Der Magistrat der Stadt Berlin
Verordnung über die Bewirtschaftung der Wohn- und gewerblichen Räume vom 18. Juni 1945

10/2020

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung

Bereits unmittelbar nach der Kapitulation gestattete die Rote Armee  den Einwohner*innen der zerstörten Millionenstadt Berlin, unter Leitung eines Bündnisses von Antifaschist*innen den Wiederaufbau und die Rückkehr zu erträglichen Lebensbedingungen zu organisieren. Unter der Mitwirkung  von Walter Ulbricht konnte bereits am am 17. Mai 1945 der Magistrat der Stadt Berlin gebildet werden. 1. Oberbürgermeister wurde der parteilose Arthur Werner, der seit 1942 wegen seiner politischen Gesinung von den Nazis mit Berufsverbot belegt worden war. Seine beiden Stellvertreter kamen aus der KPD (Karl Maron) und der SPD (Josef Orlopp). Für das Bau- und Wohnungswesen war der parteilose  Architekt Hans Scharoun  zuständig.

Angesichts der extremen Notlage - gerade auch auf dem Wohnungsmarkt - waren massive Eingriffe zu Regulierung unumgänglich. Da die Nazis eine funktionierende Legislative bis hinunter zur kommunalen Ebene zerstört hatten, musste diese erst durch Wahlen wieder hergestellt werden.

Aufheben konnte die private Eigentumsbindung zu diesem Zeitpunkt nur die Rote Armee, die zwar für Reparationszwecke Enteignungen durchführte, aber ansonsten in die Eigentumsverhältnisse jenseits der unmittelbaren Produktionsphäre außer zu Versorgungzwecke für die Armee nicht eingriff.

Unter diesen Bedingungen konnte der Berliner Magistrat ausschließlich nur mithilfe exekutiv erlassener Regelungen/Verordnungen  regieren. Ausgangspunkt dafür waren die Rechtsstrukturen zur Verfügbarmachung von Wohnraum und Gewerberaum, die sich auf der Grundlage der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bisher herausgebildet hatten. Folgerichtig blieb dem Magistrat nur die rechtkonforme Möglichkeit der Beschlagnahme von Wohnraum und die "Zwangs"vermietung nach vornehmlich sozialen Gesichtspunkten.

Schließlich lassen sich aufgrund dieser Rechtsstrukturen, die auch in den 1920er Jahren galten, nahezu inhaltsgleiche Verordnungsvorschläge zur Überwindung der Wohnungsnot im Entwurf für ein wohnungspolitisches Kommunalprogramm der KPD von 1922 finden.

Und übrigens gelten diese Rechtsstrukturen im wesentlichen noch heute, so dass sich die Frage stellt,  warum mit dem politisch wenig zielführenden Rechtsmittel(*) Enteignung "Deutsche Wohnen & Co." und nicht mit dem Rechtsmittel der Beschlagnahme zur Verfügbarmachung von vorhandenen und zu errichtenden Wohnraum die herrschende Wohnungsnot eingedämmt werden sollte?

Karl-Heinz Schubert

*) Siehe dazu: Klare Kante sieht anders aus (Mieterecho 411)

+++++++++++++++++++++++++

Verordnung über die Bewirtschaftung
der Wohn- und gewerblichen Räume vom 18. Juni 1945

§1

Ohne Rücksicht auf bestehende Rechtsverhältnisse ist die Beschlagnahme zulässig:

I. für freie Wohnungen und gewerbliche Räume,
II. für unterbelegte Wohnräume (auch im Zusammenhang mit gewerblichen Räumen),
III. von solchen Wohn- und gewerblichen Räumen, die nach Inkrafttreten dieser Verord­nung frei werden oder bei denen eine Unterbelegung eintritt.

§2

Eine Verfügung über die nach § 1 beschlagnahmten Räume ist nur mit Genehmigung des zuständigen Bezirksbürgermeisters zulässig. Diese Genehmigung kann nur versagt wer­den:

I. Wenn wichtige politische Gründe gegen die einzuweisenden Personen bestehen,
II. wenn eine anderweitige Unterbringung von Personen nicht möglich ist, denen nach § 5 ein Vorrang zusteht.

§3

Macht der Bezirksbürgermeister bei freien Wohnungen von seinem Recht der Einwei­sung nicht innerhalb von 4 Wochen, vom Zeitpunkt der Beschlagnahme der freien Woh­nung an, Gebrauch, so sind die Hauseigentümer, Verwalter und Hausbewohner berech­tigt, Personen, auf die die Vorschriften dieser Verordnung Anwendung finden, zur Ein­weisung vorzuschlagen.

