damit aber die Rückständigkeit Russlands einzementiert. Schließlich kommen Zarismus und Feudalismus in die Krise und Russland wird durch die Weltwirtschaft in den imperialistischen ersten Weltkrieg gerissen. Damit erst bekommt die Rückständigkeit revolutionäre Sprengkraft. Die Revolution siegt durch die zusätzliche Existenz einer revolutionären Partei, der Bolschewiki. Abschließend: Der Grundwiderspruch wurde nicht durch Überbauphänomene zu einer „Einheit des Bruchs“ ergänzt, sondern schwemmte die Phänomene des alten Überbaus in einer revolutionären Welle fort.

Nun zum anderen Beispiel von Deutschland 1918: Hier ist die SPD ein Phänomen der Stabilität, der Reformismus der Ausdruck der Ablehnung der ArbeiterInnenaristokratie gegenüber der Revolution. Allerdings wird deren Macht durch Krieg und Inflation zerstört. Es bilden sich Räte, die de facto das Land beherrschen. Der bürgerliche Staat ist handlungsunfähig, da sich die Armee in Hand von Soldatenräten befindet. Die Führung der Sozialdemokratie wird zur letzten Stütze des Kapitalismus. Doch im Hungerjahr 1923 gewinnt die junge KPD die Mehrheit in der ArbeiterInnenklasse, zögert aber im entscheidenden Moment und bläst den Generalstreik ab und ruft den Aufstand nicht aus (im Unterschied zu den Bolschewiki 1917). Mit dem Versagen des subjektiven Faktors bricht die „Einheit des Bruchs“ in sich zusammen. Die Möglichkeit einer siegreichen Revolution wurde nur durch das Versagen der jungen KPD vereitelt; prinzipiell aber bestand sie. Im Gegensatz dazu sieht Althusser aufgrund der „Überdetermination“ keine Möglichkeit einer Revolution.


Teil 3: Althussers Staatstheorie und sein Reformismus

…Die ideologischen Staatsapparate, oder: Hilfe!, wir sind „überdeterminiert“


Er erklärt, dass das Basis-Überbaumodell nicht ausreicht, um die Funktionsweise der Überbauten zu verstehen und setzt sich das Ziel, dieses Konzept zu überwinden beziehungsweise in seiner Ausdrucksweise „weiterzuentwickeln“. Was dabei am Schluss überbleibt, sind verschiedene „Strukturen“ des Überbaus, verschiedene Teile, die nicht mehr in einen Zusammenhang zum Ganzen gesetzt werden, beziehungsweise, wie wir schon vorher gesehen haben, die Basis von Überbauphänomenen „überdeterminiert“ wird.
Althussers Betrachtung der ideologischen Staatsapparate ist statisch, als Konsequenz aus seiner Überdeterminationstheorie, die den Überbau statisch und nicht in seiner Entwicklung und Veränderung sieht. Es ist klar, dass Institutionen des Überbaus wie Kirche, Schule, bürgerliche Medien, etc. eine ideologische Funktion haben. Die verschiedenen Institutionen des Überbaus sichern die Macht des Kapitals ab. RichterInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen, LehrerInnen, WissenschaftlerInnen, Pfaffen,.. stehen im Dienst der herrschenden Klasse. Von Geburt an wird einem über die „ideologischen Staatsapparate“ eingetrichtert, dass die Gesellschaft gut so ist, wie sie ist und alle Veränderungen nur ins Desaster führen. Es ist klar, dass der Kampf gegen die Bürgerlichen auch auf der Ebene von Philosophie und Ideologie geführt werden muss. Bei Althusser aber gewinnt die Ideologie eine unabhängige Macht. Er übersieht, dass die Macht der bürgerlichen Ideologie und der Kampf gegen sie außerdem einen begrenzten Charakter hat: Einerseits kann innerhalb des Kapitalismus der Kampf gegen Idealismus und bürgerliche Vorstellungen nicht gewonnen werden. Solange der Kapitalismus existiert, wird die Mehrheit der IdeologInnen immer – bewusst oder unbewusst - die Hand, die sie füttert, auf ideologischem Gebiet verteidigen. Andererseits ist, trotz der ideologischen Staatsapparate, eine siegreiche Revolution möglich. Die russische Revolution von 1917 siegte beispielsweise trotz der Macht der orthodoxen Kirche.

Im Text „Ideologie und Ideologische Staatsapparate“ geht es hauptsächlich um die Reproduktion des Kapitalismus, die klarerweise auch auf der Ebene der Ideologie funktioniert. Soweit, so gut! Nun aber kommt wieder des Pudels Kern, den wir ja aus der Literatur kennen. [Eine kleine Ironie der Geschichte – die ich nur am Rande bemerken will – ist, dass Goethes Faust ein tausendmal besseres Dialektikverständnis vermittelt als die philosophischen Schriften des werten Herrn Althusser.] Althusser gibt uns in der Schrift über die ideologischen Staatsapparate wieder einmal einen kleinen Einblick in seine Auffassung von Basis und Überbau:

„Wir haben gesagt, (…) daß Marx die Struktur jeder Gesellschaft begreift als konstituiert durch die verschiedenen „Ebenen“ oder „Instanzen“, die durch eine spezifische Determination einender zugeordnet (articulé) sind: die ökonomische Basis … und der Überbau, der selbst zwei „Ebenen“ oder „Instanzen“ umfasst: das Juristisch- Politische (das Recht und der Staat) und die Ideologie …“  („Ideologie und ideologische Staatsapparate“, Hamburg/ Westberlin: VSA; S.113)

Man sieht hier wieder einmal schön Althussers undialektische Auffassung: Es gibt mehrere „Ebenen“, „Instanzen“, die zusammen quasi eine „Struktur“ bilden. Dies hat nichts mehr mit einer marxistischen Auffassung von Basis und Überbau zu tun, in der alle Phänomene des Überbaus schlussendlich die Basis widerspiegeln. Die Sphäre der Ideologie hat ihre eigene, innere, widersprüchliche Dynamik, aber keine Ideologie kommt aus dem Nichts, in letzter Instanz ist die Ideologie das Produkt gewisser gesellschaftlicher Verhältnisse. Es gibt beispielsweise zwar heute noch ideologische Relikte aus früheren Klassengesellschaften in den Köpfen der Menschen (wie Religionen), jedoch hat deren Überleben über den Zeitpunkt ihrer Entstehung hinaus einen bestimmten Grund; den, dass der Kapitalismus die Menschen sich selbst entfremdet. In einer Gesellschaft, in der dem/der ArbeiterIn die eigenen Produkte auf dem Markt als fremde Macht gegenübertreten, ist es nicht besonders verwunderlich, dass manche Menschen an eine höhere Macht glauben. In einer Planwirtschaft wird die Religion überhaupt keine Notwendigkeit mehr haben, auch wenn viele Menschen kurzfristig weiterhin gläubig bleiben mögen. Früher oder später muss sich die Basis im Überbau durchsetzten. Und man könnte schon meinen, Althusser sehe das – trotz seiner eigenartig statischen Betrachtungsweise in „Instanzen“, usw. – auch so, wenn er eine Seite später schreibt:

„Die Metapher des Gebäudes hat also zum Ziel, vor allem die „Determination in letzter Instanz“ durch die ökonomische Basis zu zeigen."

