Trotzkis Marxismus
Eine Gegenkritik

von Ernest Mandel

10-2013

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Nicolas Krassos Kritik am politischen Denken und Handeln Trotzkis bietet eine günstige Gelegenheit, um einige der falschen Einschätzungen und Vorurteile zu berichtigen, die über die historische Rolle des Gründers der Roten Armee in großen Teilen der „nicht-engagierten" Linken Intelligenz noch verbreitet sind. Die Ursachen dieser falschen Einschätzungen sind leicht zu entdecken. Das öffentliche Zugeständnis und die Anprangerung eines Teils der schlimmsten Verbrechen Stalins durch die gegenwärtige sowjetische Führung hat keineswegs dazu geführt, daß die Politik, für die Trotzki während der letzten 15 Jahre seines Lebens kämpfte, auch übernommen wurde. Die Führer der „sozialistischen" Länder haben die von Trotzki hochgehaltenen Prinzipien der Sowjet-Demokratie und des revolutionären Internationalismus weder in ihren internen Organisationen noch (mit der einzigen Ausnahme Kubas) in ihrer internationalen Politik verwirklicht. Historisch bedeutet freilich schon die Tatsache, daß Stalin von seinem Sok-kel gestürzt worden ist, und daß viele der Anschuldigungen Trotzkis heute allgemein als berechtigt gelten, eine ungeheure historische Rechtfertigung des Mannes, der am 20. August 1940 in Coyoacan durch Stalins Agenten ermordet wurde. Wer im Kampf um den endgültigen Triumph von Trotzkis Programm — und um seine vollständige politische Rechtfertigung — nicht Partei ergreift, wird allein schon deswegen dazu neigen, seine Enthaltung dadurch zu rationalisieren, daß er nach Mängeln, Fehlern oder Schwächen dieses Programms Ausschau hält. Dabei darf er die groben Verzerrungen und Verfälschungen, die die stalinistischen Büttel der 30er, 40er und frühen 50er Jahre erfanden, jetzt nicht wiederholen: daß Trotzki „konterrevolutionär" und ein „Agent des Imperialismus" gewesen sei, daß er eine Restauration des Kapitalismus in der UdSSR gewollt oder objektiv gefördert habe. Er muß also zu solchen Argumenten Zuflucht nehmen, die von den weltklügeren und gewandteren Gegnern Trotzkis in den 20er Jahren gegen ihn vorgebracht wurden: daß er im Grunde „kein Bolschewik" sondern ein „linker Sozialdemokrat" sei, der die historischen Besonderheiten Rußlands, die Feinheiten der Organisationstheorie Lenins oder die komplexe Dialektik des pro-etarischen Klassenkampfs in Ost und West nicht begriffen habe. Genauso argumentiert Krasso heute.

1. Klassen, Parteien und die Autonomie politischer Institutionen

Krassos Hauptthese ist ziemlich einfach: Trotzkis Grundfehler ist sein mangelndes Verständnis der Rolle der revolutionären Partei, sein Glaube, daß gesellschaftliche Kräfte mittelbar und unmittelbar die Geschichte formen, daß sie in politische Organisationen gleichsam „überführt" werden können. Dieser Glaube hinderte Trotzki sein Leben lang daran, Lenins Theorie der Organisation zu begreifen, und führte zum krassen „Soziologismus" und Voluntarismus. Von seiner Ablehnung des Bolschewismus 1904 bis hin zu seiner Rolle bei der Oktoberrevolution und dem Aufbau der Roten Armee, seiner Niederlage im innerparteilichen Kampf 1923—27, seinem Stil als Historiker und seinem „erfolglosen Versuch", eine Vierte Internationale aufzubauen — überall stehen Soziologismus und Voluntarismus in einem engen Zusammenhang. Trotzkis Marxismus bildet, wie Krasso behauptet, „eine konsequente und charakteristische Einheit, von seiner frühen Jugend bis ins hohe Alter". Niemand wird leugnen, daß Trotzki vor 1917 den Kern der leninschen Organisationstheorie ablehnte.(1) Wir werden hier auch nicht in Frage stellen, daß die Partei, die Ideologie und die Psychologie gesellschaftlicher Klassen einen gewissen Grad an Autonomie innerhalb des historischen Prozesses annehmen können, -oder daß der Marxismus (und nicht nur Lenins Marxismus, sondern jede adäquate Interpretation der Marxschen Lehre) in Krassos Worten: „durch die Idee einer komplexen Totalität gekennzeichnet (ist), in der sämtliche Ebenen — ökonomische, politische, ideologische — ständig in Bewegung sind, so daß der Ort der Hauptwidersprüche zwischen ihnen ständig wechselt". Dies bietet allerdings eine äußerst schmale Basis für die Erhärtung der Thesen Krassos. Wenn wir versuchen, Trotzkis wirkliches Denken und die Entwicklung dieses Denkens über fast 40 Jahre zu analysieren, stoßen wir auf Schritt und Tritt auf Beweise für die Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit der Darstellung Krassos.

Zu allererst ist die Behauptung falsch, Trotzki habe bei seiner Ablehnung der Organisationstheorie Lenins sein eigenes Modell einer sozialdemokratischen Partei von der deutschen SPD genommen, einer Partei, die „ihrem Umfang nach die ganze Arbeiterklasse umfassen sollte". Historisch richtig wäre es, genau umgekehrt zu argumentieren und zu zeigen, daß nämlich Lenin seine Organisationstheorie zum großen Teil von den Theoretikern der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie, Kautsky und Adler, übernommen hat.(2) Trotzkis verfehlte Opposition gegen Lenins Theorie beruhte zumindest in ihrem rationalen Kern auf seinem Mißtrauen gegenüber dem westlichen sozialdemokratischen Apparat als einer im Grunde konservativen Einrichtung. Krassö selbst gibt wenige Seiten später zu, daß Trotzki bereits 1905 der westlichen Sozialdemokratie kritischer gegenüberstand als Lenin. Wie sollte sein Parteimodell dann dieser Sozialdemokratie nachgebildet sein?(3) Zweitens ist die Unterstellung völlig unwahr, Trotzki habe auch später, nachdem er 1917 die Richtigkeit der Position Lenins erkannt hatte, dessen Organisationstheorie mißverstanden bzw. abgelehnt. Es gibt für diese Annahme nicht die geringsten Beweise. Lenin selbst erklärte mit Nachdruck, daß nachdem Trotzki die Unmöglichkeit einer Vereinigung mit den Menschewiki eingesehen hatte(4), es „keinen besseren Bolschewiki als Trotzki(5) gegeben habe. Sämtliche Schriften Trotzkis nach 1917 betonen die entscheidende Rolle der revolutionären Partei in unserer Epoche. In jedem Wendepunkt seiner Laufbahn, in den „Lehren aus dem Oktober" und im „Neuen Kurs" (1923); in der „Plattform der Linken Opposition" (1926); m seiner Kritik der katastrophalen Politik der Komintern gegenüber China, Deutschland, Spanien und Frankreich; sowie später, in den 30er Jahren, in seiner „Geschichte der russischen Revolution" und in den politischen Testamenten, dem „Übergangsprogramm der Vierten Internationale" und dem sogenannten „Manifest der Notkonferenz", betonte er unermüdlich, daß das entscheidende Problem unserer Epoche das Problem des Aufbaus revolutionärer Parteien ist: „Die historische Krise der Menschheit reduziert sich auf die Krise der revolutionären Führung."(6) — In der Tat eine merkwürdige Art, die Rolle der Avantgarde zu „vergessen" und zu glauben, daß soziale Kräfte direkt und unmittelbar die Geschichte formen . . . Es ist wahr, die revolutionäre Avantgarde bedeutete für Trotzki nicht bloß eine geschickt aufgebaute und gut geölte Maschine. Diese Vorstellung war ursprünglich in der bürgerlichen amerikanischen Politik — die sich bekanntermaßen oft kaum vom Gangstertum unterscheidet — beheimatet. Sie war' Lenin und den Bolschewisten, ja der internationalen Arbeiterbewegung insgesamt völlig fremd, bis Stalin sie in die Praxis der Komintern einführte. Für Trotzki, wie für Lenin und für jede andere marxistische Richtung, ist die Avantgarde objektiv, im Licht ihres erklärten Programms und ihrer tatsächlichen Praxis zu beurteilen. Wenn die Partei, auch die funktionstüchtigste und stärkste Partei, gegen die Interessen der Revolution und der Arbeiterklasse zu handeln beginnt, dann muß um die Berichtigung dieser Linie gekämpft werden. Wenn ihre Aktionen ständig und im Laufe einer ganzen Epoche sich gegen die Interessen des Proletariats richten, dann kann sie nicht länger als Avantgarde-Partei angesehen werden — dann stellt sich sofort das Problem des Aufbaus einer neuen Partei.(7)

Natürlich haben weder Lenin noch Trotzki die revolutionäre Partei jemals mit dem richtigen Programm identifiziert. Lenin erklärte ausdrücklich, daß die Richtigkeit einer bestimmten Politik sich langfristig durch ihre Fähigkeit erweisen müßte, einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse — er sagte sogar die Mehrheit(8) — zu sich herüberzuziehen. Doch zusammen bilden diese beiden Elemente die Bestandteile der revolutionären Avantgarde-Partei. Ohne ein richtiges Programm und eine richtige Politik kann eine Partei objektiv konterrevolutionär werden, auch wenn ihr Einfluß auf die Massen der Arbeiterklasse sehr groß ist. Ohne langfristig Einfluß auf die Massen der Arbeiterklasse zu gewinnen, müssen Revolutionäre, auch wenn sie über ein hervorragendes Programm verfügen, zu einer sterilen Sekte degenerieren.

