Zum Beitritt der DDR
am 3. Oktober 1990

Kritisches von gestern und heute

ausgewählt von
der TREND-Redaktion

10/2020

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onlinezeitung

 Gegen nationale Verantwortungslosigkeit
Die Zeitschrift Sozialismus diskutiert mit Hans Modrow


Modrow und Kohl am 19.12.1989

Sozialismus: Die Bonner Anschluß-und Einverleibungspolitik mündet - so muß man es mittlerweile wohl formulie­ren - in einer Katastrophe: Zusammen­bruch der Ökonomie in Industrie und Landwirtschaft, rasanter Anstieg der Massenarbeitslosigkeit, wachsende so­ziale Spannungen, zunehmende Exi­stenzängste. Von der Regierung de Mai­ziere erwartet kaum noch jemand Besserung. Du wirfst ihr Konzeptionslo-sigkeit vor, charakterisierst ihre Ent­wicklung als Übergang von einer Über­gabe- zu einer Kapitulationspolitik. Umso mehr stellt sich die Frage, wie zu erklären ist, daß sich diese Politik durchsetzen konnte.

Modrow: Da kann man nicht nur in der aktuellen Situation ansetzen, sondern muß einen etwas breiteren Bogen span­nen.

Zunächst möchte ich betonen, daß niemand das Scheitern, den Zusammen­bruch des Modells leugnet, das 40 Jahre die Entwicklung der DDR bestimmt hat. Grundsätzlich ist zu sagen, daß sich in der DDR eine überzentralisierte, büro­kratische Form der Planwirtschaft her­ausgebildet hatte, die ökonomische Ak­tivitäten reglementierte, statt sie zu fördern, zu entfalten. Hinzu kam, daß das Konzept der Einheit von Wirt­schafts- und Sozialpolitik daraufhinaus­lief, ein höheres Sozialprodukt zu vertei­len, als erwirtschaftet wurde. Das führte dazu, daß die Akkumulation mehr und mehr an den Rand gedrängt und die Mo­dernisierung der Wirtschaft derart be­hindert wurde, daß letztlich die volks­wirtschaftliche Reproduktion nicht mehr gesichert war. Unter Mittag wurde dies kaschiert durch die Zurschaustellung und Konzentration auf einige wenige moderne Technologien - den berühmten Mega-Chip z.B.; in einer Mischung von Selbsttäuschung, Inkompetenz und be­wußter Manipulation redete man davon, Weltniveau erreicht zu haben, obgleich wir meilenweit davon entfernt waren.

Das sind einige der grundlegenden Ursachen für die aktuellen Probleme. Die Fehler und Fehlentwicklungen müs­sen intensiv und gründlich aufgearbeitet werden. Dies umso mehr, als heute be­reits wieder sehr oberflächlich über die 40 Jahre DDR geurteilt wird, verdrängt wird, daß wir im Vergleich mit den an­deren sog. sozialistischen Staaten immer als der Staat mit der größten Effizienz, mit der solidesten ökonomischen Grund­lage galten. Jetzt wird so getan, als ob davon nie etwas existiert habe.

Meine Position war, daß man in der Übergangsphase, nach dem Zusammen­bruch des alten Systems, versuchen mußte, Elemente der Perestroika für die DDR zu nutzen. Das war die Grundüber­legung in meiner Regierungserklärung vom 17. November, die auch von der CDU - die ja unter ihrem neuen Vorsit­zenden Lothar de Maiziere der Regie­rung angehörte - getragen wurde. Die Öffnung der Grenze am 9. November von DDR-Seite aus - über die völlig ungenügende Vorbereitung dieses Schrittes durch die damalige SED-Füh­rung unter Krenz will ich mich hier im einzelnen nicht äußern -, führte auch zunächst dazu, daß der politische Druck etwas nachließ, bevor die Öffnung der Grenze von Seiten der BRD am 22. De­zember uns vor neue massive ökonomi­sche Probleme stellte. Dennoch gelang es uns im 1.Quartal 1990 im großen und ganzen noch, die Reproduktionsprozes­se aufrechtzuerhalten; zwar mit leicht rückläufiger Tendenz, aber bei weitem nicht vergleichbar mit dem tiefen und schnellen Absacken, wie wir es jetzt be­obachten können. Die Gewinnabfüh­rung konnte weitgehend aufrechter­halten und damit die staatlichen Finan­zen stabilisiert werden.