Allerdings befriedigt uns dieses Bekenntnis nicht mehr, da wir mit Althussers „letzter Instanz“ bisher keine guten Erfahrungen gemacht haben. Wenn wir sie gebraucht haben, war sie leider nie da, da der „long run“ der "letzten Instanz" bei Althusser auf Grund der "Überdetermination" nicht eintritt.

Aber nun kommen wir zu den Ideologischen Staatsapparaten (Kirche, Schule, Medien, etc.). Althusser bemerkt richtig, dass „keine Klasse dauerhaft die Staatsmacht innehaben [kann], ohne gleichzeitig ihre Hegemonie über und in den Ideologischen Staatsapparaten auszuüben.“ (S.122)

Nun erfahren wir weiter, „warum die Ideologischen Staatsapparate nicht nur der Einsatz, sondern auch der Ort des Klassenkampfes und oft äußerst harter Formen des Klassenkampfes sind.“ … „weil der Widerstand der ausgebeuteten Klassen dort die Mittel und die Gelegenheit finden kann, sich Gehör zu verschaffen, entweder indem sie die dort existierenden Widersprüche nutzen oder indem sie sich Kampfpositionen erobern.“

Was das allerdings genau bedeutet, lässt Althusser offen, ebenso, wie es gelingen soll, innerhalb des Kapitalismus der herrschenden Klasse ihre Hegemonie in ihren Medien (diese sind entweder in Händen des bürgerlichen Staates und nur ausgesuchte Individuen schreiben dort oder sie sind im Privatbesitz kapitalistischer Monopole), in der Schule, und anderswo zu nehmen.
Laut Althussers Sicht ist die „beschreibende“ marxistische Staatstheorie richtig im Bezug auf die repressiven Staatsapparate. Die ideologischen Staatsapparate aber funktionieren hauptsächlich auf Grundlage der „Ideologie“, in ihnen ist es offensichtlich möglich, den bürgerlichen Staat quasi zu „unterwandern“ und zu einem Werkzeug der Ausgebeuteten zu machen. Nun ist hier das Problem erstens wieder eine von Veränderungen absehende Betrachtung von Basis und Überbau (siehe „Überdetermination“), und zweitens eine nur auf einem Lippenbekenntnis basierende Anerkennung der marxistischen Staatstheorie. Wir werden im Folgenden einzeln auf die Punkte eingehen:

Die marxistische Staatstheorie impliziert nicht nur, dass die Herrschenden niemals zögern werden, Gewalt einzusetzen, wenn ihr System gefährdet ist, sondern auch, dass der bürgerliche Staat, solange er intakt ist, zu allen Zeiten zu Gunsten der AusbeuterInnenklasse funktioniert.

Althusser führt die Trennung in ideologische und repressive Staatsapparate ein. Fakt ist aber, dass in Normalzeiten, in denen der Kapitalismus nicht direkt gefährdet ist, auch die repressiven Staatsapparate hauptsächlich durch Ideologie funktionieren. Wer denkt schon in nicht-revolutionären Zeiten daran, dass Polizei und Militär brutal gegen Demos und Streiks eingesetzt werden können. Diese repressiven Apparate werden ja erst geduldet, weil das Bild der Polizei als „Freund und Helfer“, der alte Leute über die Straße bringt und den Verkehr regelt und des Militärs als Retter in Naturkatastrophen vermittelt wird. Und natürlich gibt es einige „böse“ Menschen, die Verbrechen begehen, aber zum Glück von der Polizei verhaftet werden.

Um dieses Bild zu vermitteln sind die ideologischen Staatsapparate da. Ihre Hauptaufgabe ist, bürgerliche ideologische Hegemonie in der Gesellschaft herzustellen. Die Mehrheit der Bevölkerung muss für die Interessen von Kapital und Staat gewonnen werden und bürgerliche Interessen müssen durch kleinbürgerliche IdeologInnen in die Arbeiterklasse hineingetragen und hegemonial werden.

Beispiele für ideologische Staatsapparate sind Medien, Kirchen, Intellektuelle und Experten, die Uni und Bildungssystem, und politische Parteien beziehungsweise der damit verbundene Parlamentarismus generell. Das Hineintragen kleinbürgerlichen Bewusstseins in die ArbeiterInnenklasse funktioniert besonders gut durch ihre kleinbürgerlichen, reformistischen Führungen.

Die ideologischen Staatsapparate geben vor, die gesamte Bevölkerung zu vertreten und neutral zu sein. Das ist ihr ureigenster Sinn und Zweck. Nur dadurch, dass sie neutral scheinen, können sie die Interessen einer kleinen Minderheit zu den vorherrschenden machen.

Aufgrund der scheinbaren Neutralität der ideologischen Staatsapparate, geht Althusser davon aus, dass revolutionäre Kräfte in diesem Bereich eine Hegemonie gewinnen könnte. Althusser verwechselt hier den Schein der Neutralität mit wirklicher Neutralität und sieht die ideologischen Staatsapparate als neutrales, umkämpftes Terrain.

Das ist aber ein Trugschluss mit schlimmsten Konsequenzen für die Taktik:

Denn in letzter Instanz hat das Kapital auch in den ideologischen Staatsapparaten immer die Zügel in der Hand. Man denke nur zum Beispiel an die Rolle des Kartellverbands auf den Unis und die Besetzung akademischer Posten von oben nach unten. Das hat zur Folge, dass nicht-bürgerliche AufsteigerInnen im Universitätssystem integriert und aufgesogen werden.

Dasselbe gilt für Journalisten und freie Intellektuelle. Diese können nur das veröffentlichen, was von Verlagen und Medien erlaubt wird. Verlage und Medien aber sind in privater Hand. Außerdem gibt es generell den Mechanismus, einzelne kritische AufsteigerInnen ins System zu integrieren.