Daher sehen wir drittens, daß Krasso — weit davon entfernt, durch seine Betonung der „Autonomie politischer Institutionen" das Problem gelöst zu haben — nur eine Frage gestellt hat, ohne sie selbst zu beantworten. Das Problem besteht gerade darin, sowohl die Autonomie politischer Institutionen als auch zugleich den relativen Charakter dieser Autonomie zu verstehen. Nicht Trotzki, sondern Marx und Engels waren es schließlich, die erklärten, daß die Geschichte letzten Endes die Geschichte von Klassenkämpfen ist.(9) Politische Institutionen sind funktionelle Körperschaften. Wenn sie sich von den gesellschaftlichen Kräften, denen sie dienen sollen, entfernen, verlieren sie sehr schnell ihre Wirksamkeit und ihre Macht — es sei denn, sie werden von anderen sozialen Kräften in deren Dienst gestellt. Genau das ist Stalin und seiner Fraktion innerhalb der Bolschewistischen Partei passiert. Krassö behauptet, daß Trotzki „an seiner chronischen Unterbewertung der autonomen Macht politischer Institutionen scheiterte". In Wirklichkeit „scheiterte" Stalin an seinem Vertrauen in die autonomen Möglichkeiten der „Machtpolitik" — denn dadurch wurde er unbewußt zum Werkzeug von gesellschaftlichen Kräften, deren bloßes Dasein er bis in die letzten Jahre seines Lebens offensichtlich nicht erkannt hatte. Wäre Stalin schon in den frühen 20er Jahren überzeugt gewesen, daß ihn die Fortführung des von ihm eingeschlagenen Weges zwingen würde, drei Viertel der alten Bolschewistischen Kader der oberen und mittleren Ebene zu töten, die Komintern zu liquidieren(10), in den Fabriken Zwangsarbeit und eine der strengsten Arbeitsordnungen der modernen Epoche einzuführen — er wäre wahrscheinlich voller Entsetzen davor zurückgeschreckt. Schließlich war er zu jener Zeit selbst so etwas wie ein Bolschewik.

Die „reine" Machtpolitik, die Krasso anscheinend so bewundert, degradiert ihre Funktionäre so weit, daß sie jede Kontrolle über ihre eigenen Handlungen verlieren und die Verbindung zwischen bewußtem Ziel und objektiver Funktion dieser Handlungen aus den Augen verlieren. Im Gegensatz hierzu legen Marxisten großen Wert auf bewujlte Aktion; und Be-wußtsein bedeutet Bewußtsein über die entscheidende Rolle gesellschaftlicher Kräfte sowie über die Beschränkungen, die diese Kräfte den Handlungen des Individuums auferlegen. Krassos mangelndes Verständnis dieses dialektischen Zusammenhangs zwischen Partei und Klasse, sein fehlendes Bewußtsein darüber, daß hier überhaupt ein Problem vorhanden ist, macht die grundlegende Schwäche seines Aufsatzes aus.

Die Klasse kann ohne eine Avantgarde-Partei nicht siegen. Aber die Avantgarde-Partei ist ihrerseits auch ein Produkt der Klasse — allerdings nicht nur der Klasse. Sie kann ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie die Unterstützung des aktivsten Teils dieser Klasse hat.(11) Die Klasse ihrerseits kann ohne das Vorhandensein von günstigen objektiven Bedingungen keine Avantgarde-Partei hervorbringen; in diesem Fall kann eine solche Partei die Klasse auch nicht zum Sieg führen. Schließlich wird es auch unter günstigen Bedingungen ohne das Bewußtsein dieser Probleme nicht zum Aufbau einer Avantgarde-Partei kommen, wodurch die Gelegenheit für einen Sieg der Revolution über lange Zeiträume unrettbar verloren sein wird. Nach 1916 begriff Trotzki diesen dialektischen Zusammenhang vollkommen. Er wandte ihn auf eine Reihe von konkreten Situationen so meisterhaft an, daß es völlig widersinnig erscheinen muß, wenn Krasso behauptet, er habe „die autonome Macht politischer Institutionen" außer acht gelassen. Krasso selbst charakterisiert Trotzkis Essais über den deutschen Faschismus als „die einzige marxistische Analyse dieser Jahre, welche die katastrophalen Folgen des Nazismus und die Torheit der Politik der Komintern voraussagte". Wie konnte Trotzki zu einer derart treffenden Analyse der Entwicklung der deutschen Gesellschaft zwischen 1929 und 1933 gelangen, ohne im Besitz einer genauen Analyse nicht nur der gesellschaftlichen Klassen und Gruppierungen, sondern auch ihrer Parteien zu sein? Sind diese brillianten Schriften nicht der dokumentarische Beweis für seine Fähigkeit, die Rolle politischer Parteien — vor allem solcher Parteien, die die Arbeiterklasse beein-flußten — korrekt zu analysieren? Bestand seine ganze Warnung nicht in dem Kassandra-Ruf: „Entweder die Kommunistische Partei und die Sozialdemokratische Partei werden zusammen gegen Hitler kämpfen, oder Hitler wird die deutsche Arbeiterklasse für lange Zeit niederzwingen"? Beruhte diese Warnung nicht gerade auf Trotzkis Erkenntnis der Unfähigkeit der deutschen Arbeiterklasse, ohne einen gemeinsamen Kampf dieser beiden Parteien die Gefahr des Faschismus zu bannen?

War nicht diese Analyse eingegliedert in einer ebenso genauen Analyse der Evolution bürgerlicher politischer Institutionen — einer Analyse, die es ihm ermöglichte, die allgemeine Bedeutung der Marxschen Kategorie des Bonapartismus für unsere Epoche zu entdecken? Diese Tatsachen zusammengenommen — was bleibt von Krassos Behauptung übrig, Trotzki habe bis an sein Lebensende „die autonome Macht politischer Institutionen .unterschätzt"?

2. „Der Kampf um die Macht und die gesellschaftlichen Konflikte in der Sowjetunion 19231927"

Krasso wird bei seiner Untersuchung des „Machtkampfes" innerhalb der KPdSU in den Jahren 1923 bis 1927 zwischen zwei entgegengesetzten Gedankengängen hin- und hergerissen. Einerseits behauptet er, Trotzki habe, da er die Autonomie der Politischen Institutionen unterschätzte, einen Fehler nach dem anderen begangen. So habe er sich z. B. geweigert, einen Block mit dem rechten Flügel gegen Stalin zu bilden, wodurch Stalins Sieg unaufhaltbar geworden sei — denn die einzige Möglichkeit, diesen Sieg zu verhindern, lag nach Krasso in einem Bündnis aller alten Bolschewiki gegen Stalin. Andererseits behauptet Krasso, daß Trotzki sowieso keine Möglichkeit zu siegen gehabt habe, denn 1923 hätten alle anderen Führer im Politbüro Trotzki bereits „einmütig" bekämpft: „In Wirklichkeit hatte Stalin die Partei bereits 1923 organisatorisch in seinem Griff". Die beiden Gedankengänge schließen sich doch wohl gegenseitig aus. Im ersten Fall war Stalins Sieg das Ergebnis von Fehlern, die seine Gegner machten; im zweiten Fall war er unvermeidlich. Die Schwäche von Krassos Analyse zeigt sich deutlich darin, daß weder die eine noch die andere Version eine Erklärung bietet. Die Tatsachen — oder richtiger, Krassos streckenweise falsche Interpretation der Tatsachen — werden einfach als gegeben hingenommen. Er erklärt nicht warum, nach der ersten Version, nicht nur Trotzki allein, sondern die gesamte Alte Garde der Bolschewiki Lenins Warnungen über die Bedeutung Stalins überhörten und sich, anstatt Trotzki in seinem Kampf gegen Stalin zu unterstützen, mit diesem gegen Trotzki zusammentaten. Er erklärt nicht, warum, nach der zweiten Version, Stalin schon 1923, als Lenin noch lebte, die Partei im Griff hatte. Verdankte er dies alles seinem gerissenen Taktieren innerhalb der Partei, seiner Fähigkeit, „Individuen oder Gruppen für seine Politik zu gewinnen", oder etwa seiner „großen Geduld"? Wenn dies zutreffen sollte, erscheint Lenin als ein Riese unter Zwergen, und sogar er wird von dem schlauen Generalsekretär einfach überlistet . . .

Derart wird Geschichte für die Gesellschaftswissenschaft völlig unverständlich — eine bloße Arena der „Machtpolitik" in einem gesellschaftlichen Vakuum. Die Millionen Opfer der Zwangskollektivierung und der Yeshovschina, die Machtergreifung Hitlers, die Niederlage des spanischen Bürgerkriegs und die 50 Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs können schließlich auf irgendeine genetische Zufälligkeit bei der Zeugung des Josef Djugashvili zurückgeführt werden. An dieser Schlußfolgerung kann man in etwa einschätzen, was dabei herauskommt, wenn man auf der absoluten Autonomie politischer Institutionen — unabhängig von gesellschaftlichen Kräften — besteht und sich weigert, politische Auseinandersetzungen letzten Endes als Reflex der widerstreitenden Interessen gesellschaftlicher Kräfte anzusehen. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe des „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" bemerkte Marx, daß Victor Hugo, indem er die Machtergreifung Louis Bonapartes als Kraftakt eines Individuums darstellte, „dies Individuum groß statt klein macht, indem er ihm eine persönliche Gewalt der Initiative zuschreibt, wie sie beispiellos in der Weltgeschichte dastehen würde"(12). Wie gering erscheinen doch die Folgen der Machtergreifung Louis Bonapartes, verglichen mit denen Josef Stalins!

Die richtige Methode, die Entwicklung in Rußland zwischen 1923 und 1927 — oder richtiger zwischen 1920 und 1936 — zu verstehen und zu erklären, beschreibt Marx im obengenannten Vorwort. Diese Methode besteht darin, zu zeigen: „wie der Klassenkampf (. . .) Umstände und Verhältnisse schuf, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personnage" die Rolle des Helden und Diktators zuschob.

Entscheidend an Krassos nicht-marxistischer Methode ist in diesem Zusammenhang nicht nur, daß er anläßlich des innerparteilichen Kampfes hauptsächlich auf die Ausübung der „Macht an sich fixiert war", daß er mit anderen Worten eine gewisse Eigenständigkeit des Machtkampfs gegenüber den politischen Fragen postuliert. Entscheidend ist darüberhinaus vor allem die Tatsache, daß er sich strikt weigert, den politischen Kampf und dessen Ausdruck, die Auseinandersetzung über bestimmte gegensätzliche Ideen und Plattformen, direkt oder indirekt mit gesellschaftlichen Konflikten in Zusammenhang zu bringen. Hier wird die Idee der Autonomie politischer Institutionen soweit getrieben, daß sie mit dem historischen Materialismus selbst im Widerspruch steht. Wenn Krass6 Trotzki wegen seiner Behauptung kritisiert, daß „sogar vorübergehende Differenzen der Ansichten und in den Abstufungen der verschiedenen Meinungen ein Ausdruck des leichten Drucks verschiedener gesellschaftlicher Interessen sein können", dann wirft er ihm vor, Marxist zu sein! Denn dieser Satz beinhaltet nicht, wie Krasso anzunehmen scheint, eine mögliche „Identität" von Parteien und Klassen, sondern stellt lediglich fest, daß Parteien letzten Endes gesellschaftliche Interessen verkörpern und historisch nur als Sprachrohre bestimmter gesellschaftlicher Interessen verstanden werden können. Dies war es schließlich, was Marx in den „Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850" und im „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" ausführlich darlegte — um von den weniger bedeutenden Werken gar nicht erst zu reden.