Die ständigen Angriffe seitens der Bonner Regierung, die Forderungen, umfassend und beschleunigt zu privati­sieren und die Wirtschaft von allen zen-tralistischen Strukturen frei zu machen, die sich häufenden Erklärungen, west­deutsche Investoren würden erst nach Beseitigung zentralistischer Hemmnisse kommen, machten dann aber bald klar, daß sich eine Perestroika in der DDR nicht mehr verwirklichen ließ, so daß wir uns darauf konzentrierten, Bedin­gungen und Voraussetzungen für eine schrittweise Anpassung einer Wirt­schaftsgemeinschaft herbeizuführen. Das war das Konzept, an dem die strate­gische Gruppe um Christa Luft immer wieder gearbeitet hat.

Sozialismus: Deine These ist also, daß die ökonomischen Grundlagen für eine Politik des schrittweisen Ubergangs durchaus vorhanden waren. Demgegen­über hast Du an anderer Stelle einmal gesagt, daß der Versuch, aus der Mark der DDR allmählich eine Hartwährung zu machen, u.a. an der zunehmenden Schwäche der DDR-Wirtschaft geschei­tert sei. Ein Widerspruch.

Modrow: Nur scheinbar. Die Schwäche unserer Wirtschaft, gerade in Konkur­renz zur Wirtschaftsmacht der Bundes­republik, ist offenkundig. Das heißt aber nicht, daß sie kurz vor dem Zusammen­bruch gestanden hätte. Sie wurde und wird durch die jetzt praktizierte Politik erst dahin getrieben. Der entscheidende Punkt ist: Wie kann man gegensteuern? Nicht nur in der Wirtschaftspolitik, auch auf ökologischem Gebiet, in den stark belasteten Ballungsgebieten, wo sich zeigte, daß die Menschen immer weni­ger bereit waren, mit uns mitzugehen. Ich habe Sonderkommissionen einge­setzt, die sich mit solchen Strukturpro­blemen beschäftigten. Wir begannen, Umschulungsmaßnahmen zu erarbeiten, um auf ökologisch sinnvolle Produktio­nen umzustellen. Wir haben zeitig Ar­beitsämter geschaffen, die Vorruhe­standsregelung verabschiedet - alles Maßnahmen, die arbeitsmarktpolitisch zu einer ansatzweisen Stabilisierung führten. Und weil wir das alles garnicht nur in eigener Verantwortung machen konnten, kam es am 28. Januar zur Re­gierung der nationalen Verantwortung unter Teilnahme von Vertretern der op­positionellen Parteien und Bürgerrechts­bewegungen.

Nach dem 18. März konnte von Ge­staltung des Übergangs keine Rede mehr sein. Die Politik der schnellen Wirt­schafts- und Währungsunion schuf ein Vakuum, führte dazu, daß die ökonomi­schen Kreisläufe zunehmend ins Stok-ken kamen und dem Staat die Finanz­quellen entzogen wurden. Weder die Re­gierung de Maiziere, noch die vielen Rat- und Auftraggeber aus der BRD, die in den Wirtschafts- und Staatsapparat einzogen, haben konzeptionell etwas zu­wege gebracht - das meine ich mit dem Stichwort Kapitulationspolitik. Selbst Maßnahmen der Regulierung und Steue­rung des Marktes, wie sie in der Bundes­republik oder in der EG - z.B. im Be­reich der Landwirtschaft - üblich sind, sind garnicht erst in Angriff genommen worden. Stattdessen wird konzeptions­los nurmehr spontan auf die jeweilige Marktsituation reagiert.

Sozialismus: In Deiner in der ZEIT ver­öffentlichten Bilanz der Zeit von Novem­ber 1989 bis März 1990 lauten die Leitli­nien der Regierungspolitik: Schaden be­grenzen, Wirtschaft ingang halten, Ver­sorgung sichern. Heißt Perestroika für Dich also näher: Gestaltung eines schrittweisen Übergangs von der Kom­mandowirtschaft zu einer sozial regu­lierten Marktwirtschaft?

