Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

11/11

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Vorbemerkung: Im "Bochumer Programm" heißt es "Abschaffung der Lohnarbeit mittels Selbstverwaltung der Unternehmen durch die Werktätigen ist unser wichtigstes Ziel." Und Robert Schlosser schreibt dazu in seinen Erläuterungen zum Programm einschränkend: "Genossenschaftliche Betriebe, die für den Markt produzieren, sind zweifellos nicht die Lösung des Problems. Eine Sache, die man ebenfalls aus der Geschichte lernen kann; ob auf großer Stufenleiter in Jugoslawien oder als Ausnahme im Kapitalismus." (Unterstreichung von uns - red. trend).

Wir haben mal ein wenig recherchiert und zwei Texte aus den Gewerkschaftlichen Monatsheften herausgesucht. Der 1. Text von 1960 schildert Strukturelemente und ökonomische Funktionen von selbstverwalteten Betrieben in Jugoslawien während ihrer Einführung 1958-1963. Der 2. Text von 1973 bildet eine Art Zwischenbilanz nach einem Jahrzehnt etablierter Selbstverwaltung.

Zur besseren Einordnung dieser Schilderungen stellen wir einen Auszug (Text 3)  aus Willi Albers Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften Band 9, Stuttgart/New York, 1982


Stichwort "Selbstverwaltung der Betriebe" (Text 2)
Streik und Selbstverwaltung in Jugoslawien

von Neca Jovanov

Lenin sprach seinerzeit darüber, daß eine Gesellschaft, die nicht den Mut und die Fähigkeit besitze, die richtige Wahrheit über sich zu erfahren, keine gesunde Gesellschaft sei. Er ging mit gutem Beispiel voran, indem er öffentlich „ ... über die Anwendung des Streikkampfes in einem Staat mit proletarischer Staatsmacht" schrieb.

Die öffentliche Behandlung der Streikfrage in Jugoslawien soll vor allem die Notwendigkeit aufzeigen, diese Erscheinung zu analysieren und zu erklären, damit man ihren Ursprung und ihre wahre Bedeutung in der spezifischen historischen Situation Jugoslawiens erkennt. Deshalb können wir die öffentliche Abhandlung über die Streiks nicht als „Waschen schmutziger Wäsche" betrachten, wie man das manchmal so sagt. Es ist die Absicht des Verfassers, einen Beitrag zu leisten zum Studium der Erscheinung des Streiks und seiner Bedeutung als gesellschaftlicher Konflikt im Verhältnis zur Selbstverwaltung als Gesellschaftssystem. — Mit Hilfe einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Knochen kann man ein Mammut rekonstruieren. Ich habe natürlich nicht den Ehrgeiz, mit diesem Text über Streiks ein globales Gesellschaftssystem darzustellen, verberge aber nicht meine Absicht, den Streik als Segment des Gesellschaftssystems zu analysieren und zu zeigen, wie sehr er mit dem Stand des Gesellschaftssystem im ganzen verbunden und wie sehr durch ihn bedingt ist.

Wie paradox es auch scheinen mag, der Streik bei uns, so wie er ist, wäre nicht möglich, wenn der Prozeß der Demokratisierung der Gesellschaftsbeziehungen und des Ausbaus des Monopols der gesellschaftlichen Macht der Partei und des Staates nicht in Gang gekommen wäre. In einem totalitären kapitalistischen oder bürokratischen „sozialistischen" System können Streiks nicht häufig sein, aber wenn es zu ihnen kommt, sind sie im Hinblick auf die Teilnehmerzahl bedeutend größer, im Hinblick auf die Schärfe des Zusammenstoßes bedeutend drastischer und enden mit katastrophalen Folgen für die Menschen, die gestreikt haben. In Ländern mit solchen Systemen gibt es in der Hauptsache keine Streiks, nicht deshalb, weil die Arbeiterklasse mit ihrer Stellung mehr als zufrieden wäre, sondern deshalb, weil sie keine Möglichkeit hat, ihre Unzufriedenheit durch Streiks zum Ausdruck zu bringen. Dieser Prozeß der Demokratisierung der Gesellschaftsbeziehungen bedeutet: erstens die Entmythologisierung des Staates, die
Aufklärung der Arbeiter dahingehend, daß sie als allmächtiges Abstraktum alles können, wenn sie es nur wollen; zweitens die Transformation der gesellschaftlichen Macht des Staates als Abstraktion, einer unsichtbaren und den Menschen unfaßbaren Gewalt, in die sichtbare Macht der Menschen selbst, der konkreten Träger der gesellschaftlichen Macht; drittens die Konzentration und Intensivierung im Rahmen des konkreten physischen und gesellschaftlichen Raumes (das ist vor allem die Arbeitsorganisation und die Gemeinde) solcher Widersprüche, deren Träger, nachdem sie verschiedene konkrete Interessen zum Ausdruck bringen, unmittelbar zusammenstoßen, sich einander nähern, sich gegenseitig sichtbar und faßbar sind, ohne daß einer von ihnen fetischisiert wäre oder so allmächtig gegenüber dem anderen, daß jener, dessen Interesse grob und ungerechtfertigterweise (faktisch oder nur in seinem Bewußtsein) verletzt wurden, schweigen, dulden und glauben würde, daß „es besser wird", indem er von der mystifizierten Allmacht der Partei und des Staates eine „bessere Zukunft" oder ein „größeres Übel" erwartet. Die Zeit der Blankowechsel, der „vorbehaltlosen Unterstützung", nicht nur verabschiedeter, sondern auch künftiger Beschlüsse der Partei und Regierung liegt schließlich und endlich hinter uns.

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Editorische Hinweise

Neca Jovanov war Sekretär der Kommission für Selbstverwaltung beim Rat des jugoslawischen Gewerkschaftsbund
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Der Artikel erschien in den Gewerkschaftlichen Monatsheften Nr. 6 / 1973, S. 355 - 364, diese wurden herausgegeben vom Bundesvorstand des DGB und waren von 1950 bis 2004 das theoretische Diskussionsorgan des DGB.  Das vollständige Archiv der Zeitschrift befindet sich im Netz unter: http://library.fes.de/gmh/