Es nimmt daher nicht Wunder, daß Krasso mit keinem Wort auf die gesellschaftliche Gruppe zu sprechen kommt, die den Schlüssel zum sozio-historischen Verständnis der russischen Geschichte der 20er Jahre darstellt: die Bürokratie. Daß Trotzki die Rolle der Bürokratie als einer gesellschaftlichen Macht mit anderen Interessen als denen des Proletariats betonte und überbetonte(13), darf nicht als seine persönliche Marotte angesehen werden. Marx und Engels wiesen schon 1871 in ihren Schriften zur Pariser Kommune auf die Gefahr hin, daß eine Bürokratie den proletarischen Staat beherrschen könnte. Sie zählten eine Reihe von einfachen Regeln auf, um dieser Gefahr zu begegnen.(14) Dieselbe Gefahr wurde 1898 von Kautsky — in seiner reifen, besten Periode, als sich Lenin selbst zu seinen Schülern zählte — mit einer fast gespenstischen Hellsichtigkeit formuliert.(15) Lenin betonte die Ernsthaftigkeit des Problems sowohl in „Staat und Revolution" als auch im ersten bolschewistischen Programm nach der Revolution.(16)

Von einem Autor wie Krasso, der sich als großer Bewunderer Lenins betrachtet, hätte man wohl erwarten können, daß er sich zumindest vorübergehend mit dem Problem beschäftigt, das zur letzten entscheidenden Schlacht Lenins und sogar zu einer Zwangsvorstellung seiner letzten Jahre wurde: mit seinem Kampf gegen die Bürokratie. Bereits 1921 weigerte er sich, die Sowjetunion als Arbeiterstaat zu definieren, und nannte Rußland stattdessen „einen Arbeiterstaat mit bürokratischen Deformationen". Seine Angst und Sorge wuchsen von Monat zu Monat; wir können ihre Entwicklung von Artikel zu Artikel verfolgen, bis sie schließlich die düsteren Dimensionen seines letzten Aufsatzes und seines Testaments annehmen.(17) Sicher erkannte Lenin die konkrete Wechselwirkung zwischen dem gesellschaftlichen Prozeß einerseits — der wachsenden Passivität der Arbeiterklasse und der wachsenden Macht der Bürokratie in Staat und Gesellschaft, die von einer wachsenden Bürokratisierung der Partei selbst begleitet war — und dem innerparteilichen Kampf andererseits. Sicher begriff Trotzki, der dieselbe Methode befolgte, diese Wechselwirkung — nach einer gewissen Verzögerung — auch und handelte entsprechend.(18) Die Tragödie lag darin, daß die anderen Führer der Bolschewistischen Partei diese Gefahr der Bürokratisierung und die damit verbundene Gefahr, daß Stalin als Vertreter der Bürokratie zum absoluten Machthaber avancieren könnte, nicht rechtzeitig gesehen haben. Alle haben die Gefahr früher oder später erkannt, jedoch nicht zu gleicher Zeit und vor allem nicht früh genug. Dies ist die grundlegende Erklärung für die scheinbare Leichtigkeit, mit der Stalin die Macht ergreifen konnte. Zweifelos beging Trotzki im Kampf auch taktische Fehler — Fehler, die solchen Autoren wie Krasso besonders offenkundig erscheinen, die mit jener unvergleichlichen politischen Gabe, im nachhinein die richtige Taktik zu erkennen, ausgestattet sind.(19) Auch Lenin beging taktische Fehler. Schließlich war es Lenin, der die nun plötzlich auseinanderbrechende Parteiorganisation aufgebaut hatte. Es war Lenin, der einer Reihe von institutionellen und organisatorischen Maßnahmen seine persönliche Autorität verlieh, die erheblich zum Sieg der Bürokratie beitrugen und die — wie wir jetzt auch im nachhinein erkennen können — hätten vermieden werden können, ohne die Revolution zu zerstören: die Herrschaft der persönlichen Autorität des Fabrikleiters; die übertriebene Anwendung der materiellen Anreize; die übertriebene Identifikation von Partei und Staat; die Abschaffung aller übriggebliebenen Sowjetparteien und sämtlicher politischer Gruppierungen außer der Bolschewistischen Partei nach dem Bürgerkrieg (nachdem man diese Gruppierungen während des Bürgerkriegs toleriert hatte unter der Voraussetzung, daß sie sich nicht mit der Konterrevolution verbündeten); die Unterdrückung des traditionellen Rechts der Mitglieder der Bolschewistischen Partei, Fraktionen zu bilden.(20)

Allgemein kann man sagen, daß Lenin nach dem Ende des Bürgerkrieges und dem Anfang der NÖP die unmittelbare Gefahr, die aus einer Lockerung der Parteidisziplin entstehen würde, überschätzte. Gleichzeitig unterschätzte er die Gefahr, daß die Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten der nicht-bolschewistischen Richtungen und die Beschneidung der Demokratie innerhalb der Bolschewistischen Partei selbst jenen Verbürokratisierungsprozeß beschleunigen könnte, die er zu recht befürchtete. Die Ursache dieses Fehlers lag gerade in einer gewissen übertriebenen Identifikation von Partei und Proletariat, in dem Glauben, daß die Partei die Interessen des Proletariats in autonomer Weise verteidigen könne. Wenige Jahre später sah Lenin seinen Fehler ein — aber es war bereits zu spät, um die Gefahr der Bürokratisierung im Parteiapparat im Keim zu ersticken.

Krasso irrt sich völlig, wenn er glaubt, Trotzki habe die autonome Macht politischer Institutionen während seines entscheidenden Kampfes der Jahre 1923 bis 1927 innerhalb der Partei unterschätzt. Das gerade Gegenteil davon ist richtig. Seine gesamte politische Strategie dieser Periode ist nur verständlich im Licht seiner Auffassung von dem besonderen dialektischen Zusammenhang zwischen den objektiven Verhältnissen der sowjetischen Gesellschaft in einer feindlichen kapitalistischen Umgebung, dem Kräfteverhältnis der gesellschaftlichen Gruppierungen in dieser Gesellschaft selbst, und der autonomen Rolle der Bolschewistischen Partei in dieser besonderen Periode unter diesen konkreten Bedingungen.

Da Krasso diese Strategie nicht begreift und von vornherein bestrebt ist, Trotzkis Einstellungen mit Hilfe seines angeblichen Grundfehlers zu erklären, kann er nur mit einer Verzweiflungsgeste die völlige Inkonsequenz des Gründers der Linken Opposition beklagen: „Trotzki hatte das Problem der Durchsetzung seiner ökonomischen Politik (der 20er Jahre) nie konkret ins Auge gefaßt". Diese ökonomische Politik ist nach Krasso nur ein Resultat der „großen administrativen Gaben" Trotzkis — nicht etwa eine ausgearbeitete und korrekte Politik gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften in der UdSSR. Außerdem stand sie angeblich völlig unverbunden neben seiner Theorie der permanenten Revolution, die behauptete, daß der Sozialismus in einem Land „nicht praktikabel" sei, weil er der „Subversion" des Weltmarktes und der imperialistischen Aggression des Auslandes erliegen müßte. Angesichts so zahlreicher historischer Verzerrungen fragt sich, ob die Inkonsequenz, die Krasso Trotzki unterstellt, nicht vielmehr . in seinem eigenen Kopf zu suchen ist.

Es ist in der Tat inkonsequent, will man Trotzkis Programm für die unmittelbare ökonomische Entwicklung der Sowjetunion seinem Konzept der „permanenten Revolution"(21) entgegenstellen. Wie ist es möglich, daß ein Marxist, der den Ideen ein solches Gewicht verliehen hat und diese Ideen — nach Krasso — in einer so „unmittelbaren" Weise mit gesellschaftlichen Gruppierungen in Verbindung gebracht hat, zu ein und derselben Zeit für das beschleunigte ökonomische Wachstum der Sowjetunion kämpfte und zugleich alles von einer unmittelbar bevorstehenden internationalen Revolution, ohne die alles zusammenbrechen mußte, abhängig gemacht haben soll? Macht die zweite Annahme den ersten Kampf nicht gegenstandslos? Dieser Widerspruch, der sich allein aus der verfälschten Version der Theorie von der permanenten Revolution ableitet, ist weder von den stalinistischen Gegnern Trotzkis (in .Vergangenheit und Gegenwart) noch von seinen törichten ultra-linken Pseudo-Anhängern geklärt worden. Aber das Rätsel löst sich ohne Schwierigkeit, wenn das Problem auf richtige Begriffe zurückgeführt wird: Trotzki behauptet im dritten Gesetz der permanenten Revolution" nur, daß eine voll entwickelte sozialistische, d. i. klassenlose Gesellschaft ohne Warenverkehr, Geld und Staat innerhalb der Grenzen eines einzigen Staates — eines Staates, der zudem rückständiger war als die meisten kapitalistischen Staaten *— niemals erreicht werden kann(22). Nicht einen Augenblick lang zweifelte Trotzki an der Notwendigkeit, mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen und zu diesem Zweck ein beschleunigtes ökonomisches Wachstum zu erzielen — was gerade dann erforderlich ist, wenn die Revolution in einem einzigen Land isoliert ist. Er war es schließlich, der zuerst eine Politik für die beschleunigte Industrialisierung vorschlug.

Doch wenn sich der ganze Streit nur um das abstrakte theoretische Problem dreht, wie man die höchste Stufe des Sozialismus (im Unterschied zum Kommunismus, der durch das Dahinschwinden der gesellschaftlichen Arbeitsteilung charakterisiert ist) erreicht, warum dann die ganze leidenschaftliche Diskussion. Hat Trotzki nicht vielleicht doch einen schweren politischen Fehler begangen, als er sich an einem solchen Kampf, den die überwiegende Mehrheit der Parteimitglieder nicht verstehen konnte, beteiligte?