Modrow: Das war die Aufgabe, die wir uns gestellt hatten. Wir gingen z.B. von der Einschätzung aus, daß wir aus eige­ner Kraft keine rasche Modernisierung auf breiter Front hinbekommen würden. Deshalb war unser Ansatz, Kapitalbetei­ligungen, Joint Ventures zu ermögli­chen, aber unter Beibehaltung der Domi­nanz staatlichen Eigentums. Einen Er­satz für die Wirkung von Angebot und Nachfrage, Wert und Preis gibt es nicht. Dieser Tatsache muß auch jeder lenken­de Eingriff in die Wirtschaft Rechnung tragen. Die Bildung der Treuhandanstalt am 1. März zielte genau in diese Rich­tung: nicht schnelle Privatisierung, son­dern Sicherung und Modernisierung der öffentlichen AGs und GmbHs im Rah­men und unter Zuhilfenahme von Joint-Venture-Vereinbarungen. Dies alles mit der Priorität: Stabilisierung der Versor­gungslage.

In der Phase nach dem 9. November, als die Bürger der DDR in den Westen reisen konnten, war es zunächst so, daß sehr viel Geld in den Westen floß, da der Umtauschkurs in den Spitzen bis auf 1:20 hochging, und der Druck auf den inneren Markt zurückging. Nach dem 22. Dezember war die Grenze aber auch für BRD-Bürger offen, so daß das billige Geld in unseren subventionierten Markt zurückfloß. In der Regierung gab es dann auch heftigen Streit, welche Ge­genmaßnahmen notwendig seien, um ei­nen Ausverkauf zu verhindern. Eine der konkreten Maßnahmen war z.B., daß be­stimmte Waren - unter Vorlage des Aus­weises - nur an DDR-Bürger verkauft werden durften.

Jedenfalls ist es uns bis zum März gelungen, die Versorgung aufrechtzuer­halten; der Markt ist bis dahin nicht zu­sammengebrochen. Dies passierte erst im Vorfeld der Währungsunion als mas­senhaft Waren verschwanden, weil z.B. die Bewertung der Waren im Lager völ­lig ungeklärt war. Auch daran sieht man, wie konzeptionslos die Regierungen de Maiziere und Kohl an die Sachen heran­gingen.

Sozialismus: Nun war ja auch die Re­gierung der großen Koalition anfangs mit einem durchaus eigenständigen Pro­gramm angetreten, ist dann aber schnell auf den Kurs der Bonner Regierung ein­geschwenkt. Wie erklärst Du dir den ra­biaten Verfall der Politik de Maizieres?

Modrow: De Maiziere gab am 18. April seine Regierungserklärung ab. Zu dem Zeitpunkt ging er davon aus, daß der Vereinigungsprozeß sich zumindest noch über das ganze Jahr 1990 hinziehen würde, daß entsprechend auch eine ei­genständige, DDR-spezifische Wirt­schaftspolitik für diesen Zeitraum aus­gearbeitet werden müsse. Dabei stellten sich jedoch zwei Probleme. Erstens der subjektive Faktor: Die Regierungs­mannschaft hatte nicht nur kein Kon­zept, sie war auch fachlich unfähig, in­kompetent ...

Sozialismus: ... z.B. der Wirtschaftsmi­nister Pohl ...

Modrow: Hinzu kam zweitens der im­mer stärkere Druck aus Bonn, nachdem dort die Entscheidung für den raschen Vollzug der Wirtschafts- und Wäh­rungsunion und den Entzug der Souverä­nitätsrechte der DDR in allen damit zu­sammenhängenden Fragen gefallen war. Historiker werden später vielleicht ein­mal rekonstruieren können, wie sich die­ser Druck über die Bonner Berater, die letztlich die Politik in Berlin bestimm­ten, durchsetzte; nach außen wurde und wird das bis heute ja nicht sichtbar, das passiert unter Ausschluß der Öffentlich­keit und der Volkskammer.

Ein Signal dafür, wie diese inkompe­tente Regierung falsche Politik machte, war für mich der Umgang mit der Treu­handanstalt. Im Juni, als sich die Lage der Unternehmen schon deutlich ver­schlechtert hatte, verfügte de Maiziere, daß alle Kreditanträge der Betriebe auf 41% herabgesetzt werden, mit der schlichten Begründung, früher sei so­wieso immer das doppelte gefordert worden, so daß jetzt weniger als die Hälfte dem realen Kreditbedarf entsprä­che. Wenn Leute mit derartigen Faustre­geln Politik machen, muß man sich nicht wundern, daß es zu Massenarbeitslosig­keit kommt.