Falls der Bezirksbürgermeister innerhalb weiterer 4 Wochen keine Einweisung vorge­nommen hat, ist der Hauseigentümer oder sonstige Verfügungsberechtigte zur freien Vermietung berechtigt.

§4

1. Wohn- und gewerbliche Räume gelten als frei:

a) wenn sie leer stehen,
b) wenn das Nutzungsverhältnis (insbesondere der Mietvertrag) rechtswirksam beendet ist,
c)  wenn der Inhaber der Wohnung oder des gewerblichen Raumes stirbt ohne volljährige Familienangehörige zu hinterlassen, die bei seinem Tode zu seinem Hausstand gehört haben,
d) wenn die bisherigen Besitzer oder Inhaber der Räume unter die Personengruppe fal­len, die durch die Magistratsverordnung über Beschlagnahme von Nazivermögen be­troffen sind.

2. Wohnräume (auch im Zusammenhang mit gewerblichen Räumen) gelten als unterbelegt :

Ausführungsbestimmungen Abschnitt 1

wenn sie nicht gemäß der jeweiligen Schlüsselzahl, die auf Grund der einmaligen Meldung errechnet und auf Grund der laufenden Meldungen geändert wird, benutzt werden. Bis zur Herausgabe der Schlüsselzahl und bis zur genügenden Ingangbringung des Nahverkehrs können diese Schlüsselzahlen in den Bezirken unterschiedlich - nach vorheriger Verständigung mit dem Magistrat, Abteilung für Bau- und Wohnungswesen — fest­gelegt werden.

3. Als Benutzer einer Wohnung gelten alle Personen, die auf Grund ihrer Anwesenheit in dieser Wohnung die Lebensmittelkarten beziehen.

§5

Ein vor dem Inkrafttreten der Verordnung begründetes Rechtsverhältnis, insbesondere ein Mietvertrag über die Benutzung von Wohn- und gewerblichen Räumen, erlischt mit dem Eintritt der Beschlagnahme. Bevorzugt vor allen übrigen sind in einer ihren per­sönlichen Verhältnissen angemessenen Wohnung in nachstehender Rangfolge unterzu­bringen :

Ausführungsbestimmungen Abschnitt 2

a) Wohnungsuchende, die wegen ihrer antifaschistischen Gesinnung bis zur Beendigung der Kampfhandlungen —• jedoch mindestens ein halbes Jahr lang — inhaftiert waren,
b) sonstige Wohnungsuchende, die wegen ihrer antifaschistischen Gesinnung seit dem 30. Januar 1933 mindestens 1 Jahr inhaftiert waren,
c) Wohnungsuchende, die wegen ihrer antifaschistischen Gesinnung oder aus sonstigen politischen Gründen ihre Wohnung verlassen haben,
d) politisch nicht belastete Mitbenutzer, insbesondere Untermieter oder Eingewiesene aus Wohnungen, die frei werden,
4) Wohnungsbedürftige infolge unmittelbarer und mittelbarer Kriegseinwirkungen.

§6

Zur Durchführung dieser Verordnung erfolgt:

a) einmalige Erfassung der gesamten Wohn- und gewerblichen Räume,
b) laufende Erfassung der jeweils frei werdenden Wohn- und gewerblichen Räume. Hauseigentümer oder deren Verwalter und — soweit beide nicht handlungsfähig — Hausobmänner, die dann im Auftrage der Bezirksbürgermeister handeln, sind verpflich­tet, innerhalb von 3 Tagen

a) als einmalige Meldung den derzeitigen Istbestand (nach Anlage A) dem Bezirksbürger­meister aufzugeben. Der Bezirksbürgermeister gibt die Meldung sofort an den Magistrat, Abteilung für Bau- und Wohnungswesen, weiter,
b) als laufende Meldung alle Änderungen dieses Istbestandes gemäß Anlage B mitzutei­len, und zwar beginnt die Frist für die Meldung zu b:

1) bei vermieteten oder sonst überlassenen Wohnungen und gewerblichen Räumen mit dem Tage der Kündigung oder — falls nicht gekündigt wird — mit dem Tage, an dem der Hauseigentümer, Verwalter oder Hausobmann von dem Freiwerden der Wohnung Kenntnis erhält,

Ausführungsbestimmungen Abschnitt 3

2) bei neu oder durch Aus- oder Umbau entstehenden bzw. wiederhergestellten Wohn-und gewerblichen Räumen mit dem Eintritt der Beziehbarkeit,
3) bei Wohn- und gewerblichen Räumen, die der Eigentümer oder sonstige über das Grundstück Verfügungsberechtigte für eigene Zwecke benutzen, zwei Wochen vor der beabsichtigten Räumung.
4) Die Änderungen an der Zahl der Wohnungsbenutzenden sind durch laufenden Ver­gleich mit den ausgegebenen Lebensmittelkarten festzustellen und dem Bezirksbürger­meister zu melden. Der Bezirksbürgermeister gibt die Meldung zu b, 1 bis 4, monatlich an den Magistrat, Abteilung für Bau- und Wohnungswesen, weiter.