Die Wahrheit ist, daß es keineswegs Trotzki war, der diese Frage aufgriff. Die Diskussion wurde vielmehr von Stalin und seiner Fraktion forciert. Dies war zweifelos ein „kluges" taktisches Manöver, das Trotzki und seine Anhänger tendenziell von den pragmatischeren bolschewistischen Kadern isolieren sollte. In Wirklichkeit hat sich allerdings gerade in dieser Frage ein Großteil der bolschewistischen Alten Garde, einschließlich der Witwe Lenins, auf die Seite der Linken Opposition gestellt. Sinowiew und Kamenew entfesselten sogar eine regelrechte Schlacht. So wurde Trotzkis Ablehnung der Theorie, daß der „Sozialismus in einem Land" erreicht werden könne, die Grundlage für seine engste Zusammenarbeit mit der Alten Garde seit dem Bürgerkrieg.

Sowohl Stalins unbekümmertes Spiel mit Ideen als auch der Widerstand der Alten Garde hatten ihren guten Grund. Mit der Theorie der Vollendung des „Sozialismus in einem Land" drückte die Bürokratie das langsam wachsende Bewußtsein ihrer eigenen Macht aus und begann, der grundlegenden Theorie des Marxismus-Leninismus hochmütig den Rücken zu kehren. Sie war dabei, sich nicht nur von der Weltrevolution, sondern auch von dem ganzen theoretischen Erbe Lenins zu „emanzipieren" — übrigens auch von dem Vertrauen auf eine aktive und bewußte Arbeiterklasse in der Sowjetunion und der ganzen Welt. Durch ihren Widerstand gegen dieses Überbordwerfen marxistischer Grundsätze erwies die Alte Garde ihre wirklichen 'ähigkeiten. Sie war bereit, Stalin so lange zu unterstützen, wie es darum ging, „die Einheit der Partei zu wahren" oder „die Sicherheit der Diktatur des Proletariats nicht zu gefährden". Sie zögerte an dem Punkt, an dem ein offener Bruch mit den grundlegenden Lehren des Leninismus erkennbar wurde. Wie oben schon gesagt wurde: die Tragödie der 20er Jahre ist in Wirklichkeit die Tragödie der Alten Garde — der Partei Lenins ohne Lenin selbst. Stalin zollte ihr die höchste Ehre der totalen Vernichtung — ein deutlicher Beweis seiner Überzeugung, daß sie für die trübe bürokratische Diktatur der 30er und 40er Jahre untauglich sei.

Wo Krasso Trotzkis Denken der 20er Jahre in inkonsequente . und unzusammenhängende Stücke zerschneidet, besteht in Wirklichkeit ein Zusammenhang und eine dialektische Einheit. Es war Trotzkis Überzeugung, daß die Sowjetgesellschaft im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus die entstehenden Probleme nicht allmählich im Rahmen der NÖP lösen könne. Was er bekämpfte, war die Idee eines „friedlichen Nebenein-anders" der kleinen Warenproduktion und der sozialistischen Industrie innerhalb der UdSSR — die ja nur die Kehrseite der hinlänglich bekannten „friedlichen Koexistenz" zwischen dem Kapitalismus und dem Arbeiterstaat auf Weltebene darstellt. Er glaubte, daß die widerstreitenden gesellschaftlichen Kräfte früher oder später in einen offenen Kampf ausbrechen müßten — auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene. Seine Politik läßt sich in der Formel zusammenfassen: Alle Tendenzen unterstützen, die national und international, quantitativ und qualitativ das Proletariat, sein Selbstbewußtsein und seine revolutionäre Führung stärken; alle Tendenzen bekämpfen, die das Proletariat, seine Fähigkeit und seinen Willen, sich selbst zu verteidigen, national oder international spalten oder schwächen.(23)

Sobald man die Dinge von diesem Standpunkt aus betrachtet, löst sich das Rätsel. Trotzki befürwortete die Industrialisierung, weil sie notwendig war, um das Proletariat innerhalb der Sowjetunion zu stärken. Er befürwortete die schrittweise Kollektivierung auf dem Land, um den Widerstand der reichen Bauern gegen die proletarische Staatsmacht zu schwächen und die Möglichkeit einer Erpressung der Städte durch plötzliche Einstellung der Getreidelieferungen auszuschließen. Er befürwortete eine Kombination von beschleunigter Industrialisierung und allmählicher Kollektivierung, um zunächst die materielle und technische Grundlage für eine kollektive Landwirtschaft in Form von Traktoren und landwirtschaftlichen Maschinen zu schaffen(24) — ohne die die Kollektivierung zu einem Abenteuer wird, das in den Städten Hungersnöte zur Folge haben kann. Er befürwortete die Intensivierung der sowjetischen Demokratie, um die politische Aktivität und das politische Bewußtsein der Arbeiterklasse voranzutreiben. Er befürwortete die Abschaffung der Arbeitslosigkeit und die Erhöhung der Reallöhne, denn eine Industrialisierung, die eine Senkung des Lebensstandards der Arbeiterschaft zur Folge hat, muß die politische Selbsttätigkeit des Proletariats vermindern, statt sie zu erhöhen.(25) Er war für eine Politik der Komintern, die alle günstigen Bedingungen ausnutzen sollte, um in anderen Ländern den Sieg der Revolution zu erreichen und so das internationale Kräftegleichgewicht zugunsten des Proletariats zu verschieben. Die kombinierte Anwendung all dieser politischen Richtlinien hätte den ersten Zusammenstoß der Revolution mit ihren Feinden nicht verhindern können; aber sie hätte für diesen Zusammenstoß sehr viel günstigere Bedingungen geschaffen, für den Zusammenstoß 1928—1932 in Rußland und 1941—1945 auf internationaler Ebene.

War dieses Programm „unrealistisch"? Nein, insofern die objektiven Bedingungen für seine Durchführung vorhanden waren. Kein unvoreingenommener Student der Geschichte kann heute daran zweifeln, daß dieses Alternativprogramm dem sowjetischen Proletariat und dem gesamten russischen Volk zahllose unnötige Opfer und Leiden erspart hätte und die Menschheit, wenn nicht vor dem Weltkrieg, so doch wenigstens vor der Geißel eines in ganz Europa siegreichen Faschismus mit seinen Millionen Opfern bewahrt hätte. Das Programm war andererseits unrealistisch, weil die subjektiven Bedingungen für seine Durchführung nicht vorhanden waren. Das sowjetische Proletariat war passiv und vereinzelt. Es sympathisierte mit dem Programm der Linken Opposition, brachte aber in dieser Periode der Erschöpfung nicht die erforderliche Militanz auf, um dafür zu kämpfen. Krassos scheinbarer Überzeugung zum Trotz hegte Trotzki nie die geringste Illusion über diesen Punkt.

Aus der Bolschewistischen Partei sofort auszutreten und eine neue (illegale) Partei zu proklamieren, hätte bedeutet, sich ausschließlich auf eine Arbeiterklasse zu verlassen, die in zunehmendem Maße passiv wurde. Sich auf die Armee zu verlassen und einen Staatsstreich zu inszenieren, hätte in Wirklichkeit nur bedeutet, eine Bürokratie durch eine andere zu ersetzen und sich selbst auch noch zum Gefangenen dieser Bürokratie zu verurteilen. Die vielen Kritiker, die Trotzki vorwerfen, den ersten oder den zweiten dieser zwei ihm offenstehenden Wege nicht gegangen zu sein, betrachten die Situation nicht als einen Ausdruck weitreichender gesellschaftlicher und politischer Kräfte. Die Aufgabe eines proletarischen Revolutionärs ist nicht, mit allen Mitteln und unter allen Umständen „die Macht zu ergreifen"; er muß die Macht ergreifen, um sein sozialistisches Programm zu verwirklichen. Wenn die „Macht" nur unter Bedingungen ergriffen werden kann, die diese Verwirklichung hinausschieben, statt sie näher zu bringen, dann ist es tausendmal besser, in der Opposition zu bleiben. Unmarxistische Bewunderer einer abstrakten „Macht", die irgendwo weit weg von der gesellschaftlichen Wirklichkeit freischwebend a.uf die „Eroberung" harrt, halten dies für eine „Schwäche". Jeder überzeugte Marxist wird hierin Trotzkis größte Stärke und sein Geschenk an die Geschichte sehen — nicht irgendeinen Fehler in seiner geistigen Konstitution.

War Trotzkis Kampf der 20er Jahre denn nur eine „Pose" um der Geschichte willen, um „das Programm zu retten"? Es sei nebenbei bemerkt, daß Trotzkis Vorgehen allein aus diesem Grunde völlig gerechtfertigt wäre. Denn es sollte inzwischen offensichtlich geworden sein, daß die Wiederentdeckung eines echten Marxismus durch die revolutionäre Avantgarde erheblich erleichtert wird durch die Tatsache, daß Trotzki, fast als Einziger, die Kontinuität des marxistischen Erbes während der „schwarzen 30er" Jahre hinüberrettete.

Aber in Wirklichkeit zielte Trotzkis Kampf auf ein näheres Ziel. Die sowjetische Arbeiterklasse war passiv — aber diese Passivität war nicht mechanisch über viele Jahre vorbestimmt. Jedes Anschwellen der internationalen Revolution, jede Verschiebung des innersowjetischen Kräftegleichgewichts hätte zu einer Neubelebung führen können. Das unmittelbare Instrument solch einer Verschiebung konnte nur die Komintern oder die KPdSU sein. Trotzki kämpfte, um die Partei dahin zu bringen, den bürokratischen Degenerationsprozeß selbst zu bremsen — eine Aufgabe, die ihm Lenin selbst gestellt hatte. Die Geschichte hat später gezeigt, daß der Parteiapparat selbst bereits so verbürokratisiert war, daß er den Prozeß der politischen Enteignung des Proletariats nicht bremste, sondern vielmehr vorantrieb. A priori hing der Ausgang des Kampfes jedoch von den konkreten politischen Entscheidungen der Führung der KPdSU ab — von den Alten Bolschewisten. Eine richtige Kuränderung zum richtigen Zeitpunkt hätte die Entwicklung umkehren können. Zwar hätte die Bürokratie nicht vernichtet werden können (dies war unter den Bedingungen eines rückständigen Landes in einer kapitalistischen Umgebung nicht möglich), aber ihre Schädlichkeit wäre wenigstens reduziert gewesen, und das Proletariat hätte neues Selbstbe-wußtsein gewonnen. Trotzkis „Versagen" war also hauptsächlich ein Versagen der Alten Garde, die erst zu spät die wahre Natur des ungeheueren Parasiten erkannte, den die Revolution gezeugt hatte. Gerade dieses „Versagen" läßt Trotzkis Verständnis des verzwickten und komplexen Verhältnisses zwischen den gesellschaftlichen Kräften, politischen Institutionen und Ideen der 20er Jahre um so deutlicher hervortreten.