Die ideologischen Staatsapparate sind ebenso uneinnehmbar und unwandelbar wie die repressiven Staatsapparate. Es gibt keine Möglichkeit, revolutionäre MarxistInnen an die Spitze der Kirche, der Medien, und der NGOs zu bringen. Die Besetzung der autoritären Strukturen von oben nach unten, die Einbindung und Kontrolle durch das Kapital, können das verhindern. Selbst Künstler und Schriftsteller sind dem kapitalistischen Kunstmarkt und dem Verlagswesen unterworfen. Im staatlichen Bereich untersteht man einem Beamtenapparat, der im Bildungswesen, Kulturbetrieb und Wissenschaftsbetrieb im Wesentlichen nicht weniger hierarchisch ist als das Kriegsministerium, das Innenministerium und das Außenamt. Die Leinen werden etwas lockerer in der Hand gehalten, sie befinden sich aber letztlich auch unter der Kontrolle nicht wählbarer Organe. Der bürgerliche Staat und das Kapital haben im Laufe ihrer Geschichte genügend Mechanismen entwickelt, die verhindern, dass revolutionäre MarxistInnen die ideologischen Staatsapparate besetzen könnten: Ein autoritäres Medienmonopol, eine hierarchische Uni, etc. Die ideologischen Staatsapparate verändern sich höchstens als Nebenprodukt entschiedener Klassenkämpfe, dann ist das Entscheidende aber der reale Klassenkampf, nicht, dass durch ihn einigen Linken eine Karriere im bürgerlichen Staat ermöglicht wird, was eher Nebenprodukt als Motor der Entwicklung ist. Wenn Linke in die ideologischen Staatsapparate eindringen, dann müssen sie im Sinne des "akademischen Kodex" ihre revolutionäre Perspektive aufgeben. Sie haben in der Realität dann oft eine Feigenblattfunktion, die den jeweiligen Apparat dazu dient, den Schein der Neutralität und der Objektivität zu wahren.

Die ideologischen Staatsapparate funktionieren völlig undemokratisch. Zwischen Lehrerbeamtenapparat und Armeebeamtenapparat ist so gesehen überhaupt kein Unterschied. Beide sind hierarchisch und eine demokratisch gewählte Regierung kann ihre Spitzen nicht austauschen. Es ist unmöglich, diese undemokratischen Apparate überhaupt der unterdrückten Klasse dienstbar zu machen. Der sozialistische Staat, den wir anstreben, ist ein demokratischer Rätestaat und kein hierarchischer Apparat wie der kapitalistische Staat. Nur durch eine Wählbarkeit aller Apparate von unten nach oben kann es ein wahrhaft neutrales, umkämpftes Terrain geben, in dem der Bessere sich durchsetzten kann.

Der Teil der ideologischen Staatsapparate, der durch die ArbeiterInnenklasse verändert und erobert werden kann sind die Arbeiterorganisationen, die Gewerkschaften und reformistischen Parteien. Aber auch diese lassen sich nicht von EinzelkämpferInnen verändern, denn diese werden früher oder später anstatt die Apparate zu verändern selbst verändert werden, in der Alltagsarbeit dieser Apparate untergehen und ihr revolutionäres Bewusstsein verlieren. Meist ist das individuelle Eindringen in den Apparat dieser Organisationen nur durch eine Preisgabe der revolutionären Perspektive und der unabhängigen Politik möglich.

Der Apparat der reformistischen Massenorganisationen wird sich nur als Folge einer starken und organisierten linken Strömung in Kombination mit einem Linksruck in der Basis dieser Organisationen wirklich verändern lassen. Man muss eine organisierte Linke schaffen, die ArbeiterInnen und Jugendliche im Klassenkampf organisieren kann. Ausgehend von einer solchen starken Klassenkampforganisation können dann Positionen im Apparat besetzt werden, die aber unter der kompletten demokratischen Kontrolle der Basis stehen müssen.
Was auch im Apparat der Massenparteien unmöglich ist, ist eine individuelle „Unterwanderung“, oder eine Unterwanderung ohne einhergehende Demokratisierung, denn in diesem Fall werden "linke" AufsteigerInnen gnadenlos integriert und dem Apparat dienstbar gemacht.

Die Rückeroberung der Apparate der Arbeiterorganisationen durch die Basis, kann also nicht in einer personellen Veränderung funktionieren, sondern muss mit einer Revolutionierung, einer radikalen Demokratisierung des Apparats, einhergehen.

Die ideologischen Staatsapparate sind im Kern genauso unwandelbar wie die repressiven. Der ganze bürgerliche Staatsapparat funktioniert unabhängig von und neben der Regierung.
Die übergroße Mehrheit aller Menschen, die in die höchsten Schichten des Staates eingebunden sind, wird man NIE für den Sozialismus gewinnen können. Ebenso wenig ihre Posten mit SozialistInnen besetzen. Kurzum: Solange der Kapitalismus fest im Sattel sitzt, kann man die ideologische Hegemonie nicht gewinnen.

Hier kommen wir zum zweiten Punkt: In dem Fall, dass der Kapitalismus ernsthaft in Gefahr ist, greifen die ideologischen Staatsapparate nicht mehr, sie können, wenn sich das Bewusstsein der Massen ändert, fast von heute auf morgen ihre Macht verlieren. Dann allerdings ist die Repression die letzte Stütze der Bürgerlichen.

Genau das, was Althusser der marxistischen Konzeption vom Staat vorwirft, tut er selbst. Er ist beschreibend und bleibt an der Oberfläche, an den Phänomenen, hängen. Er verwechselt die empirisch oft beobachtbare scheinbare Unabhängigkeit der ideologischen Staatsapparate vom Kapital mit ihrer wirklichen Unabhängigkeit. Er billigt zwar der marxistischen Theorie des Staates in gewissen Fällen die („beschreibende“) Richtigkeit zu, aber das wäre dasselbe, als ob man der marxistischen Kapitalismusanalyse nur in Krisenzeiten oder Revolutionen eine („beschreibende“) Richtigkeit eingestehen würde. Durch Althussers Weigerung die Dialektik von Basis und Überbau in ihrer Entwicklung zu sehen, bleibt er beim Phänomen der ideologischen Staatsapparate hängen und geht damit rein empirisch vor, obwohl er in duzenden Schriften brav hinunter betet, dass der Marxismus Anti-Empirismus ist.

