Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Strahlender Atomschrott?
Ab nach Sibirien!

11/09

trend
onlinezeitung

Schon lange wird französischer und deutscher Atommüll auf dem Seeweg nach Russland transportiert, wo er unter freiem Himmel vor sich hin rottet. Dank der Verschwiegenheit der Atomindustrie wurde dies erst kürzlich bekannt – während gleichzeitig in Frankreich bislang „unbekannte“ Plutonium- und Uranmengen bei der Abwrackung einer Atomanlage „plötzlich“ entdeckt werden...

Plötzlich änderte der Frachter die Route: Am vergangenen Donnerstag (29. Oktober), am Vormittag gegen 10 Uhr, sollte das russische Schiff Kapitain Mironov im französischen Le Havre einlaufen. In letzter Minute änderte es jedoch den Kurs und steuerte zwei Stunden vor dem erwarteten Eintreffen um, um stattdessen in Cherbourg, weiter westlich in der Normandie, anzulegen. Denn im ursprünglichen Bestimmungshafen wartete Greenpeace, dessen eigenes Schiff Arctic Sunrise am Dienstag voriger Woche in Le Havre eingetroffen war. Die Kursänderung verhinderte die Konfrontation mit der Umweltorganisation, jedoch auch das geplante Einladen von Atommüll im Hafen von Le Havre. Greenpeace beließ sein Schiff dort, da schon ab Freitag das Eintreffen eines weiteren russischen Frachtschiffs, der Kapitain Lus, erwartet wurde.

Schon am vorvergangenen Samstag war das russische Frachtschiff Kholmogory von Le Havre in Richtung Westsibirien in See gestochen, beladen hatte man es am Tag zuvor mit 54 Fässern mit je 200 Litern radioaktiver, uranhaltiger Flüssigkeit. Schon jahrelang verfuhr die französische Atomindustrie auf diese Weise, wenn es darum ging, einen Teil des strahlenden Atommülls außer Reichweite zu schaffen. Wozu gibt es andere Länder, die genügend Platz haben, wo der radioaktive Müll vor sich strahlen kann?

Nur war die französische Öffentlichkeit von den Transporten radioaktiven Abfalls auf dem Seeweg ins Ausland bisland nicht informiert. Erst am 13. Oktober diesen Jahres wurde durch eine Reportage des Fernsehsenders Arte unter dem Titel „Abfälle, Albtraum der Atomenergie“ bekannt, das die französische Atomwirtschaft schon lange Abfall ins Ausland verschifft. Nachdem mit der Arte-Sendung die Atommüll-Verschiebungen öffentlich wurden, protestiert die französische Sektion von Greenpeace gegen die Transporte. Greenpeace kündigte an, die Transporte „mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern“, und entsandte ihr Schiff Artic Sunrise Richtung Le Havre, wo es Anfang der Woche eintraf.

Schon seit den achtziger Jahren, als Russland noch zur 1991 aufgelösten UdSSR gehörte, war Russland Bestimmungsort französischen Strahlenmülls. Damals knüpfte Frankreich internationale Verträge, um seinen Abfall aus der Urananreicherung loszuwerden. Diese Vereinbarungen bestanden einerseits mit der damaligen Sowjetunion, andererseits mit dem Konsortium Urenco. Letzteres betreibt unter anderem die Urananreicherungsanlage (UAA) im nordrhein-westfälischen Gronau und die wesentlich größere Anlage im niederländischen Almelo. Die Urenco ist im Besitz des britischen, des niederländischen und des deutschen Staates, die sich zum Zwecke der Erzeugung von Uran-Kernbrennstoff zusammengeschlossen hatten.

Beide Vertragspartner, die Sowjetunion und die Urenco, sollten Frankreich einen Teil seines Atomabfalls abnehmen. Dabei hatte die UdSSR so wie Russland nicht gerade den allerbesten Ruf in Sachen Sorgfältigkeit im Umgang mit radioaktivem Material. Nachdem die Atommüll-Transporte von Frankreich nach Russland im Zuge der Arte-Dokumentation in Frankreich heftige Kontroversen auslösten, beriefen sich die französischen Betreiber von Atomanlagen, der Energieversorger Electricité de France (EDF) und der Nuklearkonzern Areva, in den letzten Tagen einfach darauf, dass sich die Sowjetunion und damit das heutige Russland „nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl“ im April 1986 auf dem Gebiet der Atomenergie ja „den internationalen Normen angepasst“ habe.

Beim radioaktiven Material, das seit den achtziger Jahren aus Frankreich über den Seeweg nach Russland transportiert wurde, handelt es sich um so genanntes abgereichertes Uran. Dieser Stoff bleibt übrig, wenn man in einer Urananreicherungsanlage die Isotope Uran-235 und Uran-238, die im Naturzustand nur vermischt vorkommen, teilweise voneinander trennt. Das spaltbare Uran-239, das allein als Kernbrennstoff taugt, wird dabei teilweise aus der Gesamtmasse herausgetrennt. Übrig bleibt ein Stoff, der nur noch Reste des spaltbaren Stoffes beinhaltet, und der zwar nicht mehr zur Kernspaltung tuagt, aber radioaktiv strahlt – zwar relativ schwach, aber dafür ist seine Halbwertszeit sehr hoch. In diesem „abgereicherten Uran“ sammeln sich zudem auch die selteneren, in der Natur nur in geringer Menge vorkommenden Uranisotope 234 und 236. Auch deshalb ist dieser Reststoff gefährlicher und schwerer zu lagern als Natururan.

Einen Teil dieses in den Urananreicherungsanlagen Frankreichs produzierten abgereicherten Urans nimmt das Urenco-Konsortium ab, doch auch dieses reicht die Abfälle offenkundig zum Teil nach Russland weiter. Durch Urenco gelangte auch deutscher Atommüll aus der Anlage im nordrhein-westfälischen Gronau nach Russland. Laut Medienberichten von Mitte Oktober sind seit dem Jahr 1996 insgesamt 27300 Tonnen Atommüll aus Gronau nach Russland geschafft worden. Allein im laufenden Jahr sollen zwei Ladungen abgeschickt worden sein, darunter 1250 Tonnen auf einem Schiff, das im März in Rotterdam ablegte. 

In Russland lagern die radioaktiven Abfälle inzwischen im asiatischen Teil, genauer in der westsibirischen Stadt Seversk alias „Tomsk-7“, die rund 3000 Kilometer östlich von Moskau liegt und aufgrund ihrer Nuklearanlagen von der Öffentlichkeit abgeschottet wird. Dort liegen dem jüngst ausgestrahlten Arte-Film zufolge 13 Prozent der französischen Atomabfälle. Unter offenem Himmel und in rostenden Fässern. EDF hat inzwischen dementiert, dass es sich dabei um Atommüll handle und beruft sich dabei darauf, das „abgereicherte“ Uran lasse sich ja noch einmal verwenden. Denn wenn man es durch Vermischung mit stärker konzentriertem Uran-235 „erneut anreichert“, dann gilt es als wieder verwendbar. In diesem Falle lässt es sich als Kernbrennstoff einsetzen. Das in Westsibirien lagernde Uranmaterial sei deshalb ein „wertvoller Rohstoff“ und nicht etwa Abfall, plädiert die EDF. Nur stellt sich da die Frage, warum man Uran erst „abreichern“ und dann später „wieder anreichern“ sollte – und warum man den Stoff, wenn er denn so wertvoll ist, in den Weiten Asiens verrotten lässt.

Der Fernsehjournalist Eric Guéret und die Journalistin Laure Noualhat der Tageszeitung Libération hatten zusammen für den Arte-Film vor Ort in der verbotenen Stadt „Tomsk-7“ recherchiert. Statt der offiziell angegeben Rate von 96 Prozent Wiederverwertung des dort gelagerten Urans französischer Herkunft, so fanden die Journalisten heraus, würden „unter zehn Prozent“ nochmals eingesetzt. Der Rest strahlt unter freiem Himmel vor sich hin. Inzwischen hat eine Reportage des Deutschlandfunks bezüglich des Abfalls aus Gronau bestätigt, dass auch für diesen die angebliche Wiederverwendung fiktiv sei und allein als Vorwand für eine unerklärte „Entsorgung“ auf Kosten Russland diene.

Der französische Politiker und frühere Präsidentschaftskandidat Noël Mamère (Grüne) hatte auf die Ausstrahlung des ARTE-Dokumentarfilms mit den Worten regiert, die französische Atomindustrie habe ihre „Ganovenmethoden“ offen gelegt: „EDF lügt, EDF und Arevav führen sich wie ökologische Kriminelle auf.“ Doch wer glaubt, dass mit ihrer Aufdeckung dieser „kriminellen“ Methoden nunmehr auch ein Ende hätten, täuscht sich, wie die aktuelle Auseinandersetzung um die Schiffstransporte von Le Havre nach Sibirien belegt. „Es ist nicht hinnehmbar, dass die Atomfirmen EDF und Areva in aller Ungestraftheit ihr schmutziges Geschäft fortsetzen“, sagt Yannick Rousselet, Sprecher der Anti-Atom-Kampagne von Greenpeace Frankreich. Doch ob Greenpeace die Forderung nach einem sofortigen Moratorium für solche Transporte durchsetzen kann, ist ungewiss.

Unterdessen steht der französischen Nuklearindustrie weiteres Ungemach ins Haus. Denn nicht nur im fernen Westsibirien nimmt man es beim Umgang mit strahlendem Müll aus französischer Produktion nicht so genau. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt des Bekanntwerden der Lieferungen von Atomabfällen nach Tomsk wurde Mitte Oktober ein weiterer Skandal publik: In der Atomanlage Cadarache in Südostfrankreich ereignete sich ein „Störfall der Stufe 2“ – also schon eine Störung ziemlich ernsthafter Natur. Zudem wurde erst jüngst bekannt, dass beim Abriss eines Labors auf dem Gelände der Anlage eine nicht im Plan vorgesehen Menge Plutonium aufgetaucht war. Der Betreiber – das staatliche Atomenergiekommissariat (CEA) – wusste dies jedoch schon seit Juni dieses Jahres. Aber bis zur Stunde ist offenbar noch nicht einmal die genaue Masse des dort aufgetauchten Plutoniums geklärt. Die dort entdeckten „Handschuhfächer“ - spezielle Kästen, in denen mit metallenen Greifern in Form von Handschuhen an hochradioaktiven Substanzen hantiert wird – sollten theoretisch neun Kilogramm Plutonium enthalten. Beim Auseinandernehmen des Labors tauchten aber mindestens 22 Kilogramm Plutonium auf. Unterdessen halten die Behörden es für möglich, dass die Gesamtmenge bis zu 39 Kilogramm betragen könnte. Die Ankündigung sorgte für leichte Panik, denn ab einer Menge von elf Kilogramm des supergiftigen Spaltstoffs kann eine unkontrollierbare Kettenreaktion eintreten. Zum Glück war das Material offenbar über mehrere Stellen innerhalb des Labors verteilt.

Kurz darauf kam heraus, dass dort ebenfalls mehr Uran aufgetaucht ist als zuvor theoretisch angenommen. Aber dass in einem Depot auf dem Gelände der Atomfabrik zehn Kilo gefunden wurden, wo nach Vorschrift höchstens vier Kilo Uran zugelassen sind, verwundert vielleicht schon niemanden mehr. Vielleicht hofft die französischen Atomindustrie auf einen Gewöhungseffekt. Und darauf, dass sich auch in Frankreich ein unbeschwerterer Umgang mit radioaktivem Material durchsetzen läßt, wie er bei russischen Behörden offenbar schon länger üblich ist.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor zur Veröffentlichung. Es handelt sich um die etwas ausführlichere Fassung eines Artikels, der am vorigen Donnerstag (5. November) in der Wochenzeitung ‚Jungle World’ erstmalig erschienen ist. Seit seinem Erscheinen wurde bereits ein neuer „(natürlich unbedenklicher..) Störfall“ aus der südfranzösischen Atomanlage Tricastin vermeldet, wo abgebrannte Brennstäbe im Kühlbecken festklemmten und manövrierunfähig wurden.