3. War eine internationale Ausweitung der Revolution zwischen 1919 und 1949 unmöglich?

Wir erreichen nun die dritte Ebene der Kritik Krassos an Trotzki, die in einem gewissen Sinn das entscheidende und ganz eindeutig das schwächste Glied seiner Argumentationskette bildet: seine Kritik an Trotzkis „Erwartung" internationaler Siege der Revolution nach 1923.

Diesen ganzen Teil des Aufsatzes durchzieht ein seltsames Paradoxon. Krasso war von dem Vorwurf ausgegangen, Trotzki unterschätze die Rolle der Partei. Doch Trotzkis Hoffnung auf erfolgreiche Revolutionen im Westen war — wie Krasso nun behauptet — eine Folge seines „mangelnden Verständnisses des grundlegenden Unterschiedes zwischen der russischen und den westeuropäischen Gesellschaftsstrukturen". Mit anderen Worten, es sind die objektiven Verhältnisse, die — wenigstens zwischen den Weltkriegen — die Weltrevolution unmöglich machten. Im Gegensatz zu Trotzkis angeblichem „Voluntarismus" vertritt Krasso hier einen primitiven sozio-ökonomischen Determinismus. Da Revolutionen im Westen (noch) nicht gesiegt haben, haben sie erwiesenermaßen nicht siegen können, und wenn sie nicht siegen konnten, dann war dies eine Folge der „spezifischen Gesellschaftsstruktur" des Westens. Die Rolle der Partei, der Avantgarde, der Führung, die „Autonomie politischer Institutionen" ist nun völlig von der Bildfläche verschwunden — und dies nach Krassös eigener Argumentation, in einer Polemik gegen Trotzki! In der Tat ein merkwürdiger Purzelbaum . . .

Und Lenin? Wie erklärt Krasso die Tatsache, daß Lenin, der die notwendige Beziehung zwischen Partei und Gesellschaft in Krassos Worten „theoretisch bestimmt" hatte, genauso leidenschaftlich wie Trotzki an die Notwendigkeit glaubte, kommunistische Parteien und eine kommunistische Internationale aufzubauen? Ist dies in Krassos Augen auch „ineffektiver Voluntarismus"? Wie erklärt er die Tatsache, daß Lenin noch Jahre nach Brest-Litowsk an der Unvermeidlichkeit einer internationalen Ausweitung der Revolution im Westen und Osten festhielt?(26) (Krasso verdreht hier die historischen Tatsachen, wenn er das Gegenteil andeutet.)

Schließlich bleibt Krasso kein Ausweg als zu versuchen, einen Unterschied zwischen den Positionen von Lenin und Trotzki bezüglich des dialektischen Zusammenhangs der Oktoberrevolution und der internationalen Revolution zu konstruieren. Also unterstellt er Trotzki drei mechanistische und kindische Ideen: die Idee, daß Revolutionen in Europa „unmittelbar" 'vorstünden; die Idee, daß die kapitalistischen Verhältnisse überall, oder zumindest in ganz Europa, in gleichem Maße undohne nationale Unterschiede für die Revolution reif seien; schließlich die Einbildung, daß der Sieg dieser Revolution „sicher" sei. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß Krasso für diese Behauptungen nicht den Schatten eines Beweises erbringen kann. Dagegen ist es leicht, das Gegenteil zu beweisen.

Schon beim Dritten Kongreß der Komintern (1921) hat Trotzki, zusammen mit Lenin (beide gehörten dem „rechten Flügel" des Kongresses an) unmißverständlich erklärt, daß der Kapitalismus nach der ersten Welle der revolutionären Nach-kriegskämpfe in Europa eine Atempause gewonnen hat. An der Tagesordnung war nicht die „sofortige Revolution", sondern die Vorbereitung der kommunistischen Parteien auf die zukünftige Revolution, d. h. die Erarbeitung einer korrekten Politik, um die Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen und um die Kader und die Führung zu schaffen, die in einer revolutionären Situation fähig sein würden, diesen kommunistischen Parteien zum Sieg zu verhelfen.(27) In einer Kritik des von Bucharin und Stalin vorgelegten „Entwurf eines Programmes für die Kommunistische Internationale" erklärte Trotzki 1928 ausdrücklich: „Der revolutionäre Charakter der Epoche besteht nicht darin, daß sie die Durchführung der Revolution, d. h. die Machtergreifung zu jedem gegebenen Zeitpunkt ermöglicht. Sondern ihr revolutionärer Charakter besteht in tief reichenden und heftigen Schwankungen und abrupten und häufigen Übergängen von einer unmittelbar revolutionären Situation, d. h. einer Situation, die es der KP ermöglicht, die Übernahme der Macht anzustreben, zu einem Sieg der faschistischen oder faschistoiden Konterrevolution, und von diesem wieder zu einer vorübergehenden Herrschaft der goldenen Mitte (dem Linken Block, der Aufnahme der Sozialdemokraten in die Regierungskoalition, dem Übergang der Regierungsgewalt auf die Mac-Donald-Partei usw.), worauf dann der Kampf sofort in eine neue Krise hineingezwungen wird und die Machtfrage in verschärfter Form gestellt wird."(28) In seinen späten Schriften charakterisiert er unsere Epoche immer wieder durch eine schnelle Folge von Revolutionen, Konterrevolutionen und „vorübergehenden Stabilisierungen" — eine Folge, die gerade die objektiven Bedingungen für den Aufbau einer revolutionären Avantgarde-Partei des Leninschen Typs schafft.

Hier liegt in der Tat die Kernfrage, die Krasso nicht einmal stellt und daher natürlich nicht beantworten kann. Welche grundlegende Annahme liegt dem Organisationskonzept Lenins zugrunde? Es ist, wie Georg Lukacs treffend bemerkte, .die Annahme der Aktualität der Revolution(29), die bewußte und planmäßige Vorbereitung für die Machtübernahme des Proletariats in einer revolutionären Situation und die zugrundeliegende Überzeugung, daß aufgrund der objektiven Entwicklungsgesetze der russischen Gesellschaft solche revolutionäre Situationen früher oder später entstehen müssen. Als Lenin unter dem Eindruck des „Finanzkapitals" von Rudolf Hilferding(30) sein Buch über den Imperialismus schrieb, als er die Bilanz des Ersten .Weltkriegs zog, übertrug er jene Idee der Aktualität der Revolution folgerichtig auf das gesamte imperialistische Weltsystem: Die schwächsten Glieder würden zuerst reißen, aber gerade weil sie Glieder einer einzigen Kette wären, würde dann die ganze Kette allmählich eingerissen werden(31). Diese These war die Rechtfertigung für seine Forderung nach dem Aufbau einer III. Internationale. Sie bildete die programmatische Grundlage für die Komintern.

Mit diesem wichtigen Konzept darf nun nicht leichtfertig umgegangen werden. Entweder es ist theoretisch richtig und wird durch die Geschichte bestätigt, und nicht nur in diesem Falle entspricht das „dritte Gesetz der permanenten Revolution" der Wirklichkeit — dann liegt auch die Verantwortung für die Niederlagen der Arbeiterklasse in den 20er, 30er und 40er Jahren eindeutig bei ihrer Führung. Oder Lenins Konzeption nach dem 4. August 1914 war falsch, und die Erfahrung hat gezeigt, daß die objektiven Bedingungen für die periodische Entstehung revolutionärer Situationen in Westeuropa nicht reif waren — und in diesem Falle war nicht nur Trotzkis „drittes Gesetz der permanenten Revolution" ein „theoretischer Fehler" (um Krassö zu zitieren) — dann ist außerdem Lenins ganze Bemühung um den Aufbau kommunistischer Parteien, die das Proletariat zur Machtübernahme führen sollten, nichts als eine kriminelle Spaltertätigkeit, die als solche verurteilt werden muß. Haben die Sozialdemokraten nicht seit 50 Jahren mit demselben Hauptargument behauptet, die „sozio-politischen Verhältnisse" im Westen seien für die Revolution „noch nicht reif" — und Lenin habe die „grundlegenden Unterschiede zwischen den Gesellschaftsstrukturen Rußlands und Westeuropas nicht verstanden"?

Die Bilanz kann sehr schnell gezogen werden, zumindest auf der Ebene der historischen Erfahrungen. Von weniger bedeutenden Ländern abgesehen, gab es eine revolutionäre Situation in Deutschland 1918—19, 1920 und 1923 sowie die große Möglichkeit, eine erfolgreiche Verteidigung gegen die faschistische Bedrohung der frühen 30er Jahre in eine neue revolutionäre Situation zu verwandeln; es gab eine revolutionäre Situation in Spanien 1931, 1934 und 1936—37, in Italien 1920, 1945 und 1948 (zum Zeitpunkt des Attentats auf Togliatti), in Frankreich 1936 und 1944—47. Sogar in England gab es so etwas wie einen Generalstreik. . . Reichlich vorhandene Literatur, einschließlich nicht-kommunistischer und nicht-revolutionärer Quellen, bezeugt, daß in all diesen Situationen die Massen nicht mehr gewillt waren, die Existenz des kapitalistischen Systems zu tolerieren, daß sie instinktiv darauf drängten, das Schicksal der Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen und daß die herrschenden Klassen in weiten Kreisen verwirrt, gespalten, ja fast paralysiert waren — Lenins Definition einer klassischen revolutionären Situation. Richtet man seinen Blick weiter auf die ganze Welt, auf die chinesische Revolution der 20er und den vietnamesischen Aufstand der 30er Jahre — die nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu zwei gewaltigen Revolutionen heranwuchsen, die eine weltweite revolutionäre Bewegung der kolonialen und halbkolonialen Länder entfachten — dann muß man unumwunden zugeben, daß die Bezeichnung dieses halben Jahrhunderts als eines „Zeitalters der permanenten Revolution" (wie Isaac Deutscher und Georg Novack eine Auswahl aus Trotzkis Schriften betitelten(32) eine wirklichkeitsgetreue Zusammenfassung der historischen Erfahrungen darstellt.

