Editorial
Aus der Unterschicht in den Untergrund

von
Karl Mueller
11/06

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onlinezeitung

In den ersten beiden Jahrzehnten der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik gehörte es einfach zum guten Ton, von Schichten statt von Klassen oder Arm und Reich zu reden, wenn die dortigen sozialen Verhältnisse gemeinverständlich in Presse, Funk und Fernsehen beschrieben werden sollten. Pfiffige Soziologen, wie Helmut Schelsky zum Beispiel, erfanden die "Mittelstandsgesellschaft", wo  das gesellschaftliche Oben und Unten küchenzwiebelgleich nur noch als unwichtige kleine Enden einer dicken Wohlstandsmitte vorkamen.

Infolge der Jugend- und Studentenbewegung gab es in den 70er Jahren etliche Versuche, das tatsächliche Vorhandensein der Klassengesellschaft im Zeitalter eines als staatsmonopolistisch klassifizierten Kapitalismus hinter seiner Wohlstandsfassade sichtbar werden zu lassen. Bekanntlich landeten die meisten der Protagonisten jenes soziologisch verkürzten Marxismus thematisch bei Frieden und Umwelt und praktisch politisch bei  Jusos und Grünen. Infolgedessen erwies es sich nun im akademischen Raum als schicklich, dass vormals marxistisch orientierte Soziologen nun vom Ende der Klassengesellschaft sprachen, so wie Ulrich Beck 1983 in seinem Buch "Jenseits von Stand und Klasse". Was an marxistischen Linken außerhalb der Uni übrig geblieben war, klinkte sich zwar in diese Debatte nicht ein, übernahm aber letztlich deren Resultat vom Verschwinden der Klassen. Entsprechend munitioniert polemisierte man werttheoretisch gegen den Arbeiterbewegungsmarxismus, dessen historischen Reste in Gestalt einiger Klein- und Kleinst-ML- und K-Gruppen nach wie vor das Proletariat für die Revolution  zu organisieren versuchten, was diesem sozusagen am Arsch vorbei ging.

Schließlich erschienen mit dem Beitritt der DDR 1990 klassensoziologische Fragen - zumindest im Alltagsbewusstsein - als vollends daneben. Deutscher zu sein, war nämlich angesagt. Und die Alltagserfahrung lehrte, dass dazu nicht tiefere Einsichten in soziale Verhältnisse (was dies wohl eher verhindert hätte) nötig waren, sondern Heimatgefühle und regional unterschiedlich stark ausgeprägtes Jammern und Picheln.

Nun ist es aber im Kapitalismus so, dass er sich selbst die Schranke ist. Deswegen gibt es zyklisch Stockungen beim Akkumulieren, es brechen Profitraten weg und die Kaufkraft schwindet. Massenarbeitslosigkeit begleitet diesen Prozess - und je nach Intensität der Verwertungsschwierigkeiten ist der Prozentwert der Überflüssigen größer oder kleiner. Für klassentheoretisch ungebildete deutschsprachige Linke sind diese Phänomene zwar solche, die ihre Ursache im Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital haben, jedoch mangelt es ihnen an einem analytischen Ableitungsverständnis. So reden sie schamhaft von Besichtigen, wenn sie denn auf Erkenntnisgrenzen stoßen und erfinden flugs neue Begriffe für alte Erscheinungen, um ihre theoretischen Defizite zu larvieren. Prekariat ist eine solche schöne Wortschöpfung, worüber sich in dieser Ausgabe Konstantin Wecker erregt.

Auf der anderen Seite hat das politische Personal der BRD angesichts der zunehmenden Verelendungserscheinungen breiter Teile der Bevölkerung erhebliche Legitimationsprobleme bei der Durchsetzung jener Umverteilungsreformen, die allein an der Verwertungslogik des Kapitals ausgerichtet sind und Millionen in weiteres Elend stürzen. Ihnen und der Klasse, deren ökonomische Interessen sie durchsetzen, steht nun eine wachsende Zahl von Menschen gegenüber, die nicht mehr so leben wollen, wie sie leben müssen. Kurzum es ist fünf vor zwölf und es müssen schnellst möglichst Gesellschaftsbilder entworfen und in die Köpfe transportiert werden, damit die an allen Ecken aufflackernden Verteilungskämpfe sich nicht in einen Kampf Klasse gegen Klasse transformieren.

Einer dieser Versuche misslang unlängst völlig. Bar jeder kohärenten Gesellschaftstheorie und nur vom Zweck-Nutzen-Denken getrieben griff das politische und mediale Personal der Bourgeoisie in die soziologische  Mottenkiste und zerrte den Begriff "Unterschicht" hervor. So war es kein geringerer als SPD-Chef Kurt Beck, der das Wort Unterschicht in den Mund nahm und beim politischen Personal eine kontroverse Debatte beförderte, die zwar ein vernehmbares mediales Rauschen nach sich zog, welches aber nur kurz und stinkend war - eben ein Furz.