Sozialismus: Muß man da nicht radika­ler formulieren, daß die Bonner Regie­rung offensichtlich auch beim Regie­rungswechsel überhaupt kein Interesse hatte, eine sozialverträgliche Entwick­lung zustande zu bringen? Schon beim Treffen der Regierungen Mitte Februar in Bonn war doch der überwältigende Eindruck, mit welcher Arroganz Kohl euch abkanzelte - nicht nur Dich, son­dern auch Eppelmann und Ullmann. Vielleicht hatte auch de Maiziere diese Härte der Bonner unterschätzt.

Modrow: Kohl hat alle unsere Vor­schläge und Forderungen kategorisch abgelehnt, so auch den Vorschlag vom Februar, die BRD möge Bemühungen der DDR um Stabilität mit der Sofort­maßnahme eines Solidarbeitrages unter­stützen. Nicht aus sachlichen Gründen, darüber hätte man im Streitfall verhan­deln können; und die Vorhaltung, wir hätten die Daten nicht auf den Tisch ge­legt, ist schlicht falsch. Kohl handelte von vornherein aus ganz einseitigen po­litischen Motiven. Ihm ging es nur dar­um, die Wahlen im März zu gewinnen. Deshalb das große Versprechen, bei ent­sprechendem Wahlausgang würde alles besser werden.

Auf dieses Versprechen setzte die Mehrheit der Bürger der DDR ihre Hoff­nungen, auch de Maiziere; auch er hatte die Illusion, daß dann die großen Hilfs­programme bewilligt werden würden.

Doch das ist nicht passiert. Den Aus­gang der Volkskammerwahlen wertete Kohl als seinen persönlichen Triumph, und das bestärkte ihn in seiner herablas­senden Haltung auch gegenüber den neuen demokratischen Kräften, den Ver­tretern der Bürgerbewegungen, die er überhaupt nicht mochte.

Ich denke aber, daß auch Kohl und Haussmann große Illusionen hatten, daß sie ein sehr vereinfachtes Bild vom Ver­einigungsprozeß hatten. Sie meinten nämlich, auf politische Gestaltung weit­gehend verzichten zu können, da das Ka­pital schnell und umfassend in der DDR investieren und der Mittelstand rasch ex­pandieren würde. Die Probleme wurden von ihnen völlig falsch eingeschätzt.

Sozialismus: Hinter der Bonner Politik steht also kein großes strategisches Kon­zept. Sie ist vielmehr durch spontanes Reagieren auf die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme gekennzeichnet. Klar ist nur: Kohl wollte den schnellen Anschluß, wie ökonomisch widersinnig und kontraproduktiv er auch ist.

Modrow: Kohl ist seiner eigenen Ideo­logie aufgesessen, daß bei entsprechen­den politischen Kräfteverhältnissen das Kapital im Selbstlauf die Wirtschaft um­krempeln und die Probleme lösen wür­de. Das war - wenn man so will - sein Konzept. Oder anders ausgedrückt: Er hatte gar keines.

Als das deutlich wurde, trat de Mai­ziere die Flucht nach vorne an und rückte vom Dezember-Termin der Vereinigung ab, den er zuvor eisern vertreten hatte. Für ihn war eine Situation entstanden, in der er nur noch die Chance sah, wenn er zurecht kommen wollte, die Regie­rungsverantwortung spätestens zum Termin der Länderbildung an Kohl ab­zugeben.

Aber auch heute sehe ich noch nicht, daß Kohl und seine Mannschaft aus dem Schaden klüger geworden wären. Das einzige was man hört ist: Wir werden rechnen und die Höhe der Kosten sagen. Sie sagen nicht: Wir bilden einen Kri­senstab, der tragfähige Konzepte erar­beitet. Insofern gehe ich davon aus, daß auch weiterhin nur spontan auf die Pro­bleme reagiert werden wird, im Glau­ben, die Marktwirtschaft würde alles lö­sen.