Krasso kommt nun zu der erstaunlichsten Behauptung seines ganzen Aufsatzes: die Niederlagen der europäischen Revolutionen in den 20er, 30er und frühen 40er Jahren beweisen die „unzweifelhafte Überlegenheit der Perspektive Stalins über der Trotzkis". Denn so heißt es, Trotzki habe siegreiche Revolutionen vorausgesehen, während Stalin mit „der Möglichkeit erfolgreicher europäischer Revolutionen" nicht rechnete. Aber war es nicht genau umgekehrt? Trotzki glaubte überhaupt nicht an unbedingte siegreiche Revolutionen — weder in Europa noch sonstwo. Er kämpfte nur unermüdlich um eine korrekte 'Politik der Kommunistischen Bewegung, die es ihr schließlich ermöglichen würde — wenn nicht beim ersten, dann beim zweiten oder dritten Mal — revolutionäre Situationen in revolutionäre Siege umzugestalten. Durch seine Unterstützung einer falschen Politik trug Stalin eine tiefe Mitschuld an den Niederlagen dieser Revolutionen. Er lehrte die chinesischen Kommunisten, Chiang Kai-Check zu vertrauen; er drückte am Vorabend des blutigen Massakers der Schanghaier Arbeiter in einer öffentlichen Rede seine feste Überzeugung aus, der Henker Chiang sei ein „treuer Verbündeter"(33). Er lehrte die deutschen Kommunisten, in der Sozialdemokratie ihren Hauptfeind zu sehen und meinte, Hitler würde die Macht überhaupt nicht ergreifen bzw. nicht mehr als ein paar Monate halten können: die Kommunisten würden in Kürze den endgültigen Sieg davontragen. Er brachte den spanischen Kommunisten bei, daß sie ihre Revolution unterbrechen und zuerst im Bündnis mit der „liberalen" Bourgeoisie den „Krieg gewinnen" sollten. Er sagte den französischen und italienischen Kommunisten, sie müßten eine „neue Demokratie" aufbauen, die wegen ein paar kommunistischer Kabinettsmitglieder nicht mehr „ausschließlich" bürgerlich wäre.

Diese Politik führte in jedem genannten Fall zur Katastrophe. Doch wenn Krasso die Bilanz all dieser Katastrophen zieht, folgert er tatsächlich, daß Stalins Perspektive der Trotzkis unzweifelhaft (!) überlegen gewesen sei, denn, so heißt es, er hat ja „die Möglichkeit erfolgreicher europäischer Revolutionen" außer acht gelassen! Vielleicht hatte der stalinistische Kurs der III. Internationale ihre Umwandlung aus einem Instrument der Weltrevolution in ein schlichtes Hilfsmittel der sowjetischen Diplomatie, vielleicht hatte die Theorie vom Sieg und Aufbau des Sozialismus in einem Land doch etwas mit diesem Ausbleiben erfolgreicher europäischer Revolutionen zu tun?

Als Marxisten müssen wir eine letzte Frage stellen. Stalins „Fehler" im Bereich der Kommunistischen Internationale können nicht durch die „Erklärung" aus der Welt geschafft werden, er habe an „mangelndem Verständnis" oder „russischem Provinzialismus" gelitten — ebensowenig, wie die katastrophalen Folgen seiner Politik in der Sowjetunion durch die gänzlich unmarxistische Formel des „Personenkults" „erklärt" werden können.(34) Seine „verfehlte" Taktik entsprach in keiner Weise den Interessen des sowjetischen und des internationalen Proletariats; sie kostete Millionen Tote, die vermeidbar gewesen wären, Jahrzehnte von unnötigen Opfern und entsetzlichen Leiden unter der eisernen Herrschaft des Faschismus. Wie soll man nun die Tatsache erklären, daß Stalin fast 30 Jahre lang systematisch jede Kommunistische Partei, die außerhalb des Herrschaftsbereichs der Sowjetarmee die Macht zu ergreifen versuchte, bekämpfte oder sabotierte. Es muß sich doch für diese erstaunliche Tatsache eine gesellscbafiliche Erklärung finden lassen. Eine so systematische Politik kann nur als Ausdruck der speziellen Interessen einer besonderen gesellschaftlichen Gruppierung innerhalb der Sowjetgesellschaft verstanden werden: der Sowjetbürokratie.

Diese Gruppierung ist keine neue Klasse. Sie spielt im Pro-duktionsprozeß keine besondere, objektiv notwendige Rolle. Sie ist vielmehr der privilegierte Auswuchs eines Proletariats, das die Macht unter Bedingungen ergriffen hat, die für die Entfaltung der sozialistischen Demokratie äußerst ungünstig sind. Die Bürokratie ist wie das Proletariat grundsätzlich mit dem kollektiven Besitz der Produktionsmittel verbunden: deswegen hat Stalin die Kulaken schließlich niedergezwungen und sich der Nazi-Invasion nicht gebeugt. Die Bürokratie hat die grundlegenden sozio-ökonomischen Errungenschaften der Oktoberrevolution nicht zerstört, sondern sie im Gegenteil konserviert — wenn auch durch Praktiken, die in einen immer tieferen Konflikt mit den Hauptzielen des Sozialismus gerieten. Die sozialisierte Produktionsform, die aus der Oktoberrevolution entstanden ist, hat allen Angriffen von innen und außen standgehalten. Sie hat Hunderte von Millionen Menschen von ihrer Überlegenheit überzeugt. Dies ist der allgemeine historische Trend, der übrigens auch erklärt, warum die Weltrevolution nach dem Zweiten Weltkrieg nicht, wie die Pessimisten erwarteten, für Jahrzehnte zurückgeworfen wurde, sondern sich so leicht wieder erheben und so bedeutende Siege erringen konnte.

Aber die Bürokratie, im Gegensatz zum Proletariat, ist in allen ihren Einstellungen im Grunde konservativ. Sie ängstigt sich vor jedem neuen Anschwellen der Weltrevolution, sie erkennt, daß dadurch eine neue Phase der Militanz bei den Arbeitern im eigenen Land angeregt werden könnte, die die bürokratischen Befugnisse und Privilegien bedrohen würde. Die Theorie und Praxis des „Sozialismus in einem Land" in den 20er und 30er Jahren — wie die Theorie und Praxis der „friedlichen Koexistenz" in den 50er und 60er Jahren — war der vollendete Ausdruck der gesellschaftlichen Natur der Bürokratie. Gegen die Gefahr der Vernichtung durch den Imperialismus wird sie sich auf jeden Fall verteidigen; sie wird sogar versuchen, ihre eigene „Einflußzone" auszudehnen, solange dies das weltweite gesellschaftliche Kräftegleichgewicht nicht stört. Aber sie ist im Grunde gebunden an den Status quo. Amerikanische Staatsmänner haben entdeckt, daß dies langfristig zutrifft. Krasso sollte in seiner Analyse der russischen Außenpolitik seit Lenins Tod wenigstens nicht hinter ihnen zurückbleiben, und er sollte weitergehen und versuchen, eine gesellschaftliche Erklärung für dieses durchgehende Phänomen zu finden. Er wird keine andere finden, als die, die von Trotzki gegeben wurde.

Die Bürokratie und deren Apologeten können natürlich versuchen, diese Politik zu rationalisieren, indem sie erklären, daß es ihr nur darum gegangen sei, die Sowjetunion gegen die Gefahr des ganzen Haufens der durch anderweitige Revolutionen „provozierten" Kapitalisten zu verteidigen. In der gleichen Weise haben die Sozialdemokraten ständig argumentiert, daß sie Revolutionen nur deswegen ablehnten, weil sie die Organisationen und Errungenschaften der Arbeiterklasse vor der Zerstörung schützen müßten, die revolutionäre Aktivität „provozieren" könnte. Doch Marx lehrte uns, Parteien und gesellschaftliche Gruppierungen nicht anhand ihrer eigenen Rationalisierungen und erklärten Intentionen, sondern anhand ihrer objektiven Funktion und der objektiven Ergebnisse ihrer Handlungen zu beurteilen. In diesem Sinne spiegelt sich die wahre gesellschaftliche Natur der Sowjetbürokratie in der Gesamtheit ihrer Handlungen — genau so, wie nach Lenin die wahre gesellschaftliche Natur der Gewerkschaftsbürokratie und der kleinbürgerlichen Spitze der Sozialdemokratie in den imperialistischen Ländern ihre ständige Opposition gegen die sozialistische Revolution erklärt.

Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt unserer Kritik angelangt. Marxisten begreifen die relative Autonomie politischer Institutionen, aber dieses Verständnis schließt eine ständige Untersuchung der sozialen Wurzeln dieser Institutionen und der gesellschaftlichen Interessen, denen sie letztlich dienen, ein. Es beinhaltet außerdem, daß diese Institutionen, je weiter sie sich über die Klassen erheben, denen sie ursprünglich dienen sollten, auch gegen ihren Willen immer mehr der Tendenz verfallen, sich selbst zu verteidigen und immer mehr Gefahr laufen, den historischen Interessen der Klasse, aus der sie entstanden, zuwiderzuhandeln. So haben Marx und Lenin das Problem aufgefaßt. In diesem Sinne bedeutet Krassos Anschuldigung, Trotzki habe die mögliche Autonomie von „Parteien" und „Nationen" „unterschätzt" nichts anderes als die Anschuldigung, Marxist und Leninist zu sein. Wir sind davon überzeugt, daß Trotzki das Kreuz dieser Sünde gerne getragen hätte, mit stoischer Haltung und nicht ohne Genugtuung.

Anmerkungen

1) Zu Trotzkis Gunsten muß allerdings gesagt werden, daß auch Lenin vor 1917 für die kommende russische Revolution die Notwendigkeit einer strategischen Zielrichtung auf die Diktatur des Proletariats ablehnte. Der Sieg der Oktoberrevolution war das Ergebnis einer historischen Kombination aus Lenins Theorie und Praxis der revolutionären Avantgarde-Partei und Trotzkis Theorie und Praxis der permanenten Revolution.

2) Das »Hainfelder Programm« der österreichischen Sozialdemokratie erklärt 1889 unzweideutig: „Sozialistisches Bewußtsein ist daher etwas, was von außen in den proletarischen Klassenkampf hineingetragen werden muß." Kautsky widmete einen Artikel in der „Neuen Zeit" (vom 17. April 1901) dem Problem des Verhältnisses zwischen revolutionären Intellektuellen und Arbeitern („Akademiker und Proletariat"). Hier finden sich bereits die meisten Organisationsvorstellungen Lenins formuliert. Ausgehend vom Erscheinungsdatum kann man ohne Zweifel annehmen, daß dieser Artikel (einer von zwei Beiträgen über dieses Problem) Lenins »Was tun?« direkt angeregt hat.

