Schon lange wird französischer und
deutscher Atommüll auf dem Seeweg nach Russland
transportiert, wo er unter freiem Himmel vor sich hin
rottet. Dank der Verschwiegenheit der Atomindustrie
wurde dies erst kürzlich bekannt – während
gleichzeitig in Frankreich bislang „unbekannte“
Plutonium- und Uranmengen bei der Abwrackung einer
Atomanlage „plötzlich“ entdeckt werden...
Plötzlich änderte der Frachter die Route: Am vergangenen
Donnerstag (29. Oktober), am Vormittag gegen 10 Uhr, sollte
das russische Schiff Kapitain Mironov im französischen Le
Havre einlaufen. In letzter Minute änderte es jedoch den Kurs
und steuerte zwei Stunden vor dem erwarteten Eintreffen um, um
stattdessen in Cherbourg, weiter westlich in der Normandie,
anzulegen. Denn im ursprünglichen Bestimmungshafen wartete
Greenpeace, dessen eigenes Schiff Arctic Sunrise am Dienstag
voriger Woche in Le Havre eingetroffen war. Die Kursänderung
verhinderte die Konfrontation mit der Umweltorganisation,
jedoch auch das geplante Einladen von Atommüll im Hafen von Le
Havre. Greenpeace beließ sein Schiff dort, da schon ab Freitag
das Eintreffen eines weiteren russischen Frachtschiffs, der
Kapitain Lus, erwartet wurde.
Schon
am vorvergangenen Samstag war das russische Frachtschiff
Kholmogory von Le Havre in Richtung Westsibirien in See
gestochen, beladen hatte man es am Tag zuvor mit 54 Fässern mit
je 200 Litern radioaktiver, uranhaltiger Flüssigkeit. Schon
jahrelang verfuhr die französische Atomindustrie auf diese
Weise, wenn es darum ging, einen Teil des strahlenden Atommülls
außer Reichweite zu schaffen. Wozu gibt es andere Länder, die
genügend Platz haben, wo der radioaktive Müll vor sich strahlen
kann?
Nur
war die französische Öffentlichkeit von den Transporten
radioaktiven Abfalls auf dem Seeweg ins Ausland bisland nicht
informiert. Erst am 13. Oktober diesen Jahres wurde durch eine
Reportage des Fernsehsenders Arte unter dem Titel „Abfälle,
Albtraum der Atomenergie“ bekannt, das die französische
Atomwirtschaft schon lange Abfall ins Ausland verschifft.
Nachdem mit der Arte-Sendung die Atommüll-Verschiebungen
öffentlich wurden, protestiert die französische Sektion von
Greenpeace gegen die Transporte. Greenpeace kündigte an, die
Transporte „mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu
verhindern“, und entsandte ihr Schiff Artic Sunrise Richtung Le
Havre, wo es Anfang der Woche eintraf.
Schon
seit den achtziger Jahren, als Russland noch zur 1991
aufgelösten UdSSR gehörte,
war Russland Bestimmungsort französischen Strahlenmülls. Damals
knüpfte Frankreich internationale Verträge, um seinen Abfall aus
der Urananreicherung loszuwerden. Diese Vereinbarungen bestanden
einerseits mit der damaligen Sowjetunion, andererseits mit dem
Konsortium Urenco. Letzteres betreibt unter anderem die
Urananreicherungsanlage (UAA) im nordrhein-westfälischen Gronau
und die wesentlich größere Anlage im niederländischen Almelo.
Die Urenco ist im Besitz des britischen, des niederländischen
und des deutschen Staates, die sich zum Zwecke der Erzeugung von
Uran-Kernbrennstoff zusammengeschlossen hatten.
Beide
Vertragspartner, die Sowjetunion und die Urenco, sollten
Frankreich einen Teil seines Atomabfalls abnehmen. Dabei hatte
die UdSSR so wie Russland nicht gerade den allerbesten Ruf in
Sachen Sorgfältigkeit im Umgang mit radioaktivem Material.
Nachdem die Atommüll-Transporte von Frankreich nach Russland im
Zuge der Arte-Dokumentation in Frankreich heftige Kontroversen
auslösten, beriefen sich die französischen Betreiber von
Atomanlagen, der Energieversorger Electricité de France (EDF)
und der Nuklearkonzern Areva, in den letzten Tagen einfach
darauf, dass sich die Sowjetunion und damit das heutige Russland
„nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl“ im April 1986 auf dem
Gebiet der Atomenergie ja „den internationalen Normen angepasst“
habe.