Sozialismus: Das Kapital verhält sich wie ein scheues Reh. Insofern ruht die Politik der Neokonservativen auf sehr brüchigen Säulen, ist also garnicht so standfest, so unerschütterlich, wie viele meinen.

Modrow: Und darin liegt ein großes Problem. Ich habe das Gefühl, daß auch die Opposition - auch die PDS - die Situation nicht aufmerksam analysiert. Die Sozialdemokraten, die im Prinzip ein ganz anderes Gewicht haben können, belassen es bei einzelnen kritischen Anmerkungen und verfahren ansonsten nach dem Motto: Wir haben es voraus­gesagt, ohne wirkliche Alternativen vor­zulegen. Damit überläßt die Opposition Kohl weiterhin das Feld der Offensive.

Sozialismus: Im Gegensatz zu Deiner These vom konzeptionslosen und auch illusionären Charakter der Politik Kohls vertreten einige die Auffassung, hinter dem Crash-Kurs stünde ein strategi­scher Plan von Teilen des Staatsappa­rats und des Finanzkapitals.

Modrow: Das ist zu einfach. Das Kapi­tal agiert nicht geschlossen, nicht nach einer untereinander abgestimmten Stra­tegie. In Japan könnte ich mir das schon eher vorstellen, da dort der Unterneh­merverband immer auch als strategi­scher Zusammenschluß fungiert, aber nicht in der Bundesrepublik.

Aber unterhalb dieser Ebene der Ge­samtstrategie, wenn es um sektorale oder punktuelle Fragen geht, ist es offen­kundig. Das wird z.B. im Energiesektor oder im Versicherungsgewerbe deutlich. Aber das sind dann Einzelstrategien, daraus kann man kein globales Konzept ableiten.

Sozialismus: Wir denken, daß man so­gar soweit gehen kann zu sagen, daß die Politik nicht nur die Vorgaben gemacht hat, sondern daß dies z.T. auch gegen Optionen von Teilen des Kapitals durch­gesetzt wurde. Deutlich wurde dies z.B. im Februar, als Pohl von der Bundesre­gierung zum Kurswechsel gezwungen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt waren u.E. große Teile des BRD-Kapitals auch bereit, ein längerfristiges Konzept mit­zutragen.

Modrow: Das läßt sich eindeutig bele­gen. Pohl war ja 3 Tage, bevor unsere Regierungsdelegation am 13. 2. 1990 nach Bonn reiste, in Berlin und hat mit Kaminski, dem damaligen Bankpräsi­denten, über Möglichkeiten der Zusam­menarbeit verhandelt. Er ging also von einem längeren Prozeß des Übergangs aus und äußerte sich auch entsprechend öffentlich - gegen eine schnelle Wäh­rungsunion, die er für ökonomisch o schädlich hielt.

Nicht nur die Finanzfachleute, auch in der Industrie dachte man in größeren 3 zeitlichen Abläufen und arbeitete dem-co entsprechend an Übergangskonzepten.

Das zeigte sich z.B. Anfang des Jahres m bei einer Zusammenkunft in Rahnsdorf, co bei der zahlreiche namhafte Konzerne aus der Bundesrepublik und Direktoren von DDR-Kombinaten vertreten waren. Christa Luft hielt dort einen Vortrag und erläuterte unsere Vorstellungen über Ka­pitalbeteiligungen. In dieser Runde war keine Rede davon, daß die Wirtschaft der DDR durch und durch marode, nicht sanierungsfähig sei, sondern daß es durchaus wettbewerbsfähige Sektoren, wie z.B. den Maschinenbau gab, wo sich Zusammenarbeit von West und Ost lohnt. Daimler-Benz oder auch Opel ent­wickelten damals ihre Vorstellungen, daß man sich längerfristig zu beteiligen denke. Das war die Lage bis zur Leipzi­ger Frühjahrsmesse. Nicht das hat man gebündelt, sondern davon ist man weg­gegangen.