3) Es sollte hinzugefügt werden, daß Trotzkis instinktives Mißtrauen gegenüber dem Eindringen dilettantischer Intellektueller in die Arbeiterpartei von Marx stammt und auch von Lenin vollständig geteilt wurde — ein Punkt, den Krasso geschickt übergeht. Vgl. Marx-Engels, »Rundbrief an Bebel, Liebknecht, Brache u. a. vom 17.-18. September 1897« (Marx-Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. II. Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1950) und W. I. Lenin, »Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück« (in den ausgewählten Werken, Bd. I. Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1946). Hier gibt Lenin seinem ganzen Hohn angesichts jener „Bürgerlichen Intellektuellen, die die Disziplin und die Organisation des Proletariats fürchten", Ausdruck. Und was die „krönende Ironie" angeht, die Krasso in der Tatsache entdeckt, daß Trotzki gegen Ende seines Lebens mit jenen von ihm verabscheuten und verachteten „Salonliteraten" vom Typ eines Burnhams oder Schachtmans diskutieren mußte — so vergißt Krasso, daß Engels mit einem Dühring und Lenin mit einem Bulgakow, die Burnham oder Schachtman in keiner Beziehung überlegen waren, diskutieren mußte. Es ist Krasso, der die »parteibildende Funktion« solch erzieherischer Polemiken nicht begreift —- eine Funktion, die von den Meistern des Marxismus sehr wohl begriffen wurde.

4) Wie das von Krasso angeführte Trotzki-Zitat klar erkennen läßt, begriff Trotzki in dem Augenblick, als die versöhnlerische Politik der Menschewiki während der Revolution von 1917 erkennbar wurde, daß ein Zusammengehen mit ihnen unmöglich war.

5) Isaac Deutscher, »Der bewaffnete Prophet«, 1897—1921. Stuttgart (Kohlhammer) 1962. S. 158.

6) »The Founding Conference of the Fourth International«, hrsg. von der Socialist Workers Party. New York 1939, S. 16.

7) Bereits am 1. November 1914 schrieb Lenin: „Die II. Internationale ist tot, vom Opportunismus besiegt . . . Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren." Lenin-Sinowiew, »Gegen den Strom«, Verlag der Kommunistischen Internationale 1921, S. 6.

8) Bereits 1908 schrieb Lenin: „Die Grundvoraussetzung für diesen Erfolg war natürlich der Umstand, daß die Arbeiterklasse, von deren Elite die Sozialdemokratie geschaffen wurde, sich kraft objektiver ökonomischer Ursachen unter allen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft durch die größte Fähigkeit zur Organisation auszeichnet. Ohne diese Vorbedingung wäre die Organisation von Berufsrevolutionären eine Spielerei, ein Abenteuer ... die Broschüre ,Was tun?' betont immer wieder, daß die von ihr befürwortete Organisation nur Sinn hat im Zusammenhang mit der ,wahrhaft revolutionären und spontan sich zum Kampf erhebenden Klasse'." »Zwölf Jahre«, in: Sämtliche Werke, Bd. XIII, S. 95 f.

9) „Es war gerade Marx, der das große Bewegungsgesetz der Geschichte zuerst entdeckt hatte, das Gesetz wonach alle geschichtlichen Kämpfe, ob sie auf politischem, religiösem, philosophischem oder sonst ideologischem Gebiet vor sich gehen, in der Tat nur der mehr oder weniger deutliche Ausdruck von Kämpfen gesellschaftlicher Klassen sind, und daß die Existenz und damit auch die Kollisionen dieser Klassen wieder bedingt sind durch den Entwicklungsgrad ihrer ökonomischen Lage, durch die Art und Weise ihrer Produktion und ihres dadurch bedingten Austausches." Engels, Vorrede zur Dritten Auflage des »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« in: Marx-Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. I, S. 225.

10) Eines der traurigsten Dokumente der 20er Jahre ist gerade Stalins 1925 geschriebene Broschüre »Fragen und Antworten«, in der er erklärt, daß ein Zerfallen des Staates und der Partei möglich sei, „vorausgesetzt" daß die Sowjetunion außenpolitisch den proletarischen Internationalismus aufgebe, die Welt mit den Imperialisten in Einflußsphären aufteile, oder die Komintern auflöse — Eventualitäten, die er natürlich für völlig unmöglich erklärt, aber die er selbst 18 Jahre später in Wirklichkeiten verwandeln sollte.

11) In »Der ,Linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus« betont Lenin die Notwendigkeit für die kommunistische Avantgarde, die Unterstützung der „ganzen Arbeiterklasse" und der „breitesten Massen" zu gewinnen, bevor sie mit Erfolg die Macht ergreifen könne. Ausgewählte Werke, Bd. II.

12) Marx-Engels, Ausgewählte Werke, Bd. l, S. 223.

13) Diese Interessen sind jedoch von denen des Proletariats nicht völlig verschieden — wie auch etwa die faschistische Bürokratie sich nie völlig vom Monopolkapitalismus lösen kann. In beiden Fällen wird die Verteidigung der allgemeinen historischen Interessen der Klasse (kollektives Eigentum einerseits, Privateigentum andererseits) gekoppelt mit der durchgehenden politischen Enteignung derselben Klasse — was zugleich für viele Mitglieder dieser Klasse große persönliche Härten mit sich bringt.

14) Vgl. Marx, »Der Bürgerkrieg in Frankreich«, und Engels, »Einleitung zum Bürgerkrieg in Frankreich«.

15) Kautsky, «Der Ursprung des Christentums». 13. Auflage, Stuttgart (Dietz) 1923. S. 499.

16) In seinem Bericht über das Parteiprogramm auf dem VIII. Parteitag der KPR (B) vom 19. März 1919 kommt Lenin immer wieder auf die Bürokratie zu sprechen: „Zaristische Bürokraten begannen in Sowjetbehörden überzugehen und Bürokratismus einzuführen, begannen sich als Kommunisten aufzumadien und, der erfolgreicheren Karriere wegen, sich Mitgliedsbücher der KPR zu verschaffen." „Den Bürokratismus restlos, bis zum vollen Sieg zu bekämpfen, ist nur dann möglich, wenn die ganze Bevölkerung an der Verwaltung teilnehmen wird." „ . . . das Kulturniveau ist nicht gehoben worden, und darum sitzen die Bürokraten an ihren alten Plätzen." Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 522-523.

17) Beispiele: „Aber beim proletarischen Staate vom Übergangstypus, wie es der unsere ist, kann das Endziel (des Streikkampfes) nur die Festigung des proletarischen Staates und der proletarischen Klassen-Staatsmacht sein, auf dem Wege des Kampfes gegen bürokratische Auswüchse dieses Staates . . .« (Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 903 vom 17. Januar 1922); „Wenn man Moskau nimmt — 4700 verantwortliche Kommunisten — und dazu dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich zweifle sehr, daß man sagen könnte, die Kommunisten führen diesen Haufen. Um die Wahrheit zu sagen: nicht sie führen, sondern sie werden geführt." (»ibid.«, S. 936 vom 27. März 1922); „In Parenthese sei bemerkt: Bürokratie pflegt bei uns nicht nur in den Sowjet-, sondern auch in den Parteiinstitutionen vorzukommen" (Lenin, »ibid.«, S. 1012 vom 2. März 1923). Im dritten Zusatz zu seinem Testament, den er am 26. Dezember 1922 entwarf, schlug Lenin vor, einige Dutzend Arbeiter in das Zentralkomitee aufzunehmen — aber solche Arbeiter, die nicht innerhalb des Sowjetapparats gearbeitet hätten, da diese bereits mit dem Virus des Bürokratismus infiziert seien.

18) Es trifft nicht zu, wie Krasso behauptet, daß Lenin in seinem Testament „kein besonders ausgeprägtes Vertrauen" zu Trotzki zeigte. Das Testament stellt Trotzki als das fähigste Mitglied des ZK dar. Freilich unterstreicht Lenin hier auch das, was er als Trotzkis Schwäche ansieht. Aber er sagt voraus, daß es zwischen Trotzki und Stalin zu einem heftigen Konflikt kommen wird und macht den Vorschlag, Stalin aus seiner zentralen organisatorischen Position zu entfernen. Was das bedeutet, liegt auf der Hand.

19) Krassos Darstellung dieser Fehler ist in zahlreichen Fällen einfach falsch. Er irrt sich, wenn er die Idee der „Militarisierung der Arbeit" Trotzki zuschreibt — sie war eine kollektive Entscheidung der Partei beim IX. Parteitag der KPdSU. Krasso behauptet, daß sich Trotzki nicht für die Veröffentlichung von Lenins Testament eingesetzt habe — in Wirklichkeit wurde Trotzki in diesem Punkt niedergestimmt und wollte sich der Parteidisziplin — aus Gründen, die weiter unten zu behandeln sein werden — nicht entziehen. Trotzki „ist es völlig entgangen, daß Stalin entschlossen war, ihn aus der Partei auszuschließen", erklärt Krasso. Dies mag für 1923 zutreffen — aber zu jener Zeit hat es auch niemand sonst erkannt, und Stalin selbst hatte wahrscheinlich noch nicht die Absicht, so weit zu gehen. Aber Trotzki erkannte den Ernst der Lage in der Partei und im Staate früher als alle anderen Bolschewiki-Führer, so die Zustände, die im Zusammenhang mit dem besonderen Charakter Stalins nicht nur Ausschlüsse, sondern auch blutige Unterdrückungen zur Folge haben würden. Krasso behauptet, daß Trotzki sich um den Zusammenbruch der Troika Stalin-Sinowiew-Kamenew nicht weiter gekümmert habe. Er fügt nicht hinzu, daß aus diesem Zusammenbruch später die Vereinigte Linke Opposition Trotzkis mit Sinowiew-Kamenew hervorging, und daß diese Einheitsfront 1927—28 nicht durch Trotzki und seine Freunde, sondern durch die Sinowiewisten zerbrochen wurde.

