20 Jahre Einheit
Kein Grund zum Feiern
Von Jürgen Roth

10/10

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In NI 152 (20 Jahre Währungsunion: Eine Volkswirtschaft verschwindet) untersuchten wir die Ursachen für die Implosion der bürokratischen DDR-Planwirtschaft, die Auswirkungen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, das Wirken der Treuhandanstalt und die Frage, ob die viel diskutierten bürgerlichen Alternativen zur Abwicklung einer halben Volkswirtschaft realistisch waren. Wir verneinten dies und wiesen auf die frappierenden Unterschiede zwischen den Währungsreformen in der DDR 1990 und der Westzonen 1948 hin. Zusammengefasst: „Die Jahrzehnte nach dem Krieg sind durch den Vorrang realer Kapitalakkumulation - Ausweitung des Welthandels, dem ja eine Produktionserweiterung entspricht und Zunahme der Direktinvestitionen - gekennzeichnet, die 70er und 80er Jahre durch die Prädominanz der monetären Akkumulation“ (E. Altvater, Ein Leistungsvergleich zwischen Währungsreform 1948 und Währungsunion 1990)

Kapitalistische Gewinner und Verlierer 

Als eindeutiger Nettogewinner steht das Monopolkapital der alten BRD fest. Unter der Prämisse des Monetarismus sank der Bilanzwert der Treuhandbetriebe weitaus drastischer, als die Halbierung ihrer Schulden bei der DM-Umstellung kompensieren konnte. Die Folgen: Stilllegungen, Produktionseinschränkungen, Verkauf zu Schleuderpreisen. Dies nutzte dem Großkapital aus dem Westen gleich mehrfach: Eroberung von Marktanteilen durch Beseitigung lästiger Konkurrenz, Konzentration und Zentralisation durch Firmenaufkäufe zu Ramschpreisen, Verschiebung einer Rezession durch gesteigerte Kapazitätsauslastung. Zu letzterem verhalf ihm ein gewaltiges Ausgaben- und Transferprogramm zwecks Stabilisierung der Konsumnachfrage, finanziert durch Staatsschulden und Steuern.

Gleichzeitig subventionierten Bund, Länder und Sozialkassen auch die Investitionen in Ostdeutschland in schwindelerregender Höhe. Die Nettozahlungen an die Neuen Länder mit Berlin schwanken jährlich zwischen 50 und 85 Mrd. Euro. (Institut für Wirtschaft Halle, Zeitraum 1991 - 2005, Herkunft Bund, alte Länder, Sozialversicherung, 1991 - 94 zusätzlich Treuhandanstalt und Fonds Deutsche Einheit)

Trotz alledem hat die ostdeutsche Wirtschaft die Verliererstraße nicht verlassen. Großbetriebe funktionieren weitgehend nur als verlängerte Werkbank ohne strategische Unternehmensfunktionen. Daneben besteht ein kleinteiliger Mittelstand. Die Neuen Länder sind überwiegend Vorleistungsgüterproduzenten. Die Konzernzentralen befinden sich außerhalb der Region. Das für die kapitalistische Dynamik entscheidende Forschungs- und Entwicklungspotenzial ist in der DDR weitgehend zum Erliegen gekommen - mit Ausnahme geringfügiger „Cluster“ in Sachsen und Thüringen.

Die Wettbewerbsfähigkeit in den überlebenden Industriesektoren stellt sich zudem über niedrige Arbeitskosten her. Hohe Investitionen in den industriellen Kapitalstock, Zurückbleiben der Arbeitskosten hinter der Produktivitätsentwicklung einschließlich des Abbaus nicht mehr rentabler Arbeitsplätze erzeugten im Bergbau und verarbeitenden Gewerbe sinkende Lohnstückkosten. Das dynamischste Wachstum in den letzten 10 Jahren war wiederum im Süden der Neuen Bundesländer zu verzeichnen. Die Verdopplung der Exportquote zwischen 1991 und 2008 (von 15 auf 30%) hat trotzdem kaum Boden auf Westdeutschland gut gemacht (27% / 44%).

Selbst die kleinen „Erfolgsgeschichten“ seit Mitte des letzten Jahrzehntes fußen auf schwacher Lohnbasis und in deren Folge beschränkten Steuer- und Sozialeinnahmen, zurückbleibender Binnennachfrage und Beschäftigung in nachgelagerten Bereichen (Einzelhandel, Handwerk). Nach zwischenzeitlicher Abnahme der Transferzahlungen jeweils zur Mitte der vergangenen beiden Jahrzehnte (Treuhandausgaben, Hartz IV) induzieren diese Prozesse weiterhin wieder umfänglichere Transferströme. (Nach Ost-West-Vergleich 2010 des IWH) 