Als Beispiel dafür, dass die ideologischen Staatsapparate „vielfältig, unterschieden“, „relativ autonom“ und in der Lage, ein objektives Feld für Widersprüche zu liefern, in denen sich in mal begrenzten, mal extremen Formen die Auswirkungen der Zusammenstöße zwischen dem kapitalistischen Klassenkampf und dem proletarischen Klassenkampf sowie ihrer untergeordneten Formen ausdrücken“, sprich, dass man um sie beziehungsweise in ihnen kämpfen kann, führt Althusser das Beispiel der „Ereignisse des Mai 1968“ an, die „in Form der Revolte einen unmittelbaren Klassenkampf in den Ideologischen Staatsapparaten deutlich gemacht haben“. Nur dumm, dass es sich bei den „Ereignisse des Mai 1968“ um eine waschechte vor-revolutionäre Situation handelte, in der nur eine bolschewistische Strömung mit Massenwirksamkeit fehlte, um zu einer siegreichen Revolution zu werden. Wir sehen uns das Beispiel genauer an: Wie alles in der Welt, unterliegt auch die Entwicklung des Bewusstseins der Massen einer dialektischen Entwicklung: In Normalzeiten greift die ArbeiterInnenklasse nicht aktiv in die Geschichte ein. Revolutionen sind seltene Ausnahmen in der Geschichte. Das Bewusstsein hinkt im Normalfall der Realität hinterher. Durch große Schocks (Bsp. Kriege) kann es aber von heute auf morgen aufholen und sich der Realität anpassen. Der während der ganzen Zeit vorher unter der Oberfläche angesammelte Unmut kann plötzlich zum Ausbruch kommen. So wie beim Erhitzen von Wasser bis zu knapp unter 100°C nicht viel passiert. Erreicht das Wasser aber dann die 100°C hört es auf, flüssig zu sein und verdampft. Viele quantitative Veränderungen (der Temperatur) führen als zu einer qualitativen (Wasser hört auf Wasser zu sein).

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Franzose Althusser seine Theorie der „ideologischen Staatsapparate“ nur einige Jahre nach dem Mai 1968 entwickelte. Dieser hat nämlich gezeigt, dass eine Revolution in einer hoch entwickelten Industriegesellschaft, in der die Bourgeoisie ihre „ideologischen Staatsapparate“ bis zur Perfektion entwickelt hat, möglich ist. Im Mai 1968 besetzten Millionen ArbeiterInnen instinktiv die Betreibe und ließen damit die Grundfesten des kapitalistischen Systems erzittern. Ohne die Führung einer revolutionären Partei reichte allein das Selbstbewusstsein der Klasse, um die Herrschaft der Bourgeoisie in Frage zu stellen. An vielen verschiedenen Orten entstanden während des Generalstreiks lokale Komitees, die den Kampf organisierten. SchauspielerInnen besetzten Theater, OpernsängerInnen verlangten mehr Mitsprache bei der Zusammenstallung ihres Programms. Die Angestellten vieler Medien streikten ebenfalls. Zum Beispiel durften die wichtigsten Zeitungen nur erscheinen, wenn ihre Berichterstattung den JournalistInnen und DruckerInnen zusagte. Präsident De Gaulle konnte von seinem Staatsbesuch in Deutschland aus nicht nach Frankreich telefonieren, da ihm von den Streikenden die Telefonverbindung verweigert wurde. Und König Hussein von Jordanien konnte in ganz Paris kein Hotelzimmer finden. Man sieht, dass durch die Macht der ArbeiterInnenklasse die ideologischen Staatsapparate lahm gelegt und große Teile der Mittelschichten (KünstlerInnen, JournalistInnen, TechnikerInnen, StatistikerInnen) von der Bewegung mitgerissen wurden.
Althusser übergeht diese Erfahrung geflissentlich. Als führender Theoretiker der KP hätte er sich mit allem anderen auch schwer getan, hat doch seine Partei die Bewegung verraten.

Zusammenfassend lässt sich Althussers Staatstheorie als ein Versuch, einen neuen Reformismus zu schaffen, bewerten. Die Leninsche Staatstheorie wird zwar nicht explizit abgelehnt, da ja die marxistische Theorie als „beschreibende“ Theorie für die repressiven Staatsapparate richtig sei, dies gelte aber nicht für die ideologischen Staatsapparate, die eine Art „umkämpftes Terrain“ seien und in denen die ArbeiterInnenbewegung ihren Einfluss immer mehr ausbauen müsse. Im Bezug auf die Taktik heißt das Folgendes: Die repressiven Staatsapparate kann man nicht „unterwandern“, gegen sie ist die bolschewistische Taktik korrekt. Gleichzeitig gibt es aber die ideologischen Staatsapparate, für die eine reformistische Taktik, d.h. ein schrittweises Einflussgewinnen, passend ist. Da man mit einem nicht-dialektischen Zugang zu dem Schluss kommen muss, dass die ideologischen Staatsapparate in ihrer jetzigen, modernen Form den kapitalistischen Grundwiderspruch „überdeterminieren“, werden diese das Hauptschlachtfeld und somit eine reformistische Herangehensweise gerechtfertigt.

Wie genau die Arbeit in den ideologischen Staatsapparaten jedoch aussehen soll, lässt Althusser offen. Einer seiner ideologischen Nachfolger, Nicos Poulantzas, findet da hingegen eine deutliche Sprache: Der Staat darf laut ihm „nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden […], sondern […] als ein Verhältnis, genauer gesagt, als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt“ (zitiert nach Faktor 04/ 06). Der Staat wird als „umkämpftes Terrain“ betrachtet. Immer größere Bereiche des bürgerlichen Staates sollen von der ArbeiterInnenbewegung vereinnahmt und benutzt, der bürgerliche Staat zu einem sozialistischen transformiert werden. Poulantzas verwirft die marxistische Staatstheorie, indem er sich gegen die Forderung der Zerschlagung des bürgerlichen Staates in der Revolution richtet. Er argumentiert, dass durch die „Zerschlagung“ ja auch Sozialstaat, demokratische Rechte, etc. zerstört würden. Nun ist das allerdings mehr als weit hergeholt, da ja eine Zerschlagung des bürgerlichen Staates nur möglich ist, wenn sich schon eine parallele Staatlichkeit in Form von Räten herausgebildet hat. Und in einer demokratischen Planwirtschaft bracht man sich ja wohl keine Sorgen ums Überleben und um seine Rechte zu machen. Außerdem haben wir ja bereits gesehen, dass im Moment der Revolution der alte Staat keineswegs eine positive Rolle spielt. Sofern es das Kräfteverhältnis erlaubt, wird die Bourgeoisie die Revolution in Blut ertränken und die „demokratischen Einrichtungen“ des bürgerlichen Staates sind nicht mehr einen Pfifferling wert. In einer revolutionären Situation würden die Theorien von Althusser und Poulantzas ihren wahren, reformistischen Charakter sofort zeigen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Führung kommender Revolutionen nicht in die Hände von AnhängerInnen von Althusser und Poulantzas fällt. Sie würden die Bewegung ins Desaster führen, so wie alle reformistischen sozialdemokratischen Führungen vor ihnen.