20) Allerdings muß man zugunsten Lenins hinzufügen, daß er, während er diese Fehler machte, zugleich eine Reihe von vorbeugenden Maßnahmen einzuführen versuchte, um den Prozeß der Bürokratisierung von Staat und Partei zu bremsen. Das „Troika"-System war für die Fabriken ein wirksames Mittel, um die Autorität der Fabrikmanager einzuschränken. Die rechtliche Stellung der Gewerkschaften wurde verbessert (hier behielt Lenin bei seiner Kritik der Vorschläge Trotzkis Recht). Auch das Prinzip des „Höchsteinkommens für Parteikader" wurde beibehalten. Zwar wurden die Fraktionen abgeschafft, aber das Recht, Richtungen zu bilden, wurde gleichzeitig gefestigt, und Schlyapnikow erhielt das Versprechen, daß seine oppositionellen Ansichten in Hunderttausenden Kopien verbreitet werden würden. Aber die Geschichte hat uns gelehrt: je passiver das Proletariat in politischer Hinsicht wurde, je mehr die Macht der Bürokratie anschwoll, desto größer wurde die Gefahr, daß die Bürokratie diese vorbeugenden Maßnahmen mit wenigen Handgriffen hinwegraffen würde — wie es in den späten 20er und frühen 30er Jahren denn auch geschah.

21) Krasso bezeichnet die Formel von der „permanenten Revolution" als eine „unpassende Bezeichnung, welche den Mangel an wissenschaftlicher Präzision sogar seiner tiefsten Gedanken erkennen läßt". Er scheint die Tatsache zu ignorieren, daß Marx selbst diese Formulierung prägte.

22) In einem Kapitel seiner Kritik des »Programmentwurfs der Komintern« zeigt Trotzki in detailliertester Weise, wie Stalin und seine Verbündeten die Frage der Möglichkeit der siegreichen sozialistischen Revolution in einem Land, die die Notwendigkeit des Inangrirrnehmens der sozialistischen Organisation und des ökonomischen Aufbaus mit einschloß, mit der Frage des Endsieges des Sozialismus, d. h. der Etablierung einer voll entwickelten sozialistischen Gesellschaft, bewußt vermengten. (»The Third International after Lenin«, New York, Pioneer Publishers 1936, S. 24—40). Interessanterweise schrieb Stalin selbst noch 1924, in der ersten russischen Ausgabe seines Werkes über »Lenin und den Leninismus«: „Für den Endsieg des Sozialismus, für die Organisation der sozialistischen Produktion, sind die Anstrengungen eines Landes, besonders eines so bäuerlichen Landes wie Rußland, nicht ausreichend." Die von Trotzki angeführten ökonomischen Begründungen, die Krasso so verworren auslegt, sehen völlig vernünftig aus, sobald man sie vom Standpunkt des „Endsiegs" und nicht des „beginnenden Aufbaus" betrachtet. Offensichtlich muß eine voll entwickelte sozialistische Ökonomie eine höhere Arbeitsproduktivität entwickeln, als die höchstentwickeltste kapitalistische Ökonomie; hierüber waren sich sogar Stalin und Bucharin einig. Trotzkis Argument lautete nur, daß es in einem im Grund autarkischen Lande nicht möglich sein würde, eine höhere Arbeitsproduktivität zu erreichen als die kapitalistischen Länder mit ihrer internationalen Arbeitsteilung. Nirgends hat er behauptet, daß dies zu einer unvermeidlichen „Subversion" der Planwirtschaft innerhalb der UdSSR führen würde. Er erklärte bloß, daß es deswegen zu heftigen Konflikten und Widersprüchen kommen müßte, die die Sowjetunion daran hindern würde, eine klassenlose Gesellschaft zu erreichen. Die historische Entwicklung hat diese Prognose voll bestätigt.

23) Unseres Erachtens hat die Geschichte die Richtigkeit dieser Grundkonzeption erwiesen. Auch heute noch nach einem siegreichen Krieg gegen den Nazi-Imperialismus und nach der totalen Liquidierung der Klasse der Kulaken — zwei gewaltsamen Zusammenstößen, die Trotzki schon Anfang der 20er Jahre als unvermeidlich erkannte — hängt das Schicksal der Sowjetunion vom Ausgang gegenwärtiger und zukünftiger gesellschaftlicher Konflikte — sowohl national wie international ab. Letzten Endes hängt ihr Schicksal — wie das der Menschheit überhaupt •— von der Fähigkeit der arbeitenden Massen der Vereinigten Staaten ab, die Herrscher dieses Landes zu entwaffnen, bevor sie die letzte Stufe des machtbesessenen Wahnes erreichen und durch die Entfesselung eines nuklearen Krieges in der Praxis ihren Glauben an die Losung „lieber tot als rot" demonstrieren — wie es Hitler unter ähnlichen Umständen 1944-45 tat.

24) Dies ist nur ein Beispiel dafür, daß Stalin Trotzkis Programm gerade »nicht« übernahm, sondern lediglich Teile daraus verwirklichte, ohne den dazugehörigen inneren Zusammenhang zu beachten. Die Opposition hatte seit 1923 um die Gründung einer Traktorenfabrik in Tsaritsyne gekämpft. Im Prinzip wurde dieser Plan akzeptiert, aber vor 1928 wurde nicht gehandelt. Wenn die Produktion von Traktoren schon 1924—25 eingesetzt hätte, wenn die Kolchosen allmählich aufgebaut worden wären, hätten sich die armen Bauern ihnen freiwilig angeschlossen, weil die Arbeitsproduktivität und das Einkommen der Bauern im genossenschaftlichen Sektor höher gewesen wären. Diese Kombination von Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft hätte eine völlig andere Lage entstehen lassen, als die Tragödie, die 1928—32 eintrat und der Sowjetunion bis in die späten 50er Jahre zu schaffen machte.

25) Die Opposition schlug als Alternative zu dieser durch rigorose Senkung des Lebensstandards der Arbeiter und Bauern erzwungene Akkumulation, wie sie Stalin praktizierte, eine Sonderbesteuerung der reichen Bauern vor, die verbunden werden sollte mit einer radikalen Senkung der Verwaltungskosten (Ersparnisse von mehr als einer Milliarde Goldrubeln im Jahr). Die Ziele des Fünf-Jahres-Plans hätten auf acht oder zehn Jahre ausgedehnt und mit viel geringerem Konsumverzicht der Masse des Volkes erreicht werden können.

26) Nur zwei Zitate: „Die erste bolschewistische Revolution hat die ersten hundert Millionen Menschen auf der Erde dem imperialistischen Kriege, dem imperialistischen Frieden entrissen. Die folgenden Revolutionen werden die ganze Menschheit diesen Kriegen und diesem Frieden entreißen" (Lenin, Ausgewählte Werke II, S. 889 vom 14. Oktober 1921). „Sie (die ausländischen Genossen) müssen im speziellen Sinne lernen, damit sie wirklich die Organisation, den Aufbau, die Methode und den Inhalt der revolutionären Arbeit erfassen. Wenn das geschieht, so werden, davon bin ich überzeugt, die Perspektiven der Weltrevolution nicht nur gut, sondern ausgezeichnet sein" (»ibid.«, S. 977 vom 16. November 1922).

27) Zweifellos ein typisches Beispiel für die „Unterschätzung der Autonomie politischer Institutionen ..."

28) L. Trotzki, »The Third International after Lenin«, op. cit., S. 81—82.

29) Georg Lukacs, »Lenin«, Neuwied/Berlin 1967, S. 28—29.

30) Rudolf Hilferding, »Das Finanzkapital« (Verlag der Wiener Volksbuchhandlung) schließt S. 477 mit einem Absatz, der das Finanzkapital als vollendete Diktatur der Großindustrie charakterisiert und einen „schrecklichen Zusammenstoß antagonistischer (gesellschaftlicher) Interessen" prophezeit, der diese Diktatur der Großindustrie schließlich in die Diktatur des Proletariats verwandeln wird.

31) Lenins 1915 geschriebene Broschüre »Der Zusammenbruch der II. Internationale« (Lenin-Sinowiew, Gegen den Strom, S. 129—170 // = »Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale«, Lenin, Ausgewählte Werke I, S. 755—766 //) kreist um die Idee, daß in Europa eine revolutionäre Situation heranreift, und daß revolutionäre Sozialisten handeln müssen, um die revolutionären Empfindungen und Aktionen der "Massen anzustacheln. Seine Beiträge auf den ersten beiden Kongressen der Kommunistischen Internationale dehnen diese Analyse auf alle kolonialen und halbkolonialen Länder aus.

32) Laurel Edition, Dell Publishing Company, New York 1964.

33) Es ist eine wissentliche Verdrehung der historischen Wahrheit, wenn die maoistische Führung der KP Chinas weiterhin den Führer der KPCh in der Zeit von 1925—27, Chen Tu Hsui, zum Hauptverantwortlichen für diese Fehler macht und damit die Tatsache verdeckt, daß er nur auf direkte und dringliche Anweisung der Kommunistischen Internationale und in erster Linie auf persönliche Anweisung Stalins handelte.

34) Aber wurde Stalins Politik nicht durch den Sieg der UdSSR im Zweiten Weltkrieg nachträglich gerechtfertigt, fragen viele? Krasso deutet darauf hin. Die Dinge so aufzufassen und den ungeheueren Preis dieses Sieges, die zahllosen vermeidbaren Toten und Niederlagen (auch im Kriege — eine ganze Literatur ist in der Sowjetunion über dieses Thema entstanden), heißt nur, ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit zu geben. Ein Mann im fünften Stock weigert sich, mit dem Fahrstuhl zu fahren oder auch nur das Licht einzuschalten, weil er um jeden Preis den engen Treppenaufgang im Dunkeln hinabsteigen will. Wie zu erwarten, stolpert er, fällt die Treppe herunter, aber dank seinem kräftigen Körperbau bricht er nicht seinen Hals sondern nur beide Arme und Beine, so daß er nach vier Jahren sogar an Krücken gehen kann. Dies ist ohne Zweifel ein Beweis seiner körperlichen Rüstigkeit; aber spricht es dagegen, den Fahrstuhl zu nehmen?

35) Wie wir heute wissen, versudite Stalin auch, die jugoslawischen und chinesischen Kommunisten von einer Machtergreifung abzuhalten. Er riet der vietnamesischen KP, innerhalb der französischen Kolonialherrschaft — nun umgetauft in „französische Union" — zu bleiben. Die von ihm ausgebildete Partei weigerte sich hartnäckig mehrere Jahre lang, sich für den cubanischen Weg Fidel Castros zur sozialistischen Revolution zu engagieren. Verlangen diese Tatsachen nicht nach einer »soziologischen« und nicht bloß nach einer »psychologischen« Erklärung?

Editorische Hinweise

Wir entnahmen den Text aus:Sozialistisches Jahrbuch 2, hrg. v. Wolfgang Dreßen, Westberlin 1970, S. 214-240, OCR-Scan red. trend