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Was die Herrschenden tatsächlich fürchten ist, dass sich jene Teile, die sie mit diesem Furz belästigten, nämlich die Teile des Proletariats, die gezwungen sind, in einem Zustand ständiger ökonomischer Ungewissheit - scheinbar an den Rand gedrängt - zu leben, beginnen, weil das Kapital an ihrer Arbeitskraft keinen Gebrauchswert entdecken kann, kollektive und vor allem militante Formen von Gegenwehr verbunden mit kommunistischer Utopie zu praktizieren. Es kommt also für die Herrschenden darauf an, zu wissen, wann und warum solch ein Schritt vollzogen wird und vor allem, welches seine ersten Anzeichen sind. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit bietet sich daher förmlich an. Sogleich sind Leute aus dem Wissenschaftsbetrieb eilfertig bereit, mit ihrer Arbeitszeit, ihrem Wissen und ihrem Knowhow forschend auszuhelfen. Die bekanntesten Vertreter auf diesem Gebiet sind zweifellos Koenen und Kraushaar, die ihre diffamierenden ideologischen Duftmarken hinterließen, als sie sich der Frage widmeten, wie es kommen konnte, dass unvorhersehbar kleine, als Randgruppe bezeichnete Teile einer breiten gesellschaftlichen Bewegung - nämlich der Jugend- und Studentenbewegung, in den Untergrund mit dem alleinigen Ziel gingen, dem Kapitalismus den Garaus zu machen. 

Bei der Behandlung der Frage "Aus der Unterschicht in den Untergrund?" gibt es natürlich auch seriösere Vertreter, die eher im Hintergrund wirken. Sie versammeln sich zum Teil als Autoren in dem von Andresen & Mohr & Rübener herausgegebenen "883-Lesebuch". Hier sei einer von ihnen stellvertretend ein wenig vorgestellt: Es handelt sich um den umtriebigen Privatdozenten Klaus Weinhauer von der Uni Bielefeld - Gewinner des NRW-Exzellenzwettbewerbs „Geisteswissenschaften gestalten Zukunftsperspektiven".

Jener Weinhauer stellte anlässlich einer Tagung zum Thema "Terrorismus und Innere Sicherheit in der Bundesrepublik der 1970er Jahre" zusammenfassend fest:

"In vier unterschiedlichen Sektionen wurde erstens nach etwaigen Verbindungslinien zwischen subkulturellen (Jugend-)milieus der ausgehenden 60er und dem Terrorismus der 70er Jahre gefragt. Auch wenn sich der Terrorismus gewiss als eine Art 'Zerfallsprodukt' der 68er Bewegungen begreifen lässt, tendierte die Diskussion dahin, den Terrorismus stärker als ein Phänomen sui generis zu begreifen. In engem Zusammenhang damit stand zweitens die Frage nach den unterschiedlichen 'Logiken' der Wege in den Untergrund. Auch hier zeigte sich, dass an die Stelle einfacher funktionaler Erklärungen differenzierte Beschreibungen treten müssen, aus denen sich dann erst gewisse Muster herausschälen."

Wer solchen Fragen, wie Weinhauer nachgeht, ist als Referent in einschlägigen Seminaren  wie z.B. dem Deutsch-Niederländischem Polizeiseminar: "Polizei – Staat – Gesellschaft und Terrorismusbekämpfung" oder auch auf dem Historikertag gern gesehen. Der Titel seines dort gehaltenen Referats "Vom Ende der Gewissheit: Jugenddelinquenz und Polizei in bundesdeutschen Großstädten der 1960/70er Jahre" spricht Bände. Im Abstract dazu heißt es:

"In den 1960er Jahren begann ’Jugend’ in Westeuropa und in den USA noch stärker als zuvor, zu einem Synonym für gesellschaftliche Bedrohungen und Unsicherheiten zu werden. In der Bundesrepublik wurden die damit einhergehenden Verunsicherungen durch zwei miteinander eng verknüpfte Faktoren verstärkt: durch Wandlungen in der sozialen Wahrnehmung von Jugenddelinquenz sowie durch deren räumliche und soziale Entgrenzung, geprägt durch die internationalen Netzwerke des jugendkulturellen „Underground“. Fast gleichzeitig fanden jugendliche „Rocker“ starke öffentliche Aufmerksamkeit. Sowohl durch die Netzwerke des mittelschichtgeprägten „Underground“ als auch durch die proletarischen „Rockerbanden“ entstanden neue ’gefährliche’ Räume in der Stadt. Unsicherheit war nunmehr doppelt entgrenzt: war weder lokal noch sozial klar zu lokalisieren, sondern über gesellschaftliche Schichten und über verschiedene großstädtische Regionen verteilt. Konzentriert auf Westberlin und Hamburg in der Zeit von Mitte der 1960er bis Ende der 1970er Jahre soll diese doppelte Entgrenzung von Jugenddelinquenz genauer untersucht werden. Veränderungen der polizeilichen Wahrnehmungsmuster und Einsatzpraxis werden ebenso untersucht wie das Binnenleben und die Wandlungen der Drogen- und Rockersubkulturen, wobei es darum geht, deren interne Kommunikationsmuster, vor allem aber deren Einstellungen zu zentralen gesellschaftlichen Normen und Werten herauszuarbeiten. Als Quellengrundlage dienen langjährige Forschungen zur Schutzpolizei in der Bundesrepublik sowie ein laufendes DFG-Projekt zum Drogenkonsum in West-Berlin und London der 1960/70er Jahre.
[Unterstreichungen von kamue]