Antihistorismus…

Historismus ist in der Philosophie gleichbedeutend mit der Ansicht, dass alle Phänomene nur durch ihre Geschichte erklärbar sind.

Somit ist Historismus eigentlich die Essenz des Marxismus. Den Historismus ablehnen bedeutet, die Dialektik ablehnen und ist somit offener Anti-Marxismus.

Aber hören wir mal Althusser zu:

„Ich möchte vorausschicken, dass der Marxismus theoretisch gesehen weder ein Historizismus, noch ein Humanismus ist (…) dass der Marxismus aber kraft seines einzigartigen wissenschaftstheoretischen Bruchs theoretisch gesprochen ein Antihumanismus und Antihistorizismus ist.“  (LA: „Das Kapital lesen“, Bd. II, S. 242; Stellen, die im Original kursiv gedruckt sind, sind hier unterstrichen, zitiert nach a. Schaff: „Strukturalismus und Marxismus“ s. 161)

„Der grundlegende Vorwurf, den Marx – vom „Elend der Philosophie“ bis hin zum “Kapital“ - der gesamten klassischen Ökonomie macht, besteht darin, dass die klassische Ökonomie von den ökonomischen Kategorien des Kapitalismus eine ahistorische, fixe und abstrakte Konzeption habe(…)
Diese Kritik ist – wie wir sehen werden- noch nicht das letzte Wort der wirklichen Kritik, die Marx an der klassischen Ökonomie übt. Sie bleibt hier oberflächlich und ungenau, seine wirkliche Kritik ist unendlich tiefgehender. Aber es ist zweifellos kein Zufall, wenn Marx mit seiner ausdrücklichen Kritik oft auf halbem Wege seiner wirklichen Kritik stehen geblieben ist und seine Differenzen zur klassischen Ökonomie allein auf die Ungeschichtlichkeit ihrer Kategorien bezieht (…)
Wir befinden uns hier an einem der strategisch wichtigen Punkte des Marxistischen Denkens, ich würde sogar sagen am strategischen Punkt Nr.1, da wo die Unabgeschlossenheit der theoretischen Selbsteinschätzung von Marx zu schweren Missverständnissen geführt hat (…) vor allem bei seinen Anhängern. Man kann alle Missverständnisse um dieses eine zentrale Missverständnis herum gruppieren, das die theoretische Beziehung des Marxismus zur Geschichte, den angeblich radikalen Historizismus des Marxismus betrifft.“ (LA „Für Marx“, S. 176, Schaff, S. 151)

Laut Althusser hat offenbar Marx sein eigenes Werk nicht durchschaut und deswegen den Historismus (oder Historizismus) bejaht. Nun war diese Betonung der Geschichtlichkeit kein vorübergehender Ausrutscher der Klassiker, sondern sie zieht sich durch das gesamte Werk von Marx, Engels und allen MarxistInnen nach ihnen, wie ja Althusser selbst in seiner auf einem absurden Widerspruch aufbauenden (er widerspricht sich ganz einfach selbst!) Ausführung auch zugibt. Worauf beruht aber das Problem? Wieso kann man die Vergänglichkeit des Bestehenden und damit auch die beschränkte Gültigkeit gesellschaftswissenschaftlicher Begriffe nicht akzeptieren? Wenn man als DialektikerIn von Bewegung als Grundeigenschaft jeder Materie ausgeht, wird das doch kein Problem darstellen. Es ist wohl überflüssig, Zitate zur Untermauerung des historischen Charakters der Kategorien des Marxismus anzuführen, man braucht nur ein X- beliebiges Werk der Klassiker aufzuschlagen und ein paar Seiten zu lesen und man wird sich selbst ein Bild machen können. Ein Zitat, dass sicher auch Althusser kennt, kann sich die Autorin aber nicht verkneifen, da es schön den Zusammenhang zwischen der Dialektik der Natur und der Dialektik des Denkens zeigt:

„Noch weniger hat Herr Proudhon begriffen, dass die Menschen, die entsprechend ihrer materiellen Produktivität die gesellschaftlichen Beziehungen produzieren, auch die Ideen, die Kategorien, d.h. den abstrakten, ideellen Ausdruck eben dieser gesellschaftlichen Beziehungen produzieren. Die Kategorien sind also genauso wenig ewig wie die Beziehungen, die sie ausdrücken. Sie sind historische, und vorübergehende Produkte.“ (siehe „das Elend der Philosophie“)

Dass die Begründer des Marxismus die Geschichte nicht verleugnen, ist klar; dass Althusser etwas anderes unter Historismus versteht als die Klassiker, leuchtet ebenso ein. Was aber? Aus der Lektüre Althussers wird klar, dass die bei ihm immer vorhandene Tendenz, eine platte Form des Strukturalismus, die die Bewegung ignoriert, auch in seine Ablehnung des Historismus hineinspielt. In welchem Sinne aber der Begriff „Historismus“ genau verwendet wird, bleibt unklar. Die einzige Erklärung, die die Autorin dazu gefunden hat, ist ein von Adam Schaff in seinem Buch „Strukturalismus und Marxismus“ (auf Seite 160) angeführtes Zitat von Raymond Aron, dass sich auf den „Anti- Historismus“ Althussers bezieht:

„Diese Theorie wäre, wenn man den Anhängern Althussers Glauben schenken wollte, noch innerhalb der Hegel’ schen Problematik situiert, und müßte unvermeidlich zu einem Historismus führen, der das absolute Wissen impliziert oder die Rückkehr des Menschen zu sich selbst als Endprodukt des Werdens.“

Das lässt vermuten, dass Althusser den Historismus mit der Hegelschen „Wanderung der absoluten Idee“ in Verbindung setzt. Wenn das das Problem ist, hätte Althusser dies deutlich sagen sollen, um Missverständnisse zu vermeiden. Ich selbst werde diese Frage hier nicht weiter verfolgen, da ich mich als Leserin nicht zur Entschlüsselung tief liegender (Hegelscher) Traumata des Autors qualifiziert sehe.