Beim
radioaktiven Material, das seit den achtziger Jahren aus
Frankreich über den Seeweg nach Russland transportiert wurde,
handelt es sich um so genanntes abgereichertes Uran. Dieser
Stoff bleibt übrig, wenn man in einer Urananreicherungsanlage
die Isotope Uran-235 und Uran-238, die im Naturzustand nur
vermischt vorkommen, teilweise voneinander trennt. Das spaltbare
Uran-239, das allein als Kernbrennstoff taugt, wird dabei
teilweise aus der Gesamtmasse herausgetrennt. Übrig bleibt ein
Stoff, der nur noch Reste des spaltbaren Stoffes beinhaltet, und
der zwar nicht mehr zur Kernspaltung tuagt, aber radioaktiv
strahlt – zwar relativ schwach, aber dafür ist seine
Halbwertszeit sehr hoch. In diesem „abgereicherten Uran“ sammeln
sich zudem auch die selteneren, in der Natur nur in geringer
Menge vorkommenden Uranisotope 234 und 236. Auch deshalb ist
dieser Reststoff gefährlicher und schwerer zu lagern als
Natururan.
Einen
Teil dieses in den Urananreicherungsanlagen Frankreichs
produzierten abgereicherten Urans nimmt das Urenco-Konsortium
ab, doch auch dieses reicht die Abfälle offenkundig zum Teil
nach Russland weiter. Durch Urenco gelangte auch deutscher
Atommüll aus der Anlage im nordrhein-westfälischen Gronau nach
Russland. Laut Medienberichten von Mitte Oktober sind seit dem
Jahr 1996 insgesamt 27300 Tonnen Atommüll aus Gronau nach
Russland geschafft worden. Allein im laufenden Jahr sollen zwei
Ladungen abgeschickt worden sein, darunter 1250 Tonnen auf einem
Schiff, das im März in Rotterdam ablegte.
In
Russland lagern die radioaktiven Abfälle inzwischen im
asiatischen Teil, genauer in der westsibirischen Stadt Seversk
alias „Tomsk-7“, die rund 3000 Kilometer östlich von Moskau
liegt und aufgrund ihrer Nuklearanlagen von der Öffentlichkeit
abgeschottet wird. Dort liegen dem jüngst ausgestrahlten
Arte-Film zufolge 13 Prozent der französischen Atomabfälle.
Unter offenem Himmel und in rostenden Fässern. EDF hat
inzwischen dementiert, dass es sich dabei um Atommüll handle und
beruft sich dabei darauf, das „abgereicherte“ Uran lasse sich ja
noch einmal verwenden. Denn wenn man es durch Vermischung mit
stärker konzentriertem Uran-235 „erneut anreichert“, dann gilt
es als wieder verwendbar. In diesem Falle lässt es sich als
Kernbrennstoff einsetzen. Das in Westsibirien lagernde
Uranmaterial sei deshalb ein „wertvoller Rohstoff“ und nicht
etwa Abfall, plädiert die EDF. Nur stellt sich da die Frage,
warum man Uran erst „abreichern“ und dann später „wieder
anreichern“ sollte – und warum man den Stoff, wenn er denn so
wertvoll ist, in den Weiten Asiens verrotten lässt.
Der
Fernsehjournalist Eric Guéret und die Journalistin Laure
Noualhat der Tageszeitung Libération hatten zusammen für
den Arte-Film vor Ort in der verbotenen Stadt „Tomsk-7“
recherchiert. Statt der offiziell angegeben Rate von 96 Prozent
Wiederverwertung des dort gelagerten Urans französischer
Herkunft, so fanden die Journalisten heraus, würden „unter zehn
Prozent“ nochmals eingesetzt. Der Rest strahlt unter freiem
Himmel vor sich hin. Inzwischen hat eine Reportage des
Deutschlandfunks bezüglich des Abfalls aus Gronau bestätigt,
dass auch für diesen die angebliche Wiederverwendung fiktiv sei
und allein als Vorwand für eine unerklärte „Entsorgung“ auf
Kosten Russland diene.