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Wir haben in der letzten Ausgabe gezielt für das "883-Lesebuch" geworben, weil wir es begrüßen, so wie es Karl-Heinz Schubert ausdrückt, dass nun mit dem Erscheinen der kompletten Agit 883 die "Lufthoheit über linken Stammtischen gefährdet" ist. Dennoch begegnen wir als Redaktion diesem Lesebuch mit der nötigen Distanz und sehen uns daher verpflichtet, ein wenig auf den gesellschaftspolitischen und personellen Rahmen aufmerksam zu machen, in welchen dieses Lesebuch eingebettet ist.

Bereits in der Einleitung des "883-Lesebuches" machen die Herausgeber deutlich, dass ihre Interessen am Gegenstand von denen des Privatdozenten Weinhauer nicht allzu weit entfernt sind: "Die Zweiteilung zwischen einem »guten 1968« und verderblicher Gewalt, verkörpert durch die RAF, ignoriert die unterschiedlichen Ansätze, alternative Gesellschaftsentwürfe zu realisieren. Das Anliegen des Buches ist es, die verschütteten Spuren offen zulegen..." und in einer quasi-Abgrenzung zu Weinhauer, den eher delinquentes und Polizeihandeln interessieren, ergänzen sie: "...und gleichzeitig etwas von der Lust an der Revolte zu vermitteln, die sich in der Agit 883 artikulierte."

Mit ihrem "breitgefächerten Lesebuch" wollen sie - ganz auf der Höhe zeitgenössischer akademischer Historiker-Lehrmeinungen - nur "besichtigen", statt materialistisch - d.h. klassentheoretisch -  zu untersuchen und entsprechend Partei zu ergreifen. Heraus kommt folglich ein gesammeltes Geraune über Subkulturen und Untergrund, worin die soziale Frage milieutheoretisch verhunzt untergeht. Der Historiker ist eben außen vor; kurzum losgelöst vom Gegenstand ist er dessen Moderator für erbauliche Stunden auf Seiten der geneigten LeserInnenschaft.

Solche Pseudoneutralität hat natürlich ihren Preis: Auf der Buch-CD befinden sich außer den authentischen Agit-883-Ausgaben - ohne ersichtlichen Grund - auch jene drei Ausgaben des Klaus Schmitt, der 1981,1983 und 1998 frech das Etikett Agit-883 benutzte, um sein braunanarchistisches Weltbild loszuwerden. Als den Herausgebern auf der Buchvorstellung am 27.10. im Berliner Mehringhof  dies vorgehalten wurde, reagierten sie ausgesprochen nervös und versteckten sich, als es inhaltlich wurde, hinter ihrem Wissenschaftsverständnis als Historiker. Wir sahen uns daher als Redaktion veranlasst, in diese Ausgabe einen älteren Artikel aus der Schweiz "Freiwirte verpisst euch – niemand vermisst euch!" mit aufzunehmen, worin Klaus Schmitt und seine reaktionäre Denke, die durch das "883-Lesebuch" wieder erhebliche Verbreitung finden, einer entsprechenden Kritik unterworfen werden.

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Das Jahr 1969 spielt tatsächlich eine herausragende Rolle in der Geschichte linker Radikalität und Militanz, so dass trotz eines negativen Beigeschmacks die Herausgabe der kompletten Agit-883 eine wertvolle Leistung bleibt. Von daher sind wir für alle Anregungen und Hinweise dankbar. Diesmal kamen sie von Karl-Heinz Schubert, dem bei seiner "Besichtigung" der Revolte  ein "besonderes Dokument" nämlich die Erklärung des Frankfurter Palästina-Komitees in die Hände fiel.

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Schlussendlich richten wir - wenn man die gesamte Ausgabe sieht - den Blick doch eher nach vorn, d.h. die Frage wie weiter mit dem Klassenkampf, bleibt weiterhin für uns von zentraler publizistischer Bedeutung. Deshalb empfehlen wir diesmal besonders die Texte zur Debatte über das "Bedingungslose Grundeinkommen".