Wenn wir Althusser nicht für dumm halten - was wir nicht tun - müssen wir zu dem Schluss kommen, dass er selbst nicht glauben kann, dass die Idee, dass der Inhalt der Begriffe (zum Beispiel der Ökonomie) sich mit der Realität die sie bezeichnen ändert, einen automatisch zur Hegelschen „Wanderung der absoluten Idee“ führt; vor allem nicht, da ja die Ansicht, dass sich das Denken mit der die denkenden Menschen umgebenden Welt ändert, ja, ein Grundpfeiler jedes Materialismus ist, während die Hegelsche „absolute Idee“ als bestimmender Faktor Idealismus in Reinstform darstellt.

Was also will Althusser dann? Unserer Meinung nach will er sich unbemerkt – wie schon oben gesehen- von der Dialektik, von der Bewegung und damit von der Geschichte verabschieden. Er stellt wie die schlimmsten StrukturalistInnen Struktur vor Dynamik:

„wir begreifen, dass man die Reihenfolge der Reflexionen umkehren und zuerst die spezifische Struktur der Totalität selbst denken muß, um sowohl die Form der Koexistenz ihrer Glieder und konstitutiven Beziehungen als auch die Struktur der Geschichte selbst erfassen zu können.“ (L. A.: „Der Gegenstand des Kapital“, Bd. I, s. 128, zitiert nach Adam Schaff)

Nicht die sozialen Strukturen werden aus der geschichtlichen Entwicklung erklärt wie bei Marx, sondern die Geschichte wird als Summe der Strukturen aufgefasst, die in Wirklichkeit keinen inneren geschichtlichen Entwicklungszusammenhang aufweisen. Darin besteht der Antihistorismus von Althusser, der nicht nur ein Antihegelianismus, sondern auch ein Antimarxismus ist.

Hier haben wir wieder einmal einen deutlichen Beweis, dass Althusser mit der marxistischen Denkweise nichts am Hut hat, obwohl er, wie immer, die oben beschriebene strukturalistische Position Marx zuschreibt. Für Althussers Denkweise ist genau das Denken in Strukturen, die sich gegenseitig beeinflussen, charakteristisch. Das gleiche Problem stellt sich immer wieder. In der Staatstheorie zum Beispiel verdreht er die Vorstellung von Basis und Überbau in ein fixes System von sich gegenseitig beeinflussenden Instanzen, anstatt ihr Verhältnis in Bewegung und Veränderung zu betrachten (siehe Kapitel über Strukturalismus und Kapitel über Althussers Staatstheorie). Oft ist aber sogar die "sich gegenseitige Beeinflussung der Instanzen" ein Lippenbekenntnis, da zum Beispiel bei Althusser die ideologischen Staatsapparate völlig losgelöst vom Verhältnis Kapital- Staat verstanden werden.

Diese Denkweise kann man nur als einen kompletten Bruch mit dem Marxismus werten, als den Versuch, Marx eine antimarxistische Denkweise unterzuschieben und sich auf diesem Weg der „lästigen“ Dialektik zu entledigen. Das ist der Zweck von Althussers Anti- Historismus genauso wie es der Zweck seiner „Überdetermination“ ist.

Wir wollen noch ein Zitat zum Abschluss bringen, dass wir aus vollstem Herzen unterstützen. Ohne glühende AnhängerInnen Sartres zu sein, dessen Theorien Althusser zum Teil zu Recht kritisiert, müssen wir sagen, dass dieser das Problem mit dem Strukturalismus in dessen „Ablehnung der Geschichte“ richtig identifiziert hat:
„Der Verzicht auf den Marxismus wäre nichts anderes als der Verzicht auf das Verständnis des Übergangs. Nun denke ich aber, dass wir uns fortwährend in einem Zustand des Übergangs befinden, … ich kann also nicht verstehen, dass man bei Strukturen stehen bleibt, das ist für mich ein logischer Skandal …... unter dem Deckmantel der Geschichte zielt dieser Angriff selbstverständlich gegen den Marxismus. Es geht darum eine neue Ideologie zu konstituieren, das letzte Bollwerk, das die Bourgeoisie noch gegen Marx errichten kann. … Indem man darauf verzichtet, die Übergänge zu begründen, stellt man der Geschichte, der Domäne der Unsicherheit, die Analyse der Strukturen entgegen, die einzig und allein die wahre wissenschaftliche Forschung ermöglichen soll.“ (zit. nach Adam Schaff, S. 171).

Eine neue Philosophie?...

Louis Althusser gilt heute als einer der wichtigsten Vertreter des Strukturalismus, den er mit der Marxistischen Philosophie zu vereinigen versuchte. Er konstruiert einen komplett ahistorischen Marxismus, frei von wirklicher Dialektik und der lästigen Aufgabe der Theorie sich in der Praxis zu bestätigen. Stattdessen will er eine „Wissenschaft“, die sich in der „theoretischen Praxis“ (mehrfach in: L.A: Über die materialistische Dialektik) bestätigt. Er verneint ausgehend von Marx’ Kritik am Empirismus den positiven Gehalt empirischen Wissens vollständig, da ja die „Essenz“ der Dinge nicht in ihrer Erscheinung, sondern eben in der „theoretischen Praxis“ zu finden sei. Eine berechtigte Kritik des „Ökonomismus“ vorschiebend, die er mit massenweise Leninzitaten untermauert, bekommt bei ihm schließlich der Überbau eine extreme Macht, unabhängig von der Basis und ohne in einem Verhältnis zu ihr zu stehen oder - wie schon oben gesehen – in einem unveränderlichen Verhältnis zu ihr stehend. Damit ihm aber niemand einen Bruch mit dem Marxismus vorwerfen kann, beeilt er sich, immer wieder zu wiederholen, dass „in letzter Instanz die Ökonomie“ entscheidend sei. Er lässt diese Erkenntnis leider nicht in seine Theorie einfließen! Dass es sich bei der „Determination in letzter Instanz“ nur um ein Lippenbekenntnis handelt, gesteht er an mehreren Stellen sogar selbst ein. So schreibt er etwa in „Widerspruch und Überdeterminierung“ auf Seite 81:

„Man muß dann bis zum Ende gehen und sagen, dass die Überdeterminierung (…) universal ist, dass die ökonomische Dialektik nie im reinen Zustand sich geltend macht, dass man in der Geschichte nie sieht, dass die Instanzen, die Überbauten etc. sich respektvoll zurückziehen, wenn sie ihr Werk vollbracht haben oder sich auflösen wie ihre reine Erscheinung, um auf dem königlichen Weg der Dialektik ihre Majestät die Ökonomie voranschreiten zu lassen, weil die Zeit gekommen wäre. Die einsame Stunde der „letzten Instanz“ schlägt nie, weder im ersten, noch im letzten Augenblick.“

Also waren alle Versprechen, dass die ökonomische Basis „in letzter Instanz bestimmend“ sei, nur ein Lippenbekenntnis und Althusser hat sich eigentlich bereits von dieser Ansicht verabschiedet, die er so verspottet!