Proletarische Verlierer 

Außer als BürgInnen für die zunehmenden Staatsschulden und SteuerzahlerInnen, die den Ostfeldzug des BRD-Monopolkapitals erheblich subventionierten, muss die Lohnarbeiterschaft West wie Ost vielfach bluten. Eine Studie der Volkssolidarität von 2010 erhellt ebenso zahlreiche, für die Lebenslage entscheidende Faktoren wie wichtige Gemütslagen und Erwartungen:

„2.1. (…) Der Stand der deutschen Einheit wird zwischen Ost und West extrem unterschiedlich bewertet. 47% der Bürger im Westen und 17% im Osten sehen die Einheit im Wesentlichen als erreicht an (…)

3.1. Die Bewertungen wesentlicher sozialer Lebenslagen (Zufriedenheit, Erwartungen, wirtschaftliche Lage) unterliegen seit 1990 einer rasch steigenden Zunahme positiver Wertungen, stabilisieren sich bis 2000 auf dem erreichten Niveau, um mit Einsetzen der ‚Reformpolitik' deutlich abzunehmen. Stagnation und geringfügige positive Zunahmen charakterisieren die letzten Jahre.

3.2. Die Festlegungen des Koalitionsvertrages zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland bis 2019 werden von den Bürgern mehrheitlich nicht für real gehalten (…)

4.4. Die erfolgten Veränderungen der Lebensverhältnisse nach 1990 reflektieren sich zwischen 1990 und 2000 in einer zunehmenden positiven Wertung der individuellen wirtschaftlichen Lage. Die zunehmenden negativen Wertungen nach 2000 sind vor allem Auswirkungen der Sozialreformen, der Euro-Umstellung sowie des Aussetzens der Einkommensangleichungen (…)

4.10. Die Entwicklung des individuellen Nettoeinkommens hat sich in den neuen Bundesländern zunächst rasch vollzogen, ohne ab Mitte der 90er Jahre weitere wesentliche Angleichungsfortschritte zu erreichen. Zugleich haben Differenzierungen in den Einkommen zugenommen (…)

4.18. Der gespaltene Arbeitsmarkt - mit einer doppelt hohen Arbeitslosigkeit im Osten - spaltet Deutschland nachhaltig bis zur künftigen Alterssicherung (…)

7.1. Über den Gesamtzeitraum seit 1990 sind sinkende Hoffnungen und steigende Befürchtungen für die neuen Bundesländer charakteristisch.“ (S. 13 - 16)

Das IWH bestätigt diese Studie mit detaillierten Zahlen. Demzufolge nehmen seit 1996 die Unterschiede im verfügbaren Nominaleinkommen der Haushalte in Ost- und Westdeutschland nicht nur nicht mehr ab, sondern seit 2004 sogar besonders drastisch zu.  Für das Geldvermögen gelten vergleichbare Relationen (S. 21). Trotz Angleichungen in der Erwerbsbeteiligung verbleiben sichtliche Unterschiede, teils durch höhere Arbeitszeiten (Ost), teils durch eine höhere Teilzeitquote (West) bedingt: pro 1.000 Erwerbsfähige stehen in den Alten Ländern 747 gegenüber 711 in den Neuen Ländern zur Verfügung. Die Unterbeschäftigungsquote in der Ex-DDR liegt mit 132 Personen pro 1.000 Erwerbsfähige doppelt so hoch wie in der ehemaligen BRD. (S. 16) Zudem steigt der Anteil an Langzeitarbeitslosen stetig (S. 15). Zudem hat Ostdeutschland per Saldo in den letzten 20 Jahren 1,8 Millionen Menschen durch Auswanderung verloren, weit mehr als 10% der Bevölkerung von 1989! Benannte wirtschaftliche und demographische Einflüsse verstärkten die regionalen Unterschiede in der ehemaligen DDR im Vergleich zur Ausgangslage deutlich. (S. 14 f)

Entscheidender als diese ökonomischen Tatsachen, Entwicklungen und Perspektiven waren und sind für den deutschen Imperialismus seine bedeutende Stärkung auf Weltebene. Die deutsche Wiedervereinigung zog in gewisser Weise einen Schlussstrich unter die Niederlage des Hitler-Faschismus im 2. Weltkrieg. Die BRD konnte sich der alliierten Besatzung entledigen, deren Statuten und Bevormundungen abschütteln und zu einer Weltmacht aufsteigen. 