§4

Ausführungsbestimmungen Abschnitt 4

Wird dem Eingewiesenen die Inbesitznahme der ihm zugewiesenen Räume verweigert, so erfolgt seine Einweisung auf Veranlassung des Bezirksbürgermeisters im Wege des polizeilichen Zwangsverfahrens gegen denjenigen, der die Inbesitznahme der Räume I verhindert.

§8

Zustimmung in besonderen Fällen

Ausführungsbestimmungen Abschnitt 5

a) Wollen Inhaber von Wohn- und gewerblichen Räumen ihre Wohn- und gewerblichen Räume miteinander tauschen, so bedarf jeder von ihnen der Genehmigung des Bezirks­bürgermeisters, in dessen Bezirk die Wohn- und gewerblichen Räume liegen.
b) Die Genehmigung ist nur zu verweigern, wenn durch den Tausch der Ausgleich von unterbelegtem Wohnraum mit überbelegtem Wohnraum verhindert wird und wenn keine politischen Bedenken bestehen. Die Weiterüberlassung einer Wohnung im ganzen an einen Dritten ist unzulässig, sofern es sich nicht um einen Wohnungstausch handelt.
c) Die Genehmigung des Bezirksbürgermeisters ist erforderlich, wenn ein Dritter, der im Falle des Todes des Wohnungsinhabers keine Kündigungsfrist genießen würde, dem Mietvertrag beitreten will. Dies gilt für jeden Mietbeitritt seit dem Inkrafttreten dieser Verordnung.
d) Die Genehmigung ist für alle Verträge erforderlich, die eine Verfügung über Wohn-oder gewerbliche Räume zum Inhalt haben, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung als Miet- oder sonstigen Vertrag.
e) Die Genehmigung ist zu versagen, wenn offenbar die Vorschriften der Verordnung umgangen werden sollen.

§9

Sonstige Bestimmungen

a) Wer die Inbesitznahme von Räumen auf Grund der Einweisungsverfügung verweigert oder ohne Genehmigung des zuständigen Bezirksbürgermeisters einen der in den §§ 1 bis 4 bezeichneten Räume belegt, wird mit Geldstrafe bis zu 10 000 RM bestraft.
b) Die Einweisung ist in diesen Fällen im Wege des polizeilichen Zwangsverfahrens unter Auferlegung der dadurch entstehenden Kosten an den Verweigerer durchzufüh­ren. Das gleiche gilt für die Ausweisung bei Belegen von Räumen ohne Genehmigung.
c) Mit einer Geldstrafe bis zu 1500 RM wird bestraft, wer einer ihm obliegenden Anzeige­pflicht nicht nachkommt.

§10

Gegen die Entscheidung des Bezirksbürgermeisters, die schriftlich zu erfolgen hat, ist die Beschwerde an die Schiedsstelle des Bezirks zulässig, und zwar innerhalb einer Frist von einer Woche seit Bekanntgabe der Entscheidung. Sie ist schriftlich einzulegen. Die Schiedsstelle wird gebildet aus einem rechtskundigen Vorsitzenden und zwei Beisitzern. Der Bezirksbürgermeister kann der Beschwerde abhelfen (*).

§11

Die Verordnung tritt am 18. Juni 1945 in Kraft. Berlin, den 18. Juni 1945

Der Magistrat der Stadt Berlin
Dr. Werner

QUELLE: Verordnungsblatt der Stadt Berlin, 1. Jg. 1945, S. 34 f
 

*) Der Magistrat regelte die Tätigkeit dieser Schiedsstellen mit Verordnungen vom 5. Okto­ber 1945 und 14. Januar 1946. Vgl. VOB1. 1945, S. 124 f; VOB1. 1946, S. 87 ff

OCR-Scan-Quelle: Berlin, Quellen und Dokumente 1945-1951, 1. Halbband, hrg. im Auftrage des Senats von Berlin, Berlin 1964, S.676ff