Er konstruiert einen „Marxismus“ der unbefleckten „theoretischen Praxis“. Dies sieht man sogar in einer Spätschrift (L.A.: „Ist es einfach in der Philosophie Marxist zu sein?“), die generell etwas reumütig anmutet. Er meint, seine früheren Positionen etwas überspitzt formuliert zu haben, was aber in Opposition gegen andere Theorien nötig gewesen wäre:
„Ich habe zum Beispiel vertreten und geschrieben, dass „die Theorie eine Praxis“ ist und die Kategorie der theoretischen Praxis hervorgebracht hat, was manchen Leuten äußerst skandalös erschien. Dabei muss man die These, so wie jede These, in ihren Abgrenzungseffekten betrachten, d.h. als Position in der Opposition. Sie hat zunächst zur Folge, dass […[ die These von der relativen Autonomie der Praxis ermöglicht wurde, also das Recht für die marxistische Theorie, nicht mehr als Mädchen- für- alles der politischen Tagesentscheidungen behandelt zu werden, sondern sich zu entwickeln.“

Er gibt (zeitweise) die Gültigkeit einzelner Gesetze der Dialektik zu, jedoch sind sie für ihn eigentlich nur für die Theorie - als Gesetze des Denkens - von Interesse. Er greift einzelne Teile des Marxismus und einzelne Zitate von marxistischen Klassikern heraus, ohne sie in ihrem Gesamtzusammenhang zu betrachten. So schreibt er beispielsweise in derselben Spätschrift:

„Ich meine in der Tat, dass die Frage der marxistischen Dialektik nur gestellt werden kann unter der Bedingung, dass man die Dialektik dem Primat des Materialismus unterwirft und untersucht, welche Formen sie annehmen muß, um die Dialektik dieses Materialismus zu sein.“

Also auch hier wird – wenn auch die marxistische Dialektik weit weniger aggressiv angegriffen wird als in „Widerspruch und Überdeterminierung“ - kein Abstand von der These genommen, dass eine „marxistische“ Dialektik eine grundlegend andere Form als die Hegelsche hätte, d.h. „überdeterminiert“ ist.

Laut Althusser könnte einem nur „symptomatisches Lesen“ der Marxschen Werke zu einem Verständnis des Marxismus verhelfen. Hier offenbart sich wieder einmal, dass es ihm nicht darum geht, das Marxsche Werk als gesamtes verständlich zu machen und, dass seine „Weiterentwicklung des Marxismus“ eine komplette Revision ist, die sich nur im „marxistischen“ Kleid versteckt. Es ist immer notwendig, die Teile eines Ganzen nicht nur als Teile (einzelne „Strukturen“) zu betrachten, sondern im Verhältnis zum Ganzen zu erforschen. Es reicht nicht, einfach einzelne Teile zusammenzuzählen um ein Ganzes zu bekommen, denn „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Das Betrachten von Einzelteilen – Besonderheiten – macht nur im Zusammenhang mit dem Ganzen – dem Allgemeinen – Sinn. Daher ist eine „symptomatische Leseart“ des Marxismus, die seitenlang über die Bedeutung einzelner Wörter oder Sätze von Marx sinniert, gänzlich unbrauchbar.

Der historische Hintergrund

Revisionismus (eine Abänderung des Marxismus) muss immer an etwas anknüpfen. Selbst Bernstein hat an Marx angeknüpft. Althusser profitiert von der Verdrehung und Kastrierung des Marxismus durch die Bürokratien der stalinistischen Länder und Parteien, die das dialektische Denken zu einer starren Struktur, einem ewig gültigen Dogma erhoben haben, um jeden Schwenk der sowjetischen oder chinesischen Bürokratie zu rechtfertigen.
Im Frankreich der Nachkriegszeit war es für linke Intellektuelle quasi ein Muss, in der KP zu sein oder in einem Naheverhältnis zu ihr zu stehen. Und so begann Althusser seine Revision des Marxismus - wie viele andere - von innerhalb der KP.

Die Funktion, die eine Theorie in der (Ideen-) Geschichte hat, muss nicht in der Intention des Theoretikers oder der Theoretikerin von dem/der sie stammt, liegen. Sie muss ihnen nicht einmal bewusst sein! Es mag also sein, dass Althusser ein ehrlicher Sozialist gewesen ist (dagegen spricht allerdings seine absolute Ignoranz für die revolutionäre Situation, die sich 1968 direkt vor seinen Augen entwickelte). Fakt ist, dass seine Lehre eine ganz und gar nicht fortschrittliche Rolle gespielt hat. Mit seiner Betonung der Wichtigkeit der „Strukturen“ in der Entwicklung der Gesellschaft hat er viel Spielraum für Argumentationen gegen die marxistische Ansicht, dass die Entwicklung der Produktivkräfte zentral für die soziale und politische Entwicklung ist, gelassen. Mit seinen Angriffen auf den „Hegel’schen Mystizismus“ greift er hinterrücks und ohne es zuzugeben das Herz des Marxismus an, nämlich die materialistische Dialektik. Damit hat er zumindest einer Generation von StudentInnen das Hirn zermartert und den Kopf verdreht. Er persönlich suchte gegen Ende seines Lebens um eine Audienz beim Papst an, die er 1979 auch bekam. So weit kann nämlich eine Ablehnung des „Hegel’ schen Einflusses“ auf Marx führen. Mit seinem Konstrukt aus fixen Strukturen und einer starren und fix vorgegeben Art des Widerspruches (Haupt- und Nebenwiderspruch, eine Determinante…) hat er den Geist der Dialektik abgelehnt. Wenn man im folgenden Zitat aus Trotzkis Werk „In Verteidigung des Marxismus“ das Wort „Syllogismus“ durch „starres ‚Dialektik’-Konzept“ (oder „Überdetermination“) ersetzt, erhält man den Kern des Problems:
“If you consider the syllogism is immutable, i.e. has neither origin nor development, then it signifies to you it is product of divine revelation.”