Strategischer Sieg des deutschen Imperialismus 

Die auf einen Streich erfolgte „Abwicklung“ der DDR-Wirtschaft und die Eroberung ihrer Märkte hoben Deutschland auf den Posten des Hauptprofiteurs von sowie Katalysators bei der Rekapitalisierung Ost- und Südosteuropas einschließlich der UdSSR. Dabei scheute es in seinem Parforceritt fürs nationale gesellschaftliche Gesamtkapital nicht vor einem enormen Verschuldungsprogramm („Aufbau Ost“) zurück, sondern riskierte auch einen Konflikt mit der damaligen Bundesbank. Diese fürchtete Riesenverwerfungen der Staatsfinanzen und eine Aufweichung der DM durch die Währungsunion. Die Regierung Kohl gewann diesen Konflikt auf dem ureigenen Terrain der Bundesbank, der Währungspolitik. Ein nie da gewesener Vorfall in der Geschichte der BRD - aber auch eine nie da gewesene Chance zum Sprung zur Weltmacht! Die Regierung erwies sich als weitsichtigerer Teil des ideellen Gesamtkapitalisten denn die Zentralbank.

Schließlich beschleunigte die deutsche Einheit den Prozess der Einführung des Euro unter Federführung der BRD. Frankreichs Staatschef Mitterrand und Britanniens Premierministerin Thatcher wollten Deutschland mittels verstärkter Integration in die EU zügeln und stimmten der Einführung des Euro zu, bei dessen langsamer und behutsamer Einführung nach Erfüllung diverser Konvergenz- und Angleichungskriterien zwischen den Teilnehmerländern der Währungszone diesmal nicht die „Monetaristen“, sondern die „Ökonomisten“ den Ton angaben. Den Vormarsch der BRD, ihre immer deutlichere hegemoniale Rolle innerhalb der EU - auch im Vergleich zu Frankreich - hat das nicht stoppen können.

Mit dem Euro als weltweit zweitwichtigster Währung schwingt sich die EU unter deutscher Führung zu einem ernsthaften Konkurrenten für den US-Dollar auf. Dass der Weg der BRD dabei von militärischer Aggression begleitet ist und werden wird (Auslandseinsätze u.a. in Kosovo, Bosnien, Somalia, Libanon, Afghanistan), liegt in der Natur der imperialistischen Sache, die stets von Grabkreuzen flankiert ist.

1990 wurde der degenerierte Arbeiterstaat DDR zerstört. Die Gruppe Arbeitermacht hatte damals in die Massenbewegung interveniert und sie vom Kurs der politischen Revolution in der DDR und der gesellschaftlichen, sozialistischen Revolution in der alten BRD zu überzeugen versucht. Für uns stellte es keine Überraschung dar, dass die konterrevolutionäre bürokratische Umwälzung des Kapitalismus in Ostdeutschland nach 1945 die Arbeiterklasse von „ihrem“ Staat mehr als entfremdet hatte, so dass sie nicht nur keinen Finger zur Verteidigung und zum Ausbau der nachkapitalistischen Errungenschaften rührte, sondern mehrheitlich ins Schlepptau der kapitalistischen Konterrevolution geriet. 

Historische Niederlage der Arbeiterklasse 

Diese historische Niederlage für die Arbeiterbewegung weltweit war letztlich Resultat erstens der Entschlossenheit des BRD-Imperialismus, seine historische Chance zu nutzen; zweitens der Verrottetheit des konterrevolutionären stalinistischen Regimes der SED und drittens der Verwirrung und Perspektivlosigkeit der DDR-Opposition unter kleinbürgerlicher Führung der BürgerrechtlerInnen.

Hinzu gesellt sich aber das fast vollkommene Versagen der westdeutschen „radikalen“ und zentristischen Linken, die sich größtenteils passiv abwartend oder als linke Flankendeckung der SED aufführten. Geradezu verbrecherisch muss man allerdings das Verhalten der reformistischen Spitzen des DGB nennen. Anstatt dem Kurs der westdeutschen Bourgeoisie und der Kohl-Regierung massiven Widerstand entgegen zu setzen, verhielten sie sich passiv und opferten letztlich auch die Interessen und Errungenschaften der westdeutschen Arbeiterklasse auf dem Altar der kapitalistischen Wiedervereinigung.

Wie wichtig unsere strategische Orientierung während der revolutionären Monate auf eine revolutionär-sozialistische deutsche Wiedervereinigung war, zeigt sich - heute klarer denn je - auch daran, dass der Osten zu einem Experimentierfeld sozial- und gesellschaftspolitischer Konterrevolution wurde, die auch das Kampfpotenzial auch der westdeutschen Arbeiterbewegung unterminierte: Tarifflucht, gewerkschaftsfreie Zonen, Niedriglohnsektor, Hartz IV, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, Prekarisierung u.v.m. All das sind die Quittungen, die das BRD-Kapital auch der Klasse im Westen für ihre passive Duldung der restaurationistischen Einheit präsentieren durfte.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel durch

ARBEITERMACHT-INFOMAIL
Nummer 510
3. Oktober 2010

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Weitere Infos zur DDR

Bei Infoparzisan: Materialiensammlung: DDR 1989 - "Löcher in der Mauer"
http://www.infopartisan.net/archive/1989/index.html

Bei TREND 11/2009