Sozialismus: Wir denken auch, daß das Konzept Deiner Regierung durchaus er­folgreich hätte sein können, wenn nicht der Druck aus Bonn dagegengestanden und die Bundesregierung einen anderen Kurs durchgesetzt hätte. Zumal das In­teresse an ökonomischer Stabilität in der DDR auch dadurch zusätzlich motiviert wurde, die Handelsbeziehungen zu den anderen RGW-Staaten zu nutzen und auszubauen. Doch der umgekehrte Effekt trat ein. Der Crash-Kurs gegenüber der DDR führte zur Verschärfung und Beschleuni­gung der Umgestaltungen in ganz Ost­europa, trug letztlich auch zur Gefähr­dung der Perestroika bei. Neben den ganzen inner sowjetischen Problemen darf man u.E. diese internationalen Aspekte nicht ausklammern. Wenn der DDR ein zumindest mittelfristig eigen­ständiger Entwicklungsweg ermöglicht worden wäre, hätte auch der RGW eine Chance gehabt.

Modrow: Das ist wahr. Die letzte RGW-Beratung am 9. Januar in Sofia stand vor der Frage, ob der RGW aufge­löst wird oder erhalten bleibt. Nach sehr kontroversen Debatten entschied man sich für letzteres, obgleich es schon deutliche Bestrebungen gab, ich will nicht sagen, den RGW zu spalten, aber in Interessenbereiche aufzusplitten. Es sollte das große Thema der Marktwirt­schaft angegangen werden und zum En­de dieses Jahres so weit sein, daß ein großer Teil des Handels mit konvertier­barer Währung abgewickelt wird; zwi­schen Polen und der SU gab es entspre­chende Absprachen. Von Seiten der CSFR wurde aber auch schon in aller Schärfe erklärt, daß man wieder dort an­setzen wolle, wo man 1948 aufgehört hatte - das war eine deutliche Aussage.

Und konkret wurde angeboten, zwi­schen Polen, der CSFR und Ungarn ei­nen eigenen Wirtschaftsraum zu bilden. Ferner wurde klar, daß die bis dahin gül­tigen Wirtschaftsbeziehungen mit Cuba, Laos und anderen Staaten der sog. Drit­ten Welt nicht mehr aufrechterhalten werden könnten, was nach Sofia auch umgehend umgesetzt wurde. Das Ergeb­nis läßt sich in Cuba z.B. deutlich able­sen.

Die Chance, das Konzept eines geord­neten Übergangs in der DDR zu prakti­zieren, was auch für andere Länder hätte hilfreich und anregend sein können, wurde zunichte gemacht. Jetzt hört man überall nur noch den Ruf nach schnellem Übergang zur Marktwirtschaft. Auch in der SU. Aber bei den außenpolitischen Erfolgen der Perestroika und den großen Fortschritten bei der inneren Demokrati­sierung darf man nicht übersehen, daß das Hauptproblem von vornherein die Wirtschaft war und daß es bis heute nicht gelang, hierfür ein neues Konzept zu entwickeln. Während die Theoretiker immer neue Modelle schufen, bekamen die Pragmatiker die Wirtschaft aus den alten Gleisen nicht heraus - die Kluft zwischen beiden konnte nie überwunden werden. Es gibt eher einen Streit zwi­schen Persönlichkeiten als einen Streit um die Inhalte. Jelzin hat auch nichts anzubieten; er forciert nur, kritisiert, daß Versprechungen gemacht wurden, die nicht gehalten wurden. Das ist in Lenin­grad so, das ist in Moskau so. Diejeni­gen, die sich als konsequente Reformer bezeichnen, haben in Wirklichkeit keine Reformvorschläge - ihre Politik ist purer Populismus.

Sozialismus: Damit kommen wir noch einmal zur Frage der politischen Offen­sive. Hättet ihr, wenn ihr sofort im No­vember mit der Konstituierung der neuen Regierung offensiv das Ringen um die Mentalität der DDR-Bevölkerung aufgenommen hättet, nicht größere Chancen gehabt, dem Druck aus Bonn zu begegnen? Hätte nicht die Chance bestanden, offensiver um die Herzen und Hirne der DDR-Bürger zu kämpfen, die auf die D-Mark nicht länger warten wollten, sich sozusagen stärker ihrer subjektiven Befindlichkeit zuzuwenden? Zugespitzt: Habt ihr nicht zu lange ge­braucht? Fehlten euch nicht anfangs auch die Konzepte, um nach den ganzen Wirrnissen der Zwischenphase Krenz in die politische Offensive zu gehen?

Modrow: Ich halte daran fest, daß mit der Regierungserklärung vom 17. 11. und dem darin enthaltenen Vorschlag der Vertragsgemeinschaft DDR-BRD eine Konzeption vorgelegt wurde. Bei meinem Treffen mit Kohl in Dresden am 19. Dezember gab es darüber eine gemeinsame Erklärung, in diesem Sinne zu verfahren. Unsere Grundorientierung war klar, wenn auch nicht in allen Ein­zelheiten ausgearbeitet. Und darin steckt in der Tat ein Problem: Es gab nur sehr wenige Leute, die Alternativen ange­dacht hatten. Von wissenschaftlicher, theoretischer Fundierung für die in der neuen Situation erforderlichen Politik konnte keine Rede sein.
Die wissenschaftlichen Einrichtun­gen, die wir in der DDR hatten, die ja faktisch SED-Einrichtungen waren, ha­ben eigentlich nur in den 50er und 60er Jahren an Alternativen gearbeitet. Das war die Zeit der Reformpolitik Chruschtschows. In der Ökonomie ging es damals um die Ausgestaltung eines neuen Systems von Planung und Lei­tung, mit dem auch Ulbricht experimen­tieren wollte, auch wenn ich damals be­reits Kritik an seiner schematischen Her­angehensweise hatte, am Versuch, die Überlegungen der sowjetischen Genos­sen möglichst pur zu übernehmen. Doch danach setzte eine Phase ein - unter Ko-ziolek u.a. - , in der es nur noch darum ging, die herrschende Politik apologe­tisch zu rechtfertigen - das gilt für Otto Reinhold, selbst noch für Erich Hahn. Damit konnten wir, als es im November um die Ausarbeitung unseres Regie­rungsprogramms ging, überhaupt nichts anfangen, garnichts.

Uns wurde zwar immer gesagt: Wenn ihr mal rankommt, holen wir die Kon­zepte aus der Schublade. Aber in den Schubladen lag nichts. Die einzigen, die wirklich an alternativen Denkmodellen arbeiteten, war die Gruppe um Dieter Klein, Andre und Michael Brie. Mit Die­ter Klein war ich seit den 50er Jahren aus gemeinsamer FDJ-Zeit freund­schaftlich verbunden. Meine Rede auf der ZK-Tagung im Dezember 1988 ha­ben wir gemeinsam diskutiert, und auch mein Beitrag auf der 10. ZK-Tagung, der die Gegenposition zu Krenz umriß, ist in dieser Küche gekocht worden. Her­vorheben möchte ich natürlich auch die Leute, mit denen ich in Dresden zusam­mengearbeitet hatte, und die Gruppe um Christa Luft an der Hochschule für Öko­nomie. Aber das war es im Prinzip schon.

Sozialismus: Und wie sieht das heute aus, in bzw. im Umfeld der PDS?

Modrow: Wir stecken ja noch mitten drin im Erneuerungsprozeß. Und dabei sehe ich schon das Problem, daß uns jetzt auch teilweise das Hinterland fehlt. Andre Brie ist jetzt stellvertretender Par­teivorsitzender, hat alle Hände voll mit den Wahlkämpfen zu tun, und Dieter Klein kämpft um das Überleben seines Instituts an der Humboldt-Universität, kann sich also auch nicht mehr so aktiv an der inhaltlichen Ausgestaltung des Erneuerungsprozesses beteiligen. Je­denfalls sind die Anstöße von außen der­zeit sehr bescheiden, so daß man sich nicht wundern muß, wenn wir so schlep­pend vorankommen.

Sozialismus: Das ist aber nicht nur ei­ne Frage der aktiven Beteiligung, son­dern auch unterschiedlicher, zuneh­mend auseinanderlaufender gesell­schaftstheoretischer Positionen.

Modrow: Auch das. Aber die zentrale Schwäche sehe ich darin, daß wir nicht mehr miteinander kooperieren. Es wird in der Partei nur unzureichend der Ver­such gemacht, kontinuierlich organisa­torische und theoretische Kompetenz im Zusammenhang zu erarbeiten. Nur so kommen wir aber zu konzeptionellen Alternativen.

Sozialismus: Und diese konzeptionel­len Schwächen führen dann dazu, daß sich auch in der LL/PDS in allen zentra­len wirtschafts- und gesellschaftspoliti­schen Fragen ein Streit zwischen Vertre­tern von Reformkonzeptionen und ande­ren, die den vermeintlichen Mangel an antikapitalistischer, sozialistischer Uto­pie beklagen, einstellt.

Modrow: Genauso ist das, eine echte Schwäche. Ich hoffe, daß das, was von Klaus Steinitz u.a. an Konzeptionen und Positionsbestimmungen in jüngster Zeit erarbeitet worden ist, ein Ansatz für eine fruchtbare Weiterarbeit ist.

Sozialismus: Und dann gibt es inner­halb der Linken auch ein nicht zu unter­schätzendes Mentalitätsproblem. Du bist für Dein Konzept »Deutschland ei­nig Vaterland«, das Du am 1. Februar vorgelegt hast, innerhalb der Linken heftig attakiert worden. Darin steckt nicht nur der irrwitzige Vorwurf, Du hättest selbst noch nationalistischen Tendenzen Auftrieb gegeben, sondern auch das sehr praktische politische Pro­blem, daß die Linke in ihrer derzeitigen Verfaßtheit Kohl das Terrain weitge­hend überläßt, statt ihn dahingehend an­zugreifen, daß er sich nur national ge- 9 riert, faktisch aber - wie Du gesagt hast - eine Politik nationaler Verantwor-tungslosigkeit betreibt.

Modrow: Meine Vorstellung von natio­naler Verantwortung ist eine andere, als das, was in Teilen der Linken darunter verstanden wird. Als wir am 1. Februar 1990 die Regierung der nationalen Ver­antwortung bildeten, ging es darum, die­jenigen Kräfte, die den demokratischen Umbruch in der DDR ausgelöst hatten, aktiv zu beteiligen und mit in die Verant­wortung zu nehmen. Denn wer in einem solchen Maße Zustimmung findet wie der Runde Tisch, kann nicht in der Op­position bleiben, sondern muß verant­wortlich mitgestalten.

Mit Nationalismus hat das nichts zu tun. Ich denke, daß nach wie vor viele innerhalb der Linken nicht sehen wollen, daß es nach dem 9. November keine Chance mehr gab, die DDR auf längere Sicht als selbständigen Staat gegenüber der BRD zu behaupten. Ich führte da­mals aus: »In diesem Sinne schlage ich einen verantwortungsbewußten nationa­len Dialog vor. Sein Ziel sollte es sein, konkrete Schritte zu bestimmen, die zu einem einheitlichen Deutschland führen, das ein neuer Faktor der Stabilität, des Vertrauens, des Friedens in Europa zu werden bestimmt ist.« Mir ging es um einen geordneten Übergang zu einem neuen Deutschland, das weder nur DDR noch nur BRD ist, sondern etwas quali­tativ neues, besseres. Und mir ging es darum, Vertrauen bei unseren Nachbarn zu schaffen, ihre berechtigten Ängste zu entkräften, auch dadurch, daß wir ent­schlossen den überall aufkeimenden Na­tionalismus zurückdrängen.

Sozialismus: Also auch den neokonser­vativen »Nationalismus« als konzep­tionslose Politik der Verantwortungslo-sigkeit zur Durchsetzung ganz egoisti­scher Interessen zu entlarven.

Modrow: So ist es. Wenn wir immer nur auf die nationale Fassade eindreschen, mit der Kohl seine Politik ummantelt, stoßen wir nicht zum Kern vor, verlängern letztlich nur die Geschichte. Was wir jetzt brauchen, ist ein breites Bündnis für ein wahrhaft neues Deutschland - ein Bündnis aller linken und demokratischen Kräfte, einschließlich der fortschrittlichen Kräfte der Kirche, der Sozialdemokratie, der Bürgerbewegungen. Eine Bewegung, die stark genug ist, sich den Konservativen entgegenzustellen.

Editorische Hinweise

Hans Modrow war Ehrenvorsitzender der PDS. Er war bis 1989 Erster Sekretär der Bezirksleitung Dresden der SED und vom 13. November 1989 bis zum 18. März 1990 Vorsitzender des Ministerrats der DDR. Für Sozialismus diskutierten Joachim Bischoff und Hasko Hüning.

Quelle: Sozialismus, Hamburg, Heft Nr. 10/1990, S.5-9