Seine NachfolgerInnen vertraten an seine Ideen anknüpfend und diese weitertreibend Theorien, die sich „post- strukturalistisch“ nannten und auf philosophischem Gebiet den Boden für die Postmoderne fruchtbar machten. Althussers ideengeschichtliche Funktion war es also die sich selbst diskreditierenden Ideen des Strukturalismus, die alleine wahrscheinlich dazu nicht fähig gewesen wären, in einer unglücklichen Zwangsheirat mit marxistischen Ideen (oder besser gesagt einzelnen Zitaten) einem breiten akademischen Publikum einzuimpfen.

Wer sind seine ideologischen Erben?

Althussers Schüler Michel Foucault übernimmt die Ablehnung der Dialektik von seinem Meister. Neu hinzu kommt bei ihm die Verneinung der Existenz einer objektiven Wahrheit, und einer erkennbaren Welt. Damit bildet sein poststrukturalistisches Denken gute Anknüpfungspunkte für die PostmodernistInnen. So sagt Foucault: "Es gibt keine Ortsbestimmung der großen Auflehnung, keine Seele der Revolte, Quelle aller Aufstände oder reines Gesetz des Revolutionären. Stattdessen gibt es eine Pluralität von Widerständen, von denen jeder ein besonderer Fall ist." ( Artikel) Hiermit wird jede fortschrittliche Gesellschaftswissenschaft unmöglich und die ArbeiterInnenklasse verschwindet als revolutionäres Subjekt.

In der Philosophie vertreten die PostmodernistInnen die freie Kombination bisheriger Erkenntnismodelle, also ein pluralistisches Selbstverständnis. Das ist von einer generellen Beliebigkeit begleitet. Im Grunde richtet sich die Postmoderne gegen die Tradition der Aufklärung, die für sie Faschismus und Stalinismus verschuldet hat, gegen alle Konzepte von Fortschritt, gegen die Möglichkeit der Erkenntnis,… Sie propagieren stattdessen einen Pluralismus an Ideologien. Also: Alles ist erlaubt.

In Deutschland kann man übrigens eine ähnliche Entwicklung sehen: Hier wird der Boden der Postmoderne durch die „Frankfurter Schule“ gedüngt. Gezeichnet von Emigration, Verfolgung, Faschismus und Stalinismus, beginnen die Theoretiker der „Frankfurter Schule“, sich immer weiter von Marx zu entfernen und fortschrittsfeindliches Denken aufzugreifen. In der „Dialektik der Aufklärung“ ist der Zweifel von Horkheimer und Adorno an dem Konzept der Aufklärung und des Fortschrittes deutlich zu spüren. Horkheimer zum Beispiel sagte 1969 in einem Interview, dass er zu der Schlussfolgerung gekommen sei, „dass Nietzsche vielleicht ein größerer Denker ist als Marx“.

Was die Postmodernen durch ihre extreme Feindschaft gegen den „totalitären“ Marxismus, nicht verstehen können, ist einerseits natürlich der Charakter des Stalinismus (siehe oben) und andererseits, dass nicht der „Fortschritt“ den Faschismus und die Kriege des 20. Jahrhundert verschuldet hat, sondern, dass das alles nur die Produkte davon sind, dass der heutige Kapitalismus keinen fortschrittlichen Charakter mehr trägt. Historisch gesehen war dieser nämlich ein Fortschritt gegenüber dem Feudalismus und hat zu einem extremen Ansteigen der Produktivität geführt und damit die Grundlage für Erfolge und Entdeckungen in Wissenschaft, Technik usw. gelegt. Heute aber ist das Gegenteil der Fall: Ein Fünftel der Weltbevölkerung ist arbeitslos oder unterbeschäftigt, denn im Kapitalismus wird nur produziert, wo und solange es Profit bringt. Dasselbe trifft auf Forschung und Wissenschaft zu. Dadurch aber beschränkt der Kapitalismus (Privateigentum und Nationalstaat) die Entwicklung der Menschheit. Er steckt in einer Sackgasse und ruft Formen der Barbarei hervor, beispielsweise Kriege, Terrorismus...

EinE DialektikerIn wird den noch ungelösten Widerspruch zwischen dem enormen Potential der Menschheit und seiner Einschränkung durch Privateigentum und Nationalstaat sofort bemerken ;-)

Literatur:

1. Althusser

L.Althusser: „Widerspruch und Überdetermination“ aus Für Marx, Frankfurt am Main, 1968
L.Althusser: “Ist es einfach in der Philosophie Marxist zu sein?”
L.Althusser: “Über die materialistische Dialektik”, aus Für Marx (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968)
L.Althusser: “Über die Beziehungen von Marx zu Hegel”, aus Lenin und die Philosophie (Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1974)
L.Althusser: “Marxismus und Humanismus”, aus Für Marx (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968)
L. Althusser: “Ideologie und ideologische Staatsapparate” und “Anmerkungen über die ISA”, aus Ideologie und ideologische Staatsapparate (Hamburg: VSA, 1977)

A.Schaff: “Strukturalismus und Marxismus” (Europaverlag, Wien 1974)
Adam Schaff (1913- 2006) war ein polnischer Philosoph, studierte in Paris und Moskau, und kehrte besetzte als KP-Mitglied nach dem Sieg der Sowjetarmee verschiedene Universitätslehrstühle in Polen.
Die Autorin teilt durchaus nicht alle in Schaffs Kritik an Althusser vertretenen Positionen, hält sie aber (kritisch gelesen) für ganz aufschlussreich.


2. Weiterführende Literatur zu angesprochenen Themen (bei der Redaktion erhältlich ;-))

F. Engels: „Die Dialektik der Natur“
A. Woods/ T. Grant: „Aufstand der Vernunft, marxistische Philosophie und moderne Wissenschaft“
V. I. Lenin: „Materialismus und Empiriokritizismus“
V. I. Lenin: „Staat und Revolution“

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erschien am Donnerstag, 04. Oktober 2007 bei DER FUNKE.
Wir spiegelten von

http://www.derfunke.at/html/index.php?name=News&file=article&sid=1155

DER FUNKE merkt redaktionell an:

In Teilen der Linken, unter anderem der SJ Wien, erfreut sich der französische Philosoph Louis Althusser einer außergewöhnlichen Beliebtheit. Seine Theorien werden als „Weiterentwicklung des Marxismus“ im Gegensatz zur angeblich plumpen Staatstheorie von Marx und Lenin (diese wird als „instrumentell“ verunglimpft) dargestellt. Hier eine marxistische Kritik an Althussers Ideen und Methoden von Vera Kis.

LESEHINWEIS. In dieser Ausgabe erschien folgender Artikel:

  • Louis Althusser
    Modelle der materialistischen Dialektik

    von Heinz Kimmerle u.a.