Der
französische Politiker und frühere Präsidentschaftskandidat Noël
Mamère (Grüne) hatte auf die Ausstrahlung des
ARTE-Dokumentarfilms mit den Worten regiert, die französische
Atomindustrie habe ihre „Ganovenmethoden“ offen gelegt: „EDF
lügt, EDF und Arevav führen sich wie ökologische Kriminelle
auf.“ Doch wer glaubt, dass mit ihrer Aufdeckung dieser
„kriminellen“ Methoden nunmehr auch ein Ende hätten, täuscht
sich, wie die aktuelle Auseinandersetzung um die
Schiffstransporte von Le Havre nach Sibirien belegt. „Es ist
nicht hinnehmbar, dass die Atomfirmen EDF und Areva in aller
Ungestraftheit ihr schmutziges Geschäft fortsetzen“, sagt
Yannick Rousselet, Sprecher der Anti-Atom-Kampagne von
Greenpeace Frankreich. Doch ob Greenpeace die Forderung nach
einem sofortigen Moratorium für solche Transporte durchsetzen
kann, ist ungewiss.
Unterdessen steht der französischen Nuklearindustrie weiteres
Ungemach ins Haus. Denn nicht nur im fernen Westsibirien nimmt
man es beim Umgang mit strahlendem Müll aus französischer
Produktion nicht so genau. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt des
Bekanntwerden der Lieferungen von Atomabfällen nach Tomsk wurde
Mitte Oktober ein weiterer Skandal publik: In der Atomanlage
Cadarache in Südostfrankreich ereignete sich ein „Störfall der
Stufe 2“ – also schon eine Störung ziemlich ernsthafter Natur.
Zudem wurde erst jüngst bekannt, dass beim Abriss eines Labors
auf dem Gelände der Anlage eine nicht im Plan vorgesehen Menge
Plutonium aufgetaucht war. Der Betreiber – das staatliche
Atomenergiekommissariat (CEA) – wusste dies jedoch schon seit
Juni dieses Jahres. Aber bis zur Stunde ist offenbar noch nicht
einmal die genaue Masse des dort aufgetauchten Plutoniums
geklärt. Die dort entdeckten „Handschuhfächer“ - spezielle
Kästen, in denen mit metallenen Greifern in Form von Handschuhen
an hochradioaktiven Substanzen hantiert wird – sollten
theoretisch neun Kilogramm Plutonium enthalten. Beim
Auseinandernehmen des Labors tauchten aber mindestens 22
Kilogramm Plutonium auf. Unterdessen halten die Behörden es für
möglich, dass die Gesamtmenge bis zu 39 Kilogramm betragen
könnte. Die Ankündigung sorgte für leichte Panik, denn ab einer
Menge von elf Kilogramm des supergiftigen Spaltstoffs kann eine
unkontrollierbare Kettenreaktion eintreten. Zum Glück war das
Material offenbar über mehrere Stellen innerhalb des Labors
verteilt.
Kurz
darauf kam heraus, dass dort ebenfalls mehr Uran aufgetaucht ist
als zuvor theoretisch angenommen. Aber dass in einem Depot auf
dem Gelände der Atomfabrik zehn Kilo gefunden wurden, wo nach
Vorschrift höchstens vier Kilo Uran zugelassen sind, verwundert
vielleicht schon niemanden mehr. Vielleicht hofft die
französischen Atomindustrie auf einen Gewöhungseffekt. Und
darauf, dass sich auch in Frankreich ein unbeschwerterer Umgang
mit radioaktivem Material durchsetzen läßt, wie er bei
russischen Behörden offenbar schon länger üblich ist.
Editorische
Anmerkungen
Wir
erhielten den Artikel vom Autor
zur Veröffentlichung. Es handelt sich um die etwas
ausführlichere Fassung eines Artikels, der am vorigen
Donnerstag (5. November) in der Wochenzeitung ‚Jungle World’
erstmalig erschienen ist. Seit seinem Erscheinen wurde bereits
ein neuer „(natürlich unbedenklicher..) Störfall“ aus der
südfranzösischen Atomanlage Tricastin vermeldet, wo
abgebrannte Brennstäbe im Kühlbecken festklemmten und
manövrierunfähig wurden.
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