Zum Beitritt der DDR
am 3. Oktober 1990

Kritisches von gestern und heute

ausgewählt von
der TREND-Redaktion

10/2020

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30 Jahre „Wiedervereinigung“: Die Krise des Kapitalismus und der Kampf für den Sozialismus
von Stefan Schneider

Die globale Wirtschaftskrise in Folge der Corona-Pandemie zeigt das Versagen des Kapitalismus. Der Sozialismus wird für viele als Alternative wieder interessanter. Sein Name ist aber mit dem Makel der stalinistischen Diktaturen behaftet. Es ist eine historische Aufgabe der Revolutionär:innen, den Marxismus aus der stalinistischen Verfälschung zu befreien und eine revolutionäre Strategie aufzustellen.

30 Jahre nach dem Untergang der DDR ist die Siegerstimmung des deutschen Imperialismus merkwürdig leise. Noch im vergangenen Jahr, als mit großem Pomp das 30-jährige Jubiläum des Falls der Berliner Mauer gefeiert wurde, wurden große Pläne für das „Einheitsjahr“ geschmiedet. Im Vergleich dazu wirken die heutigen Feierlichkeiten mickrig.

Das liegt nicht allein an den hygienebedingten Einschränkungen durch den Coronavirus. Die Pandemie hat der deutschen Wirtschaft einen schweren Schlag versetzt, und trotz Milliardenkrediten und Kurzarbeitergeld sind fast täglich Hiobsbotschaften über kommende Massenentlassungen, Standortschließungen und Firmenpleiten in den Zeitungen zu lesen. Das Triumphgeheul des Kapitalismus, vor 30 Jahren das „Ende der Geschichte“ eingeläutet zu haben, klingt hohl angesichts über einer Million Coronavirus-Toten weltweit, angesichts der weltweiten ökonomischen, politischen und sozialen Krise, angesichts der Verheerungen der durch die kapitalistische Profitmaschine scheinbar unaufhaltsam voranschreitenden Klimakatastrophe, angesichts der Massenbewegungen der vergangenen Monate und Jahre gegen Rassismus und Polizeigewalt, gegen korrupte Regierungen als Handlanger des Imperialismus.

Wenn heute „30 Jahre deutsche Einheit“ gefeiert werden, können selbst bürgerliche Politiker:innen und Kommentator:innen nicht umhin – auch wenn sie es gekonnt herunterspielen –, dass die Annexion der DDR zur Zerstörung der Lebensbedingungen von 17 Millionen Menschen führte und dass bis heute eine Ost-West-Spaltung die Republik durchzieht, in allen Bereichen von Arbeitsbedingungen und Lebensstandard bis hin zur Legitimität der bürgerlichen Demokratie. Oft wird dann versucht, den Aufstieg der Rechten in den vergangenen Jahren als „Ostphänomen“ zu stigmatisieren, da die „Ossis“ noch nicht demokratieerfahren genug seien. Dass der Aufstieg der Rechten eine Folge der Zerstörung der Lebensbedingungen ist und in den „strukturschwachen“ Regionen Westdeutschlands genauso verwurzelt ist, wird dabei verschwiegen.

Gerade die Coronavirus-Pandemie und die Antwort der Herrschenden weltweit – wo nicht nur ultrarechte Regierungen wie Trump in den USA oder Bolsonaro in Brasilien, sondern auch sozialdemokratische Regierungen wie im Spanischen Staat aufgezeigt haben, wie wenig ihnen das Leben der Menschen im Vergleich zur Sicherstellung kapitalistischer Profite wert ist – zeigen auf, dass der Kapitalismus nicht das „bessere“ System ist, das siegreich aus der „Systemkonkurrenz“ des Kalten Krieges hervorgegangen ist. Über eine Million Tote, Dutzende Millionen Arbeitslose, und eine Perspektive der Misere für Hunderte Millionen weltweit machen klar, dass eine Alternative im Interesse der übergroßen Mehrheit der Weltbevölkerung notwendig ist.

Es ist vor dem Hintergrund ermutigend, dass Zeiten der Krise nicht nur Antworten von rechts, sondern auch Massenrebellionen und den Aufstieg sozialistischer Ideen ermöglichen. Doch häufig ist unklar, was sich hinter dieser Perspektive überhaupt verbirgt. Wovon sprechen wir also, wenn wir sagen, dass ein sozialistischer Ausweg die einzige Möglichkeit ist, damit die Kapitalist:innen für die Krise zahlen und nicht die Arbeiter:innenklasse, die Jugend, die Migrant:inen, die Frauen und LGBTQIA+?

Dass diese Frage nicht so leicht zu beantworten ist, liegt an der historischen Verantwortung des Stalinismus. Der Stalinismus hat weltweit, und besonders in Deutschland, die Vorstellung des Sozialismus als autoritär und bürokratisch in das kollektive Gedächtnis von Millionen von Menschen eingebrannt. Sozialismus und Marxismus wurden mit der bürokratischen, repressiven und antidemokratischen Politik der stalinistischen Bürokratien verschiedener Couleur gleichgesetzt.

Es ist deshalb eine zentrale Aufgabe für revolutionäre Sozialist:innen heute, den revolutionären Marxismus von der stalinistischen Verfälschung zu befreien und aufzuzeigen, dass unser Sozialismus „kein Sozialismus nationaler Inseln, kein Sozialismus der bürokratischer Privilegien und polizeilicher Diktatur, kein Sozialismus verknöcherter patriarchaler Moral [ist], sondern ein Sozialismus der breitestmöglichen proletarischen Rätedemokratie und der revolutionären Überwindung aller Formen von Ausbeutung und Unterdrückung“.

Die DDR war eine bürokratische Diktatur, allerdings auf der sozialen Grundlage der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Mit den Worten Leo Trotzkis, der den Stalinismus als „Reaktion auf dem gesellschaftlichen Fundament der Revolution“ bezeichnete, können wir sagen, dass wir die sozialen Errungenschaften der DDR – vor allem die Enteignung der Bourgeoisie und die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln als ihre Grundlage – gegen die kapitalistische Siegerjustiz verteidigen, die die Annexion der DDR als Befreiung zu rechtfertigen versuchen. Doch zugleich müssen wir die reaktionäre Rolle der stalinistischen Bürokratie verurteilen, die nicht nur das Bild dessen, was Sozialismus angeblich sei, nachdrücklich prägte, sondern auch gemeinsam mit der imperialistischen BRD-Bourgeoisie die Verantwortung dafür trägt, dass die kapitalistische Restauration siegen konnte.

 

Quelle: https://www.klassegegenklasse.org/30-jahre-wiedervereinigung-die-krise-des-kapitalismus-und-der-kampf-fuer-